sah noch den erhobenen Zeigefinger.
Dann hüpfte ich den Hügel hinunter. Es war spät am Nachmittag und ich schwitzte. Die Hitze versenkte seit Tagen das Land. Das Gras nahm eine gelbliche Farbe an. Die Kühe legten müde ihre Köpfe in die Wiese. Die Menschen versteckten sich in den Häusern. Selbst ein lauer Wind brachte keine Abkühlung.
Das alles machte mir nichts aus, denn ich war frei, konnte endlich dem prüfenden Blick der Mutter entrinnen. Ich warf die Buttermarken ins Netz und hopste von einer Seite des Feldweges zur anderen. Dabei schleuderte ich das Netz fröhlich wie ein Rad im Kreis.
Sand wirbelte durch die trockene Luft. Glücklich stieß ich alte Zweige und Fichtenzapfen mit den Schuhspitzen weg. Ich fühlte mich wohl. Niemand zerrte und nörgelte an mir herum. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Das gefiel mir.
Die drei Treppenstufen vor dem Konsum nahm ich auf einmal. Beinah hätte ich die Tafel umgerissen. Ein schwarzes großes Brett befand sich neben der Eingangstür. Auf ihr stand etwas mit weißer Kreide geschrieben. Das konnte ich noch nicht lesen. Deshalb war mir der Inhalt unbekannt. Es störte mich nicht. Vielmehr stürmte ich in den Laden. Lustig bimmelte ein Glöckchen und die Verkäuferin lächelte mich an.
„Ein Stück Butter!“ Mein Kopf reichte bis zur Kante der Ladentheke. Ich konnte noch nicht über den Tisch gucken.
„Die Marke, bitte!“
„Moment!“
Ich griff ins Netz und erstarrte. Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken. Die Buttermarken fehlten. Ach du Schande! Das war ein mittelschweres Erdbeben! Ich bekam natürlich nichts, sondern musste den gleichen Weg zurücklegen und suchen.
Zuerst kriegte ich einen Hintern voll. Dann trullerte Emmi in den Konsum. Die Butter gab`s trotzdem. Ich weiß bis heute nicht, wie sie das angestellt hatte. Ihre Beziehungen reichten in viele Richtungen, genau wie die Tentakel eines Kraken. Jedenfalls veranstaltete sie ein riesiges Theater. Die Buttermarken blieben aber verschwunden.
Das Gleiche passierte mir mit der Milch. Irgendwann gaben die Ziegen keine Milch. Und ich sollte welche kaufen. Vielleicht zum Backen. Ich weiß das nicht mehr so genau. Jedenfalls bekam ich ein weißes Milchkännchen in die Hand gedrückt. Und das Kännchen ließ sich beim Hüpfen so gut schleudern. Das war lustig. Mm! Das ging auch eine Weile gut. Aber dann, bruch, sickerte die Flüssigkeit in den Sand und ich dachte an meine letzte Wucht ...
Ilse Koch, die Mutter meiner Mutter, war eine resolute, selbstbewusste Frau. Mit ihr spielte ich nicht gern. Sie konnte mit Kindern nicht umgehen. Kinder sollten was tun. Sie wurden geboren, um zu arbeiten. Das war früher selbstverständlich. Alle halfen mit. In der Familie meiner Großmutter lebten vier Mädchen und fünf Jungen. Da gab es keine Zeit für Spiele. Da hieß es Rechen, Hacken, Graben, Getreide einfahren, Obst und Gemüse pflücken, Erbsen pulen, Bohnen schnippeln und vieles mehr. Jeder musste mithelfen. Es war ganz normal für Ilse, dass ich das Gleiche zu erledigen hatte. Ich sollte kräftig mit zupacken. Da gab es keine Ausnahmen.
Das Wort „Spielen“ kam in ihrem Wortschatz nicht vor. Es war ein Fremdwort für Oma und so handelte sie auch. In einer bunten Kittelschürze stand sie da mit einem Stofftaschentuch in der Hand. Damit wischte sie ständig über ihre tränenden Augen. Doch das hielt sie nicht davon ab, mich zu bewachen. Selbst als sie nicht mehr laufen konnte, guckte sie aus dem Fenster und passte auf mich auf. Wenn dann der Moritz kam, schimpfte sie wie ein Rohrspatz von oben herab: „Du sollst nicht psch ..., psch ..., spielen! Du kommst jetzt hoch und putzt die Sch ..., Sch ..., Schuhe!“
Ilse stotterte. Vor vielen Jahren war ein Blitz dicht neben ihr eingeschlagen. War sie aufgeregt, ging das Stottern los. Wir Kinder hörten das und lachten. Wir veralberten die arme Oma. Sie sollte auf mich achtgeben. Doch ich machte schon damals, was ich wollte. Guck doch das Foto an. Wie ich da wegsehe. Das Schimpfen stört mich nicht.
Was die da sagt, will ich gar nicht wissen!
Bereits als kleines Kind war ich ein „Besen“. Ein „Lausejunge“!
