geht in Tschirschky vor“, poltert es aus ihm heraus, „dass er sich in eine österreichische Angelegenheit auf diese Weise einmischt. Dazu hat ihn keiner ermächtigt! Nachher heißt es dann, wenn es schiefgeht, Deutschland hätte nicht gewollt!“ Noch im Stehen schreibt Wilhelm II. seine zornigen Bemerkungen auf und geht damit aus seinem Arbeitszimmer. Im Vorzimmer gibt er einem seiner Adjutanten den Auftrag, diesen Bericht in die Reichskanzlei zu senden, damit Bethmann Hollweg die entsprechenden Weisungen nach Wien übermittelt. Die Haltung des deutschen Botschafters Heinrich Leonhard von Tschirschky hat sich gegenüber den offiziellen Stellen in Wien schleunigst zu ändern.
FREITAG, 3. JULI
Die Menge vor der Hofburgkapelle ist nicht so groß wie vor 16 Jahren, als die über alles geliebte Kaiserin zu Grabe getragen wurde, aber es sind bedeutend mehr, als die Tageszeitungen in ihren Artikeln über die Beliebtheit des Erzherzogs zu prognostizieren verleitet waren. Viele warten schon seit den frühen Morgenstunden auf Einlass, um dem toten Thronfolgerpaar die letzte Ehre zu erweisen. Dem Anlass entsprechend ist die überwiegende Mehrheit vollständig in Schwarz gekleidet. Auch wenn viele von ihnen Erzherzog Franz Ferdinand zeit seines Lebens nicht in ihr Herz geschlossen haben, hält man es nun doch für eine ehrenvolle Pflichterfüllung, des ermordeten Thronfolgers des Hauses Österreich zu gedenken und am Sarg des Kaiser-Neffen Trauer und Bestürzung über das Attentat zu bekunden. Dass man bei habsburgischen Begräbniszeremonien immer den einen oder anderen Blick auf hochgestellte Persönlichkeiten werfen kann, die man sonst nie zu Gesicht bekommt, wird von vielen als angenehmer Nebeneffekt gesehen.
Es ist für die Tageszeit schon ungewöhnlich heiß und die Vormittagssonne brennt auf die Straßen. Menschen spannen Regenschirme auf, um sich vor den Strahlen der Sonne zu schützen. In der grau-schwarzen Masse der Wartenden ist ein ständiges Pulsieren und langsames Rotieren zu bemerken. Vordrängende wechseln sich mit Zurückweichenden und Schattensuchenden ab. Dazwischen versuchen Unbeteiligte ein Durchkommen, besinnen sich dann eines Besseren und wenden sich, eine alternative Route anstrebend, in eine der Seitengassen. In der Mitte des Platzes hat man einen langen Korridor hin zum Haupteingang der Hofburgkapelle abgesperrt, der jetzt den ankommenden Ehrengästen einen ungehinderten Zugang ermöglicht. Wie die Bewegungen eines riesigen, langsam rotierenden Organismus branden die Wellen der grau-schwarzen Masse an diese Absperrung. Diese Bewegung hört mit einem Schlag auf, wenn einer der geladenen Trauergäste eintrifft, sich in den Korridor begibt und raschen Schrittes zur Hofburgkapelle schreitet. Der Organismus erstarrt und alles konzentriert sich für einen Moment auf die vorbeieilende hohe Persönlichkeit. Kaum ist diese in der Kapelle den Blicken entschwunden, besinnt sich die Menge wieder aufs Neue ihrer Bewegungen und beginnt unaufhaltsam, neue Wellen von Menschen an das Gitter branden zu lassen.
Die trauernden Menschen hoffen, neben dem österreichischen Hochadel auch ausländische Hoheiten zu sehen, die häufig in Wien erscheinen, wenn aus Europas ältestem und ehrwürdigstem Herrscherhaus ein Mitglied zu Grabe getragen wird. Doch an diesem 3. Juli wartet die Menge vergebens. Abgeschreckt von den ausgesprochen unfreundlichen Rahmenbedingungen der Begräbnisfeierlichkeiten haben es hochrangige Ehrengäste vorgezogen, den Trauerfeiern fernzubleiben und stattdessen die ohnehin in Wien akkreditierten Vertreter zu entsenden. Mit dem Fortschreiten der Wartezeit wird daher eine leichte Enttäuschung unter den Wartenden spürbar, die sich in umso heftigerem Drängen bemerkbar macht. Schließlich wird der Umschwung in der allgemeinen Stimmung eindrucksvoll dadurch angezeigt, dass das Drängen der Massen durch die ankommenden Ehrengäste nicht mehr unterbrochen wird. Man sieht ja die Militärs, Botschafter und Minister, die da mit ernster Miene den Korridor entlangschreiten, ohnehin laufend in Wiener Kaffeehäusern.
Gerade als die Wellenbewegungen endgültig zu verebben drohen, ist ein vorsichtiges Hupen im Hintergrund zu vernehmen. Der grau-schwarze Organismus teilt sich auf einer Seite, um einem Automobil, das sich langsam vorwärtskämpft, Platz zu machen. Parallel zur Bewegung des Wagens breitet sich unter den Umstehenden ein Raunen aus, das mit Fortdauer des automobilen Dahinrollens in kräftiges Jubeln übergeht: „Der Thronfolger!“ „Erzherzog Karl!“ Rufe erschallen aus vielen Kehlen. In Windeseile wissen alle am Platz und in den umliegenden Straßen, dass in dem Wagen, der soeben in den Korridor einfährt und auf den Eingang der Hofburgkapelle zuhält, das nunmehrige Thronfolgerpaar sitzt. Kaum kommt der Wagen zum Stehen, eilt einer der unzähligen Soldaten herbei, um die Tür im Fond zu öffnen.
