Augen wanderten durch das Zimmer.
Dass mir das nie aufgefallen war? Alles ginge schneller, hätte ich besser aufgepasst. Ich vertrödelte wertvolle Zeit. Jeden Augenblick könnte die Tür aufgehen, Emmi oder Oma Ilse erscheinen.
Viele Verstecke gab es nicht. Ich schaute mir die Ecke zwischen Schrank und Fenster an. Wenn, dann würden das hier ideale Schlupflöcher sein. Und tatsächlich! Hinter der Gardine hing ein Brett mit Schlüsseln. Ich musste nur noch den passenden finden.
Erleichtert atmete ich auf. Aber im gleichen Moment zuckte ich zusammen. Oben schepperte es, Großmutter fluchte. Ich erstarrte. Mehrere Minuten lang war es still im Haus. Scheinbar vermisste sie mich nicht. Vielleicht meinte sie, ich sei mit den Eltern auf den Acker gegangen. Das wäre günstig. Vorsichtig nahm ich den Schlüssel vom Haken, öffnete die Tür.
Wo sollte ich anfangen?
Die untersten Schubfächer schienen mir am interessantesten. Ich bückte mich, hob die Kleidungsstücke hoch, die nicht hundertprozentig übereinander lagen. Emmis Ordnungswahn wies mir die Richtung. Im letzten Fach entdeckte ich eine Kassette. Glücklich zog ich sie hervor. Aber auch sie war verschlossen. Hektisch suchte ich den nächsten Schlüssel. Am Brett hing er nicht. Die Zeit drängte. Bald würde man nach mir suchen! Länger als eine halbe Stunde blieb ich nie allein.
Ich schwitzte. Noch einmal zog ich die kleinen Schubfächer in der Mitte des Schrankes auf. Eins nach dem anderen. Und staunte! Neben Strümpfen bemerkte ich Westschokolade und Westseife. Aha! Seife neben Schokolade! Tolle Mischung! Ich war beeindruckt. Immerhin duftete alles. Ja, das war ein ganz geheimes Fach. Spannend! Ich zog die Socken beiseite und fand den Schlüssel. Geräuschlos öffnete ich die Kassette.
Plötzlich zitterten meine Hände. Ich bekam einen Krampf. Die Angst, ich könnte entdeckt werden, ließ mich zögern. Ich fürchtete mich vor Emmis Schlägen. Das wollte ich nicht!
Schnell legte ich die Sachen zurück, schob hastig die Fächer zu und schlich in die Küche. Es war auch keine Sekunde zu früh. Ilse stand vor mir. Misstrauisch musterte sie mich. Sie spürte, dass ich was ausgefressen hatte. Doch es war zu spät! Ich war schneller! Glücklicherweise!
„Sind die Schularbeiten fertig?“ Ihre Stimme kratzte. „Dann kannste Brennnesseln für die Schweine holen! Los! Beeil dich! Steh hier nicht so nutzlos rum!“
Großmutter blaffte mich an. Sie war derb. Gefühle kannte sie nicht. Dafür hasste ich sie.
Schnell schnappte ich mir meine Schuhe und verschwand. Offensichtlich hatte sie meine Suchaktion nicht mitbekommen. Das hoffte ich jedenfalls.
Meine Familie erwischte mich nicht. Aber sie merkte wohl, dass da was nicht stimmte. Ich beeilte mich, denn ich musste damit rechnen, entdeckt zu werden. Ich achtete darauf, dass alles an seinen angestammten Platz zurückkam. Doch die Zeit drängte. Wahrscheinlich brachte ich einiges durcheinander, legte was an die verkehrte Stelle. Ich weiß nicht. Aber bei der Suche ertappte mich keiner. Man kann vieles machen, bin ich der Meinung, aber erwischen lassen darf man sich nicht.
Die nächste Gelegenheit nutzte ich schamlos aus.
Die Briefe fand ich in der Kassette, lose hintereinandergelegt, nicht verschnürt. Sie steckten in ungefähr fünf bis sechs Umschlägen. Mehr waren das nicht. Ich las einen Text über Emmis Scheidung. Da stand drin, wie viel sie ihrem Ex-Mann noch zahlen musste. Ihr geschiedener Mann hatte das Haus mitfinanziert. Ich weiß nicht genau, wann sie sich scheiden ließ. Sie hatte jedenfalls noch Schulden bei ihm. Doch damals gab es neues Geld. Reichsmark! Er wollte 5000 Reichsmarken haben. Aber das interessierte mich nicht.
Nur Papiere aus dem Heim waren spannend. Langsam faltete ich sie auseinander. Eines nach dem anderen. Jeweils zwei DIN-A4 -Seiten lagen in den Kuverts. Man hatte sie mehrfach zusammengeschlagen. Ich nahm sie raus, legte sie auf den Boden, merkte mir jedoch nicht immer die richtige Falttechnik. Die Briefe hatte die Heimleiterin verfasst und zwar handschriftlich. Das weiß ich noch. Ich brauchte Zeit, um sie zu entziffern, denn sie waren in Altdeutsch aufgesetzt.
