breiter wirken. Ihre Stupsnase zeigte leicht zur Seite. Ihre Stimme quäkte. Irene trug genauso altmodische Klamotten wie ich. Nur war sie wesentlich stabiler gebaut.
„Was fällt dir ein!“ Ich konnte sie nicht ausstehen! Wenn ihre Eltern mit ihr geschimpft hatten, musste sie das an uns auslassen. Sie gab ihre Wut an den Nächsten weiter. Das fand ich gemein. „Du bist blöd! Du alte Ziege!“, wehrte ich mich.
„Du bist aus dem Heim! Das weiß man doch! Mit Heimkindern spielt man nicht!“ Sie verschluckte sich an ihrer eigenen Spucke. „Du hast nicht mal richtige Eltern! Die haben dich überhaupt nicht lieb!“
Ich suchte nach einer passenden Antwort, als sie weiter schrie: „Ätsch! Noch nicht mal Geschwister hast du!“
„Du doch auch nicht! Du blöde Kuh! Pf ...! Ich habe vielleicht mehr als du denkst! Das weißt du doch gar nicht!“, brüllte ich. Es sollten alle Kinder hören. So klein, wie ich war, aber schreien konnte ich.
Obwohl ein Fachlehrer zur Hofaufsicht neben uns stand, griff er nicht ein. Ich kämpfte mit den Tränen. Ich denke, dass die Lehrer Bescheid wussten. Nie sagten die was. Absolut nicht! Die waren wohl der Meinung: „Lass die in Ruhe! Das machen die unter sich aus!“
Als ich nach der Hofpause zur Handarbeitslehrerin ging, mich beschweren wollte, hieß es abweisend: „Alte Petze! Das macht man nicht! Wir wollen keine Petzen haben!“
Die Lehrerin war im mittleren Alter. Ich fand sie steinalt. Ich mochte die nicht.
Im Prinzip konnte ich alle Lehrer leiden. Den einen mehr, den anderen weniger. Zwei oder drei fand ich nett. Aber, dass ich gegen irgendjemand einen abgrundtiefen Hass empfand, dass ich mich vor ihnen fürchtete, kann ich nicht sagen. Ich ging gern in die Schule. Am nächsten Tag hatte ich alles vergessen. Und wenn es hieß, Blödsinn zu verzapfen, war ich mit von der Partie. Wenn sich eine Gruppe bildete, so dass man zusammenhalten musste, war ich dabei. Ich verriet keinen. Also, das konnte ich nicht! Und wenn jemand zu mir sagte, ich sei eine Petze, blieb das hängen. Ich dachte: „Na ja, sagst halt lieber nichts mehr!“
Ich ging jedenfalls dadurch nicht verloren. Ich wehrte mich! Trotzdem sprach ich nach dem Unterricht mit niemandem mehr. Das reichte für heute. Es war Zeit heimzugehen!
„Nach Hause?“, fragte ich mich, „Ist das mein Zuhause, mein richtiges Zuhause?“
Obwohl ich noch jung war, begriff ich, dass hier einiges nicht stimmte, dass man mir nicht alles erzählt hatte.
Ich grübelte und sah den Weg nicht mehr. Auch der alte Mann saß nicht mehr auf der Bank. Die wunderbaren Nelken dufteten nicht mehr. Selbst die Kinder vom Kindergarten beeindruckten mich nicht. Ich sah und hörte nichts. Irenes Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Den ganzen Heimweg spukten sie in meinem Gedächtnis: „ ... sind nicht deine Eltern, haben dich nicht lieb!“
Tränen liefen über Mund und Nase, tropften auf die Jacke. Den Rotz schmierte ich mit dem Handrücken bis zu den Ohren.
Auch den Nachbarsjungen vom Fuhrmeisterhaus konnte ich nicht mehr sehen. Immer wollte ich mit ihm spielen. Stets fragte ich ihn: „Kommst du morgen?“
„Ja, ja! Ich komme!“ und dann kam er nicht. Da war ich enttäuscht. Schön war das nicht. Das waren die ersten traurigen Kindheitserinnerungen. Ich begriff, dass nicht alles stimmte, was man mir erzählte.
Und nun wollte er mit mir spielen.
Jetzt hatte ich keine Zeit! Ich ließ ihn stehen.
„Du hast mich auch vergessen!“, rief ich ihm nach.
Zum ersten Mal in meinem kleinen Leben fühlte ich mich verloren. Eine grenzenlose Einsamkeit erfasste mich. Sie trieb mir das Wasser in die Augen. Ich wusste nicht mehr, was und wem ich glauben sollte. Wo gehörte ich hin! Wer war meine Mutter, wer mein Vater? Ich kam mir verlassen vor. Wo kam ich her? Warum hatte man mich weggegeben?
