Sabine Purfürst

Biografie eines adoptierten Lebens


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was die Kinder mir erzählt haben!“, heulend berichtete ich ihr von meinen Erlebnissen. Völlig außer mir schimpfte ich auf meine Mutter.

      „Stell dir vor, Marlies! Nichts hat die erklärt! Nicht ein Wort! Die hat zugeschlagen! Ohne Grund! Und ich weiß nicht, warum!“ Verständnislos wischte ich mir die Tränen von den Wangen.

      Wir saßen im Gras und beobachteten die Schmetterlinge mit den schwarzen Augen und die Bienen mit ihren gelb-braunen Körpern. Waldameisen krabbelten emsig um uns herum. Kohlmeisen schwirrten in den türkisfarbenen Himmel hinein. Es summte, brummte, piepste. Alles lebte. Doch wir spürten es kaum. Wir hockten dicht beieinander und versuchten uns gegenseitig zu trösten.

      Marlies war meine beste Freundin. Sie erzählte mir oft von ihren Sorgen: „Weißt du, meine Eltern wollen sich scheiden lassen! Nie haben die Zeit für mich! Was meinst du, wie oft ich meinen Vater sehe? Geld kriege ich von ihm! Aber einen Kuss hat er mir noch nie gegeben! Nicht einmal gedrückt hat er mich!“

      Sie zupfte Grashalme aus der Erde und warf sie über die Schulter. „Die Erwachsenen sind komisch! Da wollen die immer so schlau sein! Alles wissen! Alles können! Aber mit uns reden! Auf die Idee kommen die nicht!“

      „Genau! Keiner sagt was! Auch die Verwandtschaft verrät nix! Die halten zusammen! Wenn ich da frage, wenn ich die Tanten frage, da gibt es keine Antwort! Nur Schweigen! Oder die sagen: ‚Frage deine Eltern! Das geht uns nix an!’ Toll! Und die reden nicht! Schon gar nicht mit mir!“

      Ich richtete mich auf und schaute Marlies in die Augen. Der Wind spielte mit ihren blonden Locken.

      „Neulich saß ich mucksmäuschenstill, rührte mich nicht! Aber das nützte nichts. Die schickten mich trotzdem ins Bett. Gern hätte ich länger zugehört. Aber ich musste schlafen gehen. Das Schlüsselloch hängten die zu. Noch nicht mal was sehen konnte ich! Stell dir vor! Es gab kein Pardon!“

      Meine Freundin hörte mir aufmerksam zu, verfolgte jedes Wort. Sie verstand mich. Nur sie allein.

      Bis zum 15. Lebensjahr schlief ich bei den Eltern im Zimmer. Oft genug klebte ich am Schlüsselloch, um die Geheimnisse meiner Leute zu lüften. Doch, so sehr ich auch lauschte und forschte, ich bekam nicht viel mit. Alles musste ich mir schwer erarbeiten.

      Wenigstens mit Marlies konnte ich mich austauschen. Sie war wie eine Schwester für mich, wie eine Seelenverwandte.

      Heute weiß ich, dass wir uns gegenseitig stützten, dass echte Freunde selten sind. Dass sie das Wichtigste neben einem Partner und Kindern im Leben sind.

      Die Enttäuschung über meine Eltern fraß sich in all den Jahren in mein Gedächtnis ein. Ich finde, es wäre schöner gewesen, wenn sie mit mir geredet hätten. Aber sie waren zu altmodisch, zu verschlossen.

      Ich bin der Meinung, es soll vom ersten Tag an ehrlich zugehen! Das war ich damals nicht. Ich habe geschwindelt, was das Zeug hielt. Doch eine Grundehrlichkeit muss man entwickeln. Schwindeln darf man ab und zu, aber so selten wie möglich.

      Ich dachte, wenn du jetzt weiter lügst, da kommst du nicht mehr raus. Am Ende weißt du nicht, wem du was erzählt hast. Du verhaspelst dich, blamierst dich unsterblich! Das lässt du! Sagst lieber gleich die Wahrheit, musst dir den Schluss nicht merken! Das ist so ein Schlüsselerlebnis gewesen, das muss man nicht haben. Da denke ich heute anders drüber, gehe anders damit um.

      Es dämmerte schon und der Regen hatte die Sonne verscheucht, als wir den Berg herunterkletterten und den Feldweg nach Hause liefen. In meinem Kopf spukten die wildesten Geschichten herum. Und daheim ging die Sucherei los.

      Da war ein Geheimnis! Da musste ich hin! Das Rätsel wollte ich lösen! Ich hatte keine Ruhe mehr! Meine Neugier war geboren!