Den Namen des Kinderheims habe ich vergessen. Ich wollte nur wissen, was die meinen Eltern geschrieben und was die geantwortet hatten. Es befand sich ein handgeschriebener Brief von Emmi in den Unterlagen. Sie hatte ihn nicht abgeschickt. In ihm stand, dass sie sich für dieses Kind entscheiden würde. Das andere wolle sie nicht.
Mit Mühe entzifferte ich alles, versuchte es zu verstehen. Im Alter von 11 Jahren fiel mir das nicht leicht. Da brauchte ich Geduld, um die Zusammenhänge zu begreifen. Es war so spannend, dass ich öfter vor Aufregung Bauchschmerzen bekam.
Wenn es oben klapperte oder unten die Tür knarrte, schob ich die Papiere zusammen, steckte sie hastig in die Umschläge.
Zack! Zack! Alle Briefe mussten ordentlich gefaltet, in die Kassette gelegt und in den Schrank gestellt werden. Keiner durfte es merken. Auch die Schlüssel durfte ich nicht vergessen. Das war schwierig. Ich musste mich beeilen, alles verschließen und zum Schluss aus dem Zimmer schleichen. Es war gefährlich.
Die Schriftstücke lagen eine ganze Zeit da. Vielleicht so lange, bis ich sechzehn, siebzehn war. Und dann waren sie weg. Ich fand sie nie wieder. So oft ich auch suchte, sie blieben verschwunden.
Ich denke, Emmi hat sie weggeräumt und entsorgt.
Nachdem sie gestorben war, stellte ich alles auf den Kopf. Aber es war nichts da. Nicht ein Ding. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie noch irgendwo im Haus stecken. Eine alte Truhe besitze ich nicht, wo ich sagen kann, da habe ich noch nicht hineingeschaut.
Vermutlich hatte Emmi sie verbrannt, als ich damals im Streit ausgezogen war ...
3. KAPITEL: MEINE ELTERN SUCHTE ICH MIR SELBST AUS
An das, was ich jetzt erzählen werde, kann ich mich nicht bewusst erinnern. Ich war damals zwei Jahre alt oder noch nicht geboren.
Dieses Puzzleteil meiner Vergangenheit setze ich aus Bausteinen verschiedener Erzählungen der Verwandtschaft zusammen. Am lebhaftesten blieben mir die Schilderungen meiner Cousine Lenchen im Gedächtnis. Sie ist einige Jahre älter als ich und hat die Zeit intensiv erlebt. Damals wohnte sie ein paar Häuser von meinen Eltern entfernt. Ihre Familie zog erst Ende der 50er gen Westen.
Wenn ich allein in meinem Sessel sitze, blättere ich gern in Fotoalben der Kindheit herum. Ein Bild im verwaschenen Grauton zeigt Erich mit einem Koffer. Er sieht jung aus. Neben ihm steht ein alter Opel P 4. Damals arbeitete er als Chauffeur in Eisenach. Das war ein guter Job. Es war die Zeit vor dem II. Weltkrieg, bevor er eingezogen worden war.
Die Russen nahmen meinen Vater in Sibirien gefangen. Sie entließen ihn erst 1948/49. Über Krieg und Gefangenschaft sprach er kaum. Er schimpfte nie. Er schwieg. Nur auf Familienfeiern, nach einigen Schnäpsen, löste sich der Knoten in seiner Zunge und er redete.
Damals musste er Gras essen. Einen Wasserbauch schleppte er mit sich herum. Gesicht und Körper waren aufgedunsen. Die Leute gaben ihm kein halbes Jahr mehr. Trotzdem erreichte er ein stattliches Alter von 86 Jahren. Bei uns wurde er durchgefüttert. Auf den Tisch kam nur gesundes Zeug. Nur das, was im Garten oder auf dem Feld wuchs, landete auf dem Teller.
Die Frauen erlernten früher keinen Beruf. Als Hausfrauen kochten sie, backten sie, gingen aufs Feld und erzogen ihren Nachwuchs nebenbei. Meine Großmutter, Ilse Koch, brachte sogar eines ihrer neun Kinder auf dem Acker zur Welt. Danach hackte sie bei strömendem Regen mit dem Baby auf dem Rücken weiter das Unkraut und den aufgeweichten Boden. Es waren raue Zeiten, die wir uns heute kaum noch vorstellen können.
In jungen Jahren sah Emmi hübsch aus. Ihre braunen Augen mit den geschwungenen Brauen verliehen dem Gesicht einen energischen Ausdruck. Sie wusste, was sie wollte. Das sah man ihr an. Aber das Alter wischte den Glanz der Jugend beiseite. Der verträumte Blick schwenkte um in Traurigkeit und Verbitterung.
Ich fragte mich oft, warum?
Sicher gefiel ihr vieles nicht. Ihr Leben war eine einzige Baustelle. Doch sie sprach nicht darüber.
Vor meinem Vater war sie schon