Trotzdem liebten sie mich. Das muss ich sagen. Sie haben den Menschen aus mir gemacht, der ich heute bin. Obwohl ich das über viele Jahre nicht einsehen wollte.
Ich fühle mich der Natur sehr verbunden.
Schon im Kleinkindalter liebte ich Blumen. Rings um unser Haus breiteten sich Wiesen aus. In Gedanken sehe ich mich im Gras auf meinem Rockzipfel hocken, Butter- und Sumpfdotterblumen, Gänseblümchen und Schlüsselblumen zupfen. Ich sammelte alles, was mir gefiel, auch Unkraut. Dann band ich bunte Sträuße draus, hüpfte den grauen Feldweg entlang und schmiss sie vor der Haustür weg.
Einmal trug ich die kleinen Frauenschühchen mit nach Hause. Emmi bewunderte die lilanen Blüten. Sie stellte die Pflanzen in eine Vase. Wenn der Tag rum war, warf sie sie in den Müll. Das tat mir leid.
Ich dachte, wie kann man nur so sein? Die schönen Blumen wegschmeißen!
Da warf ich sie, bevor ich das Haus betrat, lieber selber weg.
Vor unserem Einfamilienhaus breiteten sich zwei große Kirschbäume aus. Ich kletterte für mein Leben gern in ihren Ästen herum, hockte mich in die Kronen und verhielt mich mucksmäuschenstill. Wenn die mich suchten, bewegte ich mich nicht! Sollten die mich suchen! Sollten sie sehen, was sie davon hatten, wenn sie so frech zu mir waren, dachte ich und rührte mich minutenlang nicht von der Stelle. Dickköpfig und stur verharrte ich in meiner Position, ohne dass mich jemand entdecken konnte.
Schon in diesem Alter bereitete ich meinen Leuten viel Ärger. Ich mochte nicht in ihrer Haut gesteckt haben. Heute frage ich mich, ob sie es manchmal bereut haben, dass sie nicht auf die Heimleiterin gehört hatten. Vielleicht hätte das andere Mädchen nicht so viele graue Haare verursacht wie ich?
Bevor ich die Schule besuchte, begleitete ich oft den Kuhhirten, den von Nordheim und seine Kühe auf den Buchenberg. Das durfte ich. Frühmorgens gegen neun Uhr stapfte er an unserem Heim vorbei. Er sammelte alle Kühe der Umgebung ein. Ziegen hatte er nicht dabei.
Oma Ilse geleitete mich bis zur Wegscheide. Sie passte auf, dass ich nicht vom Weg abkam. Erst, wenn der Hirte uns erreicht hatte, ließ sie mich gehen, holte mich aber spätestens an derselben Stelle wieder ab.
Von Nordheim nahm mich mit auf den Berg. Damals standen noch keine Häuser da. Man sah nur Wiesen, Bäume und Felder.
An einen Tag erinnere ich mich genau. Von Nordheim hatte Geburtstag. Irgendwo draußen zupfte ich gelbe Blumen. Ich glaube, es war Goldregen. Ich fand die so schön. Dass die giftig waren, davon hatte ich als Kind keine Ahnung. Mir gefielen sie. Das war entscheidend. Alles andere interessierte mich nicht.
Emmi reichte mir eine dicke Zigarre und voller Stolz trug ich die Geschenke zum Hirten. Den Blumenstrauß kriegten die Kühe und die Zigarre behielt er. Das weiß ich noch! Das war in Ordnung.
Als Kind war ich selten krank, lag nie im Krankenhaus. Selbst Eltern und Großeltern kannten kaum Krankheiten. Nur Oma Ilse fühlte sich im Alter nicht mehr wohl. Während Opa Otto noch auf dem Acker arbeitete, blieb sie daheim. Sie ging kaum noch aus dem Haus, denn das Treppensteigen fiel ihr schwer.
Früher half Ilse im Garten und bei der Heuernte auf den Wiesen. Doch das ließ alles nach. Mit 80 oder 82 stürzte sie, brach sich den Oberschenkel. Drei Wochen später starb sie.
Natürlich holte Emmi zuerst keinen Arzt. Auch ins Krankenhaus musste man nicht. Das war nicht notwendig.
„Das geht schon wieder fort ...“, meinten die Leute.
Aber ihr Bein war blitzeblau. Ich habe noch nie so ein Bein gesehen. Wie das dunkel und schlecht aussah!
Und Ilse jammerte ständig: „Ach, wenn ich doch schon mein Buch zugemacht hätte! Ach, wenn ich doch schon mei` Buch zugemacht hätt`!“
Sie wollte sterben. Schon vor 15 Jahren wollte sie ihr Buch schließen und hatte es nicht geschafft.
Nachdem sich ihr Zustand nicht besserte, holte Emmi den Zeth’e Fritz, den alten Landarzt von Suhl. Der schaute sich die Sache an und sagte: „Da mach mer die Bei ab und hängen