Sabine Purfürst

Biografie eines adoptierten Lebens


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      Als ich mit den Fingern die Lippen verschob und schielte, kicherten die Kleinen. Aber leider kriegte das eine Erzieherin mit.

      „Was wollt ihr dort?“ Sie scheuchte die Mädchen und Jungen fort und schimpfte mit mir. „Verschwinde hier! Sonst hole ich deine Mutter!“

      Die Warnung saß, machte mir Angst. Ich trottete weiter. Da ich nicht nachtragend war, vergaß ich den Vorfall, hüpfte an den Feldern, an den frisch gemähten Wiesen entlang und meine Zöpfe hüpften mit.

      Der Buchenbergweg führt an der Schule vorbei. Vor manchen Häusern sieht man heute noch Scheunentore. Wie meine Eltern lebten die meisten Leute von Ackerbau und Viehzucht. Mit dem Pferdewagen holten sie das Heu und fuhren es durch das Tor in die Scheune.

      Unmittelbar vor dem Schulhaus, auf der linken Seite, existierte eine Flaschenbierhandlung. Davor wuchsen zwei Apfelbäume. Jetzt verdecken sie das Gebäude.

      Auch die Fassaden sah man kaum. Sie leuchteten früher nicht. Zu DDR-Zeiten hinterließen sie einen blassen Eindruck.

      Vor dem Laden stand eine verwitterte Bank. Auf ihr saß ein alter Mann. Er hatte genau den gleichen Bart wie Rumpelstilzchen. Seine schmalen Augen grüßten uns schon von weitem. Während er sein Bier trank, erzählte er uns Kindern Geschichten. Wir fragten ihn tausend Löcher in den Bauch. Schmunzelnd ließ er sich das gefallen. Traurig schaute er uns nach, wenn wir keine Zeit hatten.

      Ein Stück weiter, in Tante Claras Vorgarten, wuchsen Nelken, weiße Nelken. Die dufteten schon im Juni, Juli. Es waren kriechende, kleine Blumen. Clara pflanzte sie um die gesamte Wegeinfassung. Das sah herrlich aus.

      Jetzt wuchern sie über die anderen Beete. Die sehen nicht mehr gepflegt aus. Aber die Nelken riechen heute noch so intensiv, dass ich sie nie vergessen werde. Und ich schleiche auch heute noch am Garten vorbei. Der Weg sollte nie enden, so betörend wirkt der Duft.

      Nun entdecke ich das Schulhaus und den Sportplatz. Das Gebäude steht seit hundert Jahren. Ein altes Fachwerkhaus mit Schindeln auf dem Dach. Die Platten, die oben zu erkennen sind, baute man später nach. Aber die Fenster sind genauso vergittert wie damals.

      Den Sportplatz bemerkt man kaum. Im Laufe der Jahrzehnte versteckte ihn eine Hecke. Einst standen Kohlenwagen an ihrer Stelle. Früher heizte man mit Holz und Kohlen. Sie lagen hinter dem Zaun. Die Bäume pflanzte man erst später an.

      Ich laufe um die Ecke, sehe den Haupteingang der Schule, bleibe stehen. Ich weiß, dass wir hier kaum rein gingen. Die Treppenstufen durfte man wegen Einsturzgefahr nicht betreten. Deshalb nahmen wir den Hintereingang durch die Sporthalle. Auch heute noch.

      Jedes Mal, wenn ich die Schultür öffne, höre ich die Geräusche. Hautnah! Die schreienden Kinder, die da durch die Gegend rennen.

      Ich meine, so ein altes Haus atmet. Es strahlt etwas Besonderes aus. Dieses Gefühl ist urplötzlich wieder da, wenn du nach über dreißig Jahren zurückkommst. Das merkst du. Das knistert. Du hörst es überall quietschen, schreien, lachen, streiten. Klappernde Schuhe. Schritte hallen im Treppenhaus. Du stehst da, atmest den Bohnerwachsgeruch. Du lässt alles auf dich wirken, rührst dich nicht, bist wie in einem Traum gefangen. Das vergisst man nicht.

      Und dann überfallen dich die Bilder deiner Schulzeit.

      Damals lief ich zögernd durch die langen Gänge, griff mit der Hand nach dem Metallgeländer und stieg die Treppe hinauf. Die Latschen schlurften auf den Steinfliesen. Meine Finger glitten an den Reihen schräger Fragezeichen entlang. Gern spielte ich mit dem Treppengeländer. Ich zeichnete die Bögen und Muster mit dem Zeigefinger nach. Sie fühlten sich kühl und glatt an.

      Die Wände hatte man weiß gestrichen. Die Schule wirkte nicht dunkel, nicht beängstigend. Hohe Flure, große Fenster luden das Sonnenlicht ein. Enge Nischen und Spinnweben gab es nicht und keine Dachböden, in denen es spukte.

      Überall hingen Bilder und Wandzeitungen. Mein Name fand nie den Weg auf die „Straße der Besten!“ Null Chance! Dafür war ich nicht prädestiniert genug.