Die Fragen stürzten auf mich ein wie ein tosender Wasserfall. Meine Augen brannten. Meine Gedanken kreisten wirr durcheinander. Das war zu viel. Ich wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus.
Durfte ich in das Haus gehen? Das waren nicht meine Eltern. Aber wo sollte ich sonst hin?
Mit hängenden Schultern trottete ich den Feldweg entlang. Ich lief wie ferngesteuert auf das Haus meiner Kindheit zu.
Natürlich kam ich zu spät. Emmi hatte garantiert zehnmal auf die Uhr geguckt und geschimpft: „Schule Schluss! Stundenplan abgearbeitet! Zack! Zack! Wo bleibt Martina?“
Mutter erschien auf der Matte und wartete.
„Wo bleibst du?“, vorwurfsvoll schaute sie mir ins Gesicht. „Was ist los mit dir? Komm rein! Iss was!“
Auf dem Tisch stand ein Teller mit Gemüsesuppe. Möhren, Erbsen und Bohnen bauten wir im eigenen Garten an. Stundenlang schnippelten und pulten wir das Gemüse in verschiedene Wannen. Emmi weckte alles ein. Den ganzen Winter über aßen wir davon. Doch es schmeckte matschig. Sie würzte kaum. Dafür konnte sie hervorragend backen. Aber manche Dinge beherrschte sie nicht.
Trotzdem musste ich alles, was auf den Tisch kam, essen.
Mein Vater arbeitete in der Mechanisierung. Mittags lief er nach Hause. Das war seine Pause. Mutter kochte nicht nur für uns zwei, sondern auch für ihre Eltern. Erich erschien um 12 Uhr und ich bekam meine Mahlzeit gegen Zwei.
Doch heute wurde meine Suppe kalt. Ich stand in der Küche und blickte Emmi von unten nach oben an. Die Worte warf ich ihr an den Kopf: „Die haben gesagt, ihr seid nicht meine Eltern! Auf euch brauche ich gar nicht hören!“
Ihre Lippen wurden schmal: „Wer sagt das?“
„Die Kinder in der Schule!“ Ich schrie ihr das ins Gesicht. Doch auf ihre Reaktion war ich nicht gefasst. Ich hatte nichts falsch gemacht. Ihre Antwort verstand ich nicht.
Mit einem Handgriff packte sie mich, legte mich übers Knie. Ruckartig pflanzte sie sich auf den Schemel. Mit der bloßen Hand drosch sie auf meinen Hintern ein. Das zwiebelte. Den Schmerz spürte ich nicht. Daran erinnere ich mich kaum. Doch meine Enttäuschung werde ich nie vergessen. Warum schlug sie mich? Haben mich die Kinder belogen? Ich begriff nicht, weshalb Emmi mich verprügelte. Sie war nicht im Recht. Ich hatte nichts ausgefressen, nichts verbockt.
Das Schlimmste an der Sache war eigentlich die Wucht. Und, dass das Thema tabu war. Kein Wort hörte ich mehr. Ich stellte auch keine weiteren Fragen.
„Das bringt eh nix! Was soll ich da noch sagen?“
Wenn mich dann die anderen hänselten, wehrte ich mich nicht. Klar war ich traurig! Aber nicht so ...!
Die Welt brach erst zu Hause zusammen. Das war das Bitterste.
„Du hast nichts gesagt!“, meinte ich. Von dem Tag an begann ich zu grübeln. „Da stimmt was nicht! Ich muss gucken, was da los ist!“
Und wenn die Erwachsenen erzählten, horchte ich genauer hin. Da passte ich auf und quetschte hinterher die Verwandten aus. Doch die antworteten nur: „Frag deine Mutter! Frag deine Eltern! Die werden dir das schon sagen!“
Nix sagten die! Keiner redete mit mir! Neugierig belauschte ich sie. Von da an begann ich zu suchen. Ich stöberte in den Sachen meiner Leute. Jetzt entwickelte ich kriminelle Energie. Von diesem Moment an wählte ich die Opposition, die totale Opposition. Ich wehrte mich gegen alles, was ordentlich, was normal war. Ich begehrte auf.
Voller Wut dachte ich: „Die haben mich gehauen! Da gehste fort! Die werden sehen, was sie davon haben, wenn ich nicht mehr zurückkomme!“
Genau das, was man als Kind in dieser Situation denkt. Ich riss aus. Ich ließ die Hausaufgaben, die Hausarbeit, alle Pflichten hinter mir. Ich pfiff auf alles.
„Mir doch egal!“
Ich rannte den Kiesweg entlang, klingelte Marlies, meine Freundin, aus dem Haus. Gemeinsam stiegen wir den Buchenberg hinauf. Die Sonne schob die Wolkendecke zur Seite, schaute auf die Erde und leckte alles Wasser vom Boden. Endlich wärmte sie unsere Gesichter. Bereitwillig