Erzherzog Karl steigt, unmittelbar gefolgt von seiner Gattin, aus dem Automobil. Hochrufe, tosender Jubel und Applaus begleiten die kaiserlichen Hoheiten auf dem kurzen Weg in die Kapelle. Diese ungewöhnliche und ehrenhafte Auflehnung des Thronfolgerpaares gegen die der Wiener Bevölkerung unverständlichen Begräbnisregelungen finden sympathischen und herzlichen Beifall. Der 27-jährige Karl hat sich schon in der Nacht zuvor zum Südbahnhof begeben, um seinem ermordeten Onkel die letzte Ehre zu erweisen, und ist gemeinsam mit seiner Gattin Zita hinter den Särgen zu Fuß bis zur Hofburg marschiert.
Das Thronfolgerpaar bleibt kurz am Eingang zur Kapelle stehen, dreht sich zu den Wienern um und verneigt sich mit großer Dankbarkeit für den so herzlichen Empfang. Kurz darauf wird das Tor zur Kapelle geöffnet und Karl und Zita gehen langsamen Schrittes hinein. Stille umgibt sie und ein kühler Luftzug kommt ihnen entgegen, während sie, die Köpfe stetig von links nach rechts wendend, um mal hüben und mal drüben bekannte Gesichter mit einem höflichen Kopfnicken zu grüßen, andächtig auf die beiden Särge zuschreiten. Erhabenheit und jugendliche Dynamik umgibt die beiden, die in inniger Eintracht vor den beiden Särgen kurz haltmachen, ein Kreuzzeichen über der Brust und eine tiefe Verbeugung vollführen und dann in den Nebenraum der Kapelle gehen, um sich mit dem Rest der kaiserlichen Familie zu treffen.
Nachdem man diesen ersten Auftritt des neuen Thronfolgerpaares in der Kapelle mit angespannter Neugier beobachtet hat, herrscht nun wieder unruhige Stille unter den Trauergästen. Immer wieder zerreißt ein Husten, ein Raunen oder ein Flüstern das Schweigen. Minuten vergehen und langsam beginnt sich Ungeduld breitzumachen. Auch die von draußen in die Kapelle dringenden Stimmen und Geräusche deuten auf ein Anwachsen derselben Gefühlsregung hin, die nun schon dringlich einen Beginn der Trauerzeremonie erhofft. Man rutscht auf den Bänken hin und her, sucht nach Gegenständen in Taschen, lässt die Blicke in der Kapelle kreisen, um nach weiteren interessanten Punkten irgendwo abseits der beiden Särge, die man nun schon in aller Ausführlichkeit betrachtet hat, zu suchen oder schweift mit den Gedanken zu noch anstehenden Verpflichtungen ab.
Die beiden ersten Reihen sind unbesetzt und für das Herrscherhaus reserviert. Dahinter sitzen die Mitglieder der österreichisch-ungarischen Regierung sowie die höchsten militärischen Vertreter der gemeinsamen Armee. Dann reihen sich eng die Angehörigen des österreichischen Adels sowie weitere in- und ausländische Gäste aneinander. Vor dem Altar in der Mitte der Kapelle stehen die beiden Särge, Seite an Seite. Trotz der eingeschränkten Zeremonie ist ein prachtvolles Blumenarrangement aus weißen Rosen am Fußende aufgestellt. „Von Sophie, Max und Ernst“, ist auf der dazugehörigen Schleife zu lesen. Neun mannshohe goldene Kerzenständer stehen zwischen den Särgen und tragen armdicke weiße Kerzen, die mit ihrem Schein ein feierliches Licht in den Raum tragen. Weihrauch liegt in der Luft, man kann ihn bis in die hintersten Ecken der Kapelle riechen.
Plötzlich betritt Fürst Alfred Montenuovo, der Obersthofmeister des Kaisers, durch eine Seitentür die Kapelle und zeigt den wartenden Trauergästen durch sein Erscheinen die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Kaisers an. Mit einer Handbewegung lässt er die Menge sich von ihren Sitzen erheben. Mit prüfendem Blick kontrolliert er die Ausführung seiner Weisung und deutet nach zufriedenstellender Umsetzung einem bereitstehenden Wachmann, die Seitentür zu öffnen. Sekunden später betritt der greise Monarch die Hofburgkapelle, gefolgt von den wichtigsten Familienmitgliedern. Unter ihnen die meisten Erzherzöge, deren Ehegattinnen und Kinder. Die Köpfe der Frauen und Mädchen sind mit Schleiern dicht verhüllt, sodass man nicht in ihre Gesichter blicken kann. Nur anhand des Mannes, an deren Seite sie gehen, ist zu erkennen, um wen es sich handelt. Dann kommen die Kinder des ermordeten Thronfolgerpaares. Alle Augen richten sich auf sie, während sie in die Kapelle geführt und an die ihnen zugewiesenen Plätze gebracht werden. Leopold Berchtold schnürt es die Kehle zu, er denkt an seine Kinder und an die Worte seiner Frau. Zuletzt betreten die Vertreter des Klerus und der Kirche die Kapelle.
Montenuovo,