      In der ersten Etage angekommen, wollte ich in den Deutschraum gehen, als Irene mir den Weg versperrte. Sie stellte sich vor die Fichtenholztür und ließ mich nicht durch.

      „He! Was machst du hier? Für Zwerge ist kein Platz! Geh runter in die 1. Klasse! Dort gehörst du hin! Dich brauchen wir nicht!“

      Das Mädchen gehörte nicht in meine Klasse. Sie war ein Außenseiter und älter als ich. Ich ärgerte mich über diese blöde Kuh. Obwohl ich einen Kopf kleiner war, schaffte ich es, an ihr vorbei zu schlüpfen. Geschwind riss ich die Tür auf, huschte in den Raum.

      Den Rücken an die Wand gedrückt, musterte ich meine Schulkameraden, ein wilder, bunt gemischter Haufen von Rabauken. Immer befand ich mich in dem Kreis, in dem die schlimmsten hockten. Nie kam ich in eine artige Gruppe. Bis hinauf zur Zehnten verfolgten die mich. Nur, dass ich mich am Anfang noch zurückhielt. In der 1. bis 3. Schulklasse fiel ich nicht auf. Erst später wurde ich aufmüpfig. Ich wählte die totale Opposition. Ich wehrte mich gegen alles Ordentliche. Genau dieser Tag, an den ich jetzt denken muss, dieser Tag war der Auslöser für alle zukünftigen Veränderungen in meinem Leben.

      Ich schlich zu meinem Platz. Damals saßen wir auf gelb-braunen Holzbänken mit Tintenfässern in der Mitte. Sitz und Tisch baute man zusammen. Die Tischplatten ließen sich nach oben klappen. Wenn man sich setzte, schlug man die Platte runter. Zwei Sitzmöbel standen nebeneinander.

      An all das kann ich mich erinnern. Aber von dem Unterricht weiß ich nichts mehr. Nur, dass ich gern aus dem Fenster schaute. Das Tal wies mir die Freiheit, die ich liebte. Dafür schwärmte ich.

      In der Schule fühlte ich mich unbeobachtet. Das nahm ich zumindest an. Doch das war ein Irrtum. Meine Familie war immer in Reichweite.

      Im Haus gegenüber wohnte Verwandtschaft meiner Mutter. Hinter den schmalen Fenstern, dort, wo die Gerbera wuchsen, da wackelten die Gardinen, da versteckte sich Emmi und passte auf mich auf. Ätzend! Das fand ich total bescheuert!

      In der ersten oder zweiten Pause gab es Schulmilch. Natürlich durfte ich nichts trinken, das war alles giftig! In der Ecke befand sich ein Kasten mit Frucht- und Kakaomilch. Jeder, der Geld bezahlt hatte, konnte sich eine Flasche nehmen. Und ich besaß keinen Pfennig. Daheim gab es Ziegenmilch. Die hing mir zum Hals raus. Ich wollte was Neues ausprobieren.

      Als mich niemand beobachtete, schlich ich zur Kiste und stibitzte mir ein Getränk. Das sah man sofort. Und schon ging es los: „Die hat geklaut! Die hat ´ne Milch gestohlen! Die hat den anderen Kindern die Milch weggetrunken!“

      Emmi beschwerte sich später über mich: „Zu Hause kriegt die alles! Was nimmt die das giftige Zeug? Das schädliche! Das dünne ...! Soll lieber die gute Ziegenmilch trinken!“

      Aber ich wollte einen fremden Geschmack im Mund haben. Damals tauschte ich sogar meine Hausmacher Leberwurstbrote gegen welche mit gekaufter Wurst ein. Die schmeckten mir besser!

      Von halb zehn bis zehn war die Hofpause, die große Pause. Wir stürmten die Treppe hinunter. Im Gedränge schupste man mich. Erst nachdem ich auf dem Schulhof angekommen war, spürte ich, dass mir Irene gefolgt war. Sie baute sich dicht hinter mir auf. Ihr Atem klebte in meinem Nacken. Das kannte ich. Oft genug ärgerte sie mich und andere Kinder. Sie legte sich nur mit Schwächeren an. Nie mit den Starken. Sie suchte sich die aus, die man ausgeschlossen hatte, jene, die stotterten, die allein in der Ecke standen oder die sonst durch irgendetwas Besonderes auffielen.

      Ich selber war zwar klein, aber nicht kontaktarm. Ich wollte mit dabei sein, wenn die Mädchen und Jungen über den Pausenhof rannten, wenn sie auf dem Kopfsteinpflaster „Fangeles“ spielten, wenn sie sich hinter den Papierkörben oder Büschen versteckten. Aber ich durfte nicht mitspielen. „Dich lassen wir nicht mitspielen! Du Blöde! Du kannst nichts!“, rief mir ein Bengel, der drei Köpfe größer war als ich, zu. „Geh zu Mama! Hau ab! Verschwinde!“

      Plötzlich mischte sich Irene ein, schupste mich, zog an meinen dünnen Zöpfen.

      „Und überhaupt! Das sind ja gar nicht deine Eltern!“ Sie grinste mich an. „Ach!