war das Gespräch beendet und die Chefin führte meine Eltern einige Minuten später aus dem Zimmer in den langen Gang. Es roch nach Bohnerwachs und Seifenlauge. Kinderstimmen füllten den Flur, schallten zurück wie das Echo in einer Höhle.
Im Spielzimmer, in der so genannten Puppenecke, saß artig die kleine Anita. Emmi betrachtete das Kind ohne eine äußere Regung, drehte sie sich um und verließ den Raum.
„Das sind doch bestimmt nicht alle?“
„Nein! Das sind aber die ruhigsten und liebsten! Ich möchte sie Ihnen unbedingt ans Herz legen! Diese Kinder sind absolut zu empfehlen!“
Doch Emmi wollte nicht!
„Zeigen Sie mir die anderen!“
„Meinetwegen! Da müssen wir rausgehen!“
Die Heimleiterin zog die Spielzimmertür zu und marschierte zum Hintereingang. Emmi folgte ungerührt. Sie ließ keinen Abstand zu. Über vier Steinstufen liefen die drei Erwachsenen zu einer riesigen Parkanlage. Hinter dem Gebäude spielten Mädchen und Jungen zwischen Kastanienbäumen, Buchen und Kiefern. Der frisch gemähte Rasen duftete. Die Kinder tollten auf dem gesamten Gelände herum.
Und dann kam ich ins Spiel!
Ich denke eigentlich, dass ich mir in meinem kleinen Leben mein Glück damals selbst ausgesucht habe!
Ich lief schnurstracks, ohne zu überlegen, auf Emmi und Erich zu. Emmi muss beeindruckt, ja überrumpelt, gewesen sein. Denn von da an konnte ihr keiner mehr die kleine Martina ausreden. Vermutlich hatte sie sich vom ersten Augenblick an in mich verliebt, aber auch getäuscht.
Sie ahnte damals nicht, wen und was sie sich da aufhalsen und an Land ziehen würde. Sie hatte noch keine klaren Vorstellungen von Kindererziehung, keinerlei Erfahrungen auf dem Gebiet. Ihr gefiel wohl, dass ich sie ausgesucht hatte. Jedenfalls ließ sie sich nicht mehr davon abbringen, Martina zu adoptieren. Alle folgenden Briefe der Heimleiterin, in denen sie dringend von „diesem Kind“ abraten wollte, berührten Emmi nicht.
Die warnenden Worte von Hiltrud: „Nehmt das Kind nicht! Die Mutter ist `ne Kriminelle! Wer weiß, was da draus wird! Vielleicht wird die auch so!“, hörte Emmi nicht.
„Ne! Ich nehme die Martina! Und fertig! Aus!“
Das war ihr letztes Wort zu dem Thema, dabei blieb sie bis zum Schluss. Ihre Entscheidung stand fest wie ein Fels.
Unumstößlich!
Im Jahre 1955, im tiefsten Winter, bei Temperaturen unter -20 Grad Celsius, brachten sie mich nach Suhl.
Erich fotografierte mich bei der Ankunft. Das Ursprungsbild klebt auf schwarzem Papier im grünen Album.
Meine neuen Eltern holten mich im Dezember. Sie packten mich auf den Schlitten, an die Lehne, die man hinten drauf gesteckt hatte. Sie hüllten mich in eine Wolldecke und setzten mir eine Mütze auf den Kopf. Im tiefsten Winter, bei klirrender Kälte zogen sie mich durch die Stadt zum Buchenberg hinauf. Und dann ging es ab, nach Hause, in die warme Stube.
4. KAPITEL: WAS DIE SAGEN, WILL ICH GAR NICHT WISSEN
Das Haus, in dem ich aufwuchs, stand an einem Hang. Emmi hatte es mit ihren Eltern entworfen und gebaut. Ein hoher Zaun trennte den Garten von saftigen Wiesen und bewaldeten Bergrücken.
Als man mich herbrachte, war ich klein und flink wie ein Wiesel. Überall bahnte ich mir einen Weg in die Freiheit. Genau wie die Katze entwischte ich viele Male durch die Katzenklappe. Gleich neben dem Gartentor verschwand das Tier hinter einem Loch im Zaun. Was die kann, konnte ich schon lange.
Emmi fing mich kaum ein. Sie schlug die Hände über den Kopf zusammen und klagte. Meine Abenteuer brachten sie zur Verzweiflung. Ein solches Energiebündel hatte sie nicht erwartet. Ich raubte ihr den letzten Nerv.
An eine Sache erinnere ich mich heute noch. Da war ich vier Jahre alt. Ich sollte mittags ruhen. Emmi schob die Rollläden vor die Fenster und ging.