       2. KAPITEL: DIE SUCHE NACH DEN BRIEFEN

      Meine Eltern hatten ihr Haus einfach und praktisch eingerichtet. Alles gradlinig und anspruchslos. Am Küchenfenster stand ein Kanapee und gegenüber vom Herd ein Schrank, ein Büfett mit Glasfensterchen. In der Mitte des Raumes befand sich ein rechteckiger Tisch. In ihm hingen zwei weiße Emaille Schüsseln, die Emmi zum Abwaschen herauszog. War sie fertig damit, schob sie sie zurück und schlug den Deckel zu.

      Die andere Ecke füllte der Ofen aus. Gleich daneben hockte der Kohlenkasten. Den Herd nutzte Mutter selten. Sie kochte mit Großmutter zusammen im oberen Teil des Gebäudes. Da Oma Ilse und Opa Otto dort wohnten, verbrachten sie den Vormittag im Obergeschoss.

      Kam ich später von der Schule, aß ich in unserer Küche. Hier erledigte ich meine Schularbeiten. War ich damit fertig, diktierte mir Mutter oft Briefe.

      Emmi holte aus dem Küchenschrank ein Kästchen. Rote und schwarze Perlen umrahmten die ockerfarbene Schatulle, die jeweils acht Kreise darstellten. Sie stand auf vier Füßen. Den Deckel schmückte eine rot-schwarze Margerite, die wie eine Schlange lauernd und reglos den Kasten bewachte.

      Nachdem Emmi die Kassette auf den Tisch gestellt hatte, öffnete sie in der Mitte des Küchenbuffets eine winzige Klappe und nahm Briefpapier heraus.

      „Martina! Du schreibst heute einen Brief an Onkel Ernst! Setz dich bitte! Ich diktiere!“

      Der Füller kratzte auf dem Briefbogen. Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch die Blumenschatulle war wesentlich interessanter. Ich schielte in die Richtung, da spürte ich Emmis Ellenbogen in meinen Rippen. Ich zuckte zusammen.

      „Schmiere nicht!“, befahl sie.

      Aus den Augenwinkeln entdeckte ich andere Schriftstücke im Kasten. Sie weckten meine Neugier. Was stand da drin? Doch es war nicht leicht, an sie heranzukommen. Mutter schloss alles gleich wieder weg. Ich fand keine Zeit zum Nachlesen. Das wollte ich später tun.

      Doch später fand ich nur noch Konsummarken, Rechnungen, kleine Fahrzeugbücher und Versicherungskärtchen. Die Briefe waren verschwunden. Entweder Emmi hatte sie weggeschmissen oder versteckt. Aber wohin? Das war die spannende Frage, die mich eine Ewigkeit beschäftigte.

      Jedes Mal, wenn ich zwei Minuten ohne Aufsicht herumsaß, fing ich an zu stöbern. Leider ließ man mich nie lange allein. Einer bewachte mich immer. Auch die Großeltern fühlten sich für mich verantwortlich.

      Meine Suche begann im Küchenschrank. Doch hier gab es nichts. Ich grübelte. Wo hatte Mutter die Briefe vergraben? Mit dem Daumen im Mund konnte ich besser nachdenken. Hoffentlich hatte Emmi sie nicht verbrannt. Ich wollte sie unbedingt lesen. Wo lagen die? Ratlos suchte ich das Zimmer nach Verstecken ab. Meine Augen begutachteten die wenigen Möglichkeiten. Meine Ohren achteten ständig auf Geräusche aller Art. Großmutter war zu Hause. In letzter Zeit ging sie nicht mehr auf den Acker. Lieber hielt sie sich in der Küche auf. Das war ungünstig. Auch sie verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Auch sie ließ mir keine Ruhe. Ich musste mich beeilen und leise sein.

      Nachdem ich sämtliche Fächer im Küchenschrank vergeblich untersucht hatte, schlich ich in die Stube. Tisch und Sofa waren uninteressant. Hier konnte man nichts unterbringen. Aber in der Schrankwand gab es genügend Platz.

      Hintereinander zerrte ich Türen und Schubladen auf. Vorsichtig schob ich das gute Geschirr mit dem Goldrand beiseite, schreckte zusammen, wenn ein Teller klapperte oder Glas klirrte. Doch Briefe fand ich nicht.

      Verdammt! Wo waren die?

      Plötzlich kam mir eine Idee! Im Kleiderschrank im Schlafzimmer gab es viele Möglichkeiten. Das riesige Möbelstück hatte man anfertigen lassen, zweitürig für Erich und dreitürig für Emmi. In der Mitte gab es eine Frisiertoilette. Alles bestand aus massivem Eichenholz.

      Im dritten Teil lagen fein säuberlich übereinander gelegt Tischwäsche, Bettwäsche, Bezüge und andere Sachen.

      „Ordnung muss sein!“ Emmis Devise.

      Unten entdeckte ich kleine flache Schubladen mit Strümpfen und Taschentüchern.

      Jetzt wollte ich noch die Tür öffnen, zog an einem Griff, doch sie war verschlossen. So sehr ich auch rüttelte, sie gab keinen Zentimeter nach. Ich musste mir was einfallen lassen.

      Meine