Ich lag im Bett und schlief. Die Luft war stickig. Das Atmen fiel mir schwer. Mit einem Mal wachte ich auf, schrie wie am Spieß. Ich wollte aufstehen und nicht mehr schlafen. Ich hätte rausklettern und zur Tür gehen können, aber das tat ich nicht. Ich brüllte und blieb liegen. Ich dachte, die hören mich.
Doch kein Mensch reagierte. Keiner nahm mich aus dem Bett. Ich musste zu guter Letzt allein rauskommen. Niemand kam und holte mich.
Was weiß ich, wo die waren. Vielleicht draußen auf dem Acker, Unkraut jäten oder so was. Aber als Kind kann man sich das nicht erklären. Das war genau so ein Schlüsselerlebnis, wo ich dachte: „Da hilft dir keiner! Musst dich selbst kümmern! Musst das allein regeln! Da kommt niemand und zeigt dir den Weg ...“
Ich denke, das war damals eine andere Zeit. Es gab einen anderen Respekt als heute. Man zauberte aus dem Nichts etwas, weil es nichts gab. Jetzt besitzt man alles im Überfluss und das finde ich nicht gut. Die Menschen sind maßlos geworden.
Heute kriegen die Kinder alles, was sie sich wünschen. Da werden keine Abstriche zugelassen. Manche Teenies, die ich von Kindesbeinen an kenne, haben keine Wünsche mehr. Ist das richtig? Es tut mir leid. Ich sage, Kinder sollen lebensfähig werden, um sich im Leben zurechtzufinden. Aber diese Erziehung macht es ihnen nicht leicht.
Als Kind war ich oft traurig. Ich fühlte mich schlecht, weil alles, was ich machen wollte, verboten war. Ich musste zu Hause bleiben. Ich durfte nicht in den Kindergarten gehen, nicht mit den Kindern spielen. Und wenn endlich eine Freundin zu mir nach Hause kam, heulte ich Rotz zu Wasser, wenn sie wieder fortgehen musste.
Ach, Mensch, das war nicht schön. Aber ich denke mir, es hat mich geprägt. Ich weiß es halt nicht. Aber jeder Mensch ist anders, sieht das anders.
Das Essen im Kindergarten hätte ich gern gekostet, denn zu Hause schmeckte es nicht. Das war ja nur lecker, wenn die Westverwandtschaft auftauchte. Mutter wirtschaftete sparsam. Es gab kaum Salz und Pfeffer. War alles schädlich. Maggi kam nur ans Essen, wenn der Besuch aus dem Westen erschien. Sonst gab es das nicht. Das konnte man vergessen. Emmi versteckte es bis Onkel und Tante anreisten. Aber dann war es schlecht und sie stand ratlos in der Küche.
Immer, wenn die Verwandtschaft aus Gladbach bei uns wohnte, fühlte ich mich wie im siebenten Himmel. Für mich war das die Welterfüllung. Standen noch Festivitäten an, war das das absolute Highlight.
„Fünf Bratwürste hat `se wieder gegessen!“, hieß es dann kopfschüttelnd.
Die Sache mit den Lebensmitteln war eines von vielen Problemen in der DDR. Bestimmte Produkte wie zum Beispiel Hallorenkugeln, Filinchen, Halberstädter Würstchen und vieles mehr rationierte man. Sie mussten für kostbare Devisen exportiert werden. Aus deren Erlösen importierte man Bananen, Apfelsinen und Pfirsiche. Besonders vor Feiertagen brauchte die Bevölkerung ein paar Zusatzgeschenke.
Das Gleiche galt für Ersatzteile oder zum Beispiel Farbfernseher.
In den 50er Jahren bezahlte man noch mit Lebensmittelkarten. Ich glaube, sie wurden erst 1958 abgeschafft. Auf der linken Seite der hellgrünen Karten befanden sich einzelne abreißbare Marken für Fleisch, Fett und Zucker. Rechts füllte man die Arbeitsbescheinigung aus und in der Mitte standen der Name des Besitzers und eine sechsstellige Nummer. Natürlich waren diese Dinge sehr wertvoll. Verlor man sie, war der Teufel los.
Immer, wenn Emmi keine Zeit zum Einkaufen hatte, schickte sie mich. Und zwar bereits im Vorschulalter oder noch eher. Eingekauft wurde im Konsum. Der zentrale Umschlagplatz für alle und alles. Die Leiterin war die eigentliche Bürgermeisterin im Ort. Sie wusste alles. Ihr entging nichts. Sie war das Machtzentrum des Ortes. Wer sie kannte, brauchte sich keine Sorgen machen. Und wer etwas zum Tauschen mitbrachte, dem ging es gut.
„Eine Hand wäscht die andere!“, war ein gängiger Spruch.
Eines schönen Tages drückte mir Emmi das Einkaufsnetz in die Hand: „Du kaufst Gemol, Ata, Imi und Butter!“ Sie kramte in der Schürzentasche und holte ein Stück Papier heraus. „Und