Also aß Viviane ein gekochtes Ei und Haferbrei mit Ahornsirup und starrte grübelnd vor sich hin. Daneben Noeira, die grübelte jedoch nicht, weil sie damit beschäftigt war, Großmutter Mara nicht aus den Augen zu lassen, die wiederum so tat, als wäre sie weitsichtig.
Medan brach die erwartungsvolle Spannung, indem er vom Tisch aufstand, um auf den Dietrichsberg zu Amaturix zu gehen. Viviane hatte plötzlich zu Ende gegrübelt.
Sie sprang auf, strich alle Eierschalen zusammen und huschte nach draußen, um sie zerbröselt ins Hühnergehege zu werfen. Beschwingt rannte sie hinter Medan her und dirigierte ihn zur Pferdekoppel um.
Als er die vielen Pferde sah, seufzte er traurig und ließ die Schultern hängen.
„Meinst du, ich soll sie mir noch mal ansehen, Viviane? Denn wenn ich heute Abend wiederkomme, sind sie schon mit ihnen weggeritten und ich habe wieder das Nachsehen wie immer.“
Medan trat gegen einen Stein, dass er im hohen Bogen ins Gras hüpfte. Viviane tätschelte ihrem jüngsten Bruder beschwichtigend die Schulter.
„Eigentlich wollte ich dich um etwas bitten, Medan …“
„Ja, ja, das wollen sie alle!“ Er spuckte aus. „Medan, nimm die Sense, der Weinberg muss gemäht werden und bring vom Heimweg gleich noch Wasserflöhe mit, wir wollen rote Wolle machen, weil das Blau schon alle ist. Medan, bring feinen Flusssand, wir haben frischen Essig gemacht und wollen die Tontöpfe scheuern. Medan, wir müssen Leinsamen pressen, unsere Schweinsblasen an den Fenstern brauchen bei der Hitze eine Ölung. Medan, räucher die Bienen aus, wir wollen Honig schleudern …“ Er hob flehend die Hände zum Himmel. „So ging es die ganze Zeit, als ihr nicht da wart! Beim Geweih von Cernunnos! Es ist wirklich anstrengend, das Oberhaupt im Dorf zu sein.“
Viviane tätschelte ihn immer noch.
„Jetzt ist Vater wieder da und du hast ihn würdig vertreten. Dafür sind wir dir sehr dankbar und deshalb …“
„Ja, ja. Ich weiß“, seufzte er, steckte die Daumen in seinen Gürtel und schob den nächsten Stein in Schussposition. „Jetzt kann ich wieder hoch zu Amaturix und weiterlernen, damit ich ein guter Eisengießer und Schmied werde. Amaturix meinte sogar, ich könnte auch mal ein Druide des Pheryllt-Ordens werden, so wie er. Stell dir das mal vor, Viviane! Ich lerne, wie ich meinen Namen ins Schwert hinein schmieden kann, ohne die Klinge zu stempeln! Erze mischen für den perfekten Härtegrad! Aber dann müsste ich ja ganz lange und ganz weit weg – bis nach Irland! Das ist noch weiter als Place in Britannien, wo du warst! Kannst du dir das vorstellen, Viviane? Ich, der ich nicht mal ordentlich Griechisch kann, soll in die Fremde ziehen?!“
„Na, ja. Ich muss zugeben, dein Griechisch ist wirklich miserabel, es will einfach nicht in deinen Kopf hinein. Aber vielleicht musst du gar nicht weg, um ein Druide der Metallurgie zu werden. Amaturix kann dich doch ausbilden! Ich und Amaturix machen nämlich eine Schule fürs Drachenschwert auf. Jeder, der ein Druide ist, kann da eintreten. Wir nehmen natürlich alle Sparten der Druiden, egal ob Arzt, Metallurge, Philosoph, Richter, Astronom, Barde oder Seher … Aber ich schätze mal, so viele werden es trotzdem nicht werden. Wer will schon als Druide dem Schwert verpflichtet sein. Druiden haben doch so ein schönes und sicheres Leben. Keine Abgaben, kein Kriegsdienst …“
Medan japste nach Luft und schnappte ihre Finger, die mit Aufzählen beschäftigt waren.
„Und das sagst du mir erst jetzt?! Das ist ja perfekt! Besser geht’s gar nicht mehr! Jetzt lauf ich ganz schnell hoch zum Dietrichsberg und werde der beste Schüler, den Amaturix je gehabt hat und bei dir lerne ich die Kampfkunst und dann bin ich Druide des Pheryllt-Ordens und gehöre zum Bund des Drachenschwertes. Beim Geweih von Cernunnos, ich werde ein Elitekrieger! All meine Wünsche … all meine Träume! Ich muss sofort Sünna mein Opfergeschenk schmieden! Vielleicht zeigt mir Amaturix das Kunststück mit dem Namenszug einlegen jetzt schon, denn später muss ich das ja mit zwei Drachen können, die sich um den Baum des Lebens winden!“
Medan umarmte Viviane und lief los, doch sie hielt ihn am Gürtel fest, was ihn zu einer Art Verbeugung mit gekeuchtem „He!?“ veranlasste.
„Du brauchst dich nicht so zu beeilen, Medan.“
Er versuchte, loszukommen und stemmte sich gegen sie, da ließ Viviane abrupt los und er konnte gerade noch sein Gleichgewicht halten.
„Ich habe keine Zeit für Kinderkram, Viviane!“
„Warte noch einen Augenblick, ich will dir nur was sagen.“
„Später! Ich muss mich beeilen! Ich muss doch schnell mit Amaturix alleine reden und außerdem will ich ab jetzt immer der Erste sein!“
„Keine Sorge, das wirst du.“ Viviane zeigte auf die Pferde. „Such dir eins aus!“
„Was?“
„Na, ein Pferd! Such dir eins aus! Du kannst jeden Tag ein anderes nehmen, schließlich brauchen sie Bewegung.“
Medan beäugte Viviane, als könne er plötzlich nicht nur Griechisch, sondern auch seine eigene Muttersprache nicht mehr verstehen. Dann lachte er auf, umarmte sie stürmisch und sprang gekonnt über das Gatter. Strahlend nahm er sich ein Halfter vom Weidengeflecht und ging damit zielstrebig auf eine schöne braune Stute zu. Beiläufig bückte er sich und warf einen Stein exakt in die Mitte des Weges. Viviane nickte anerkennend und Medan verbeugte sich lachend.
„Viviane, du bist die beste Schwester, die mir Mutter und Vater schenken konnten!“, rief er und warf das Zaumzeug über die lange Mähne der Stute.
Viviane machte das Tor auf und ließ ihn hinaus reiten. Medan winkte ihr glücklich zu und schnalzte mit der Zunge. Er ließ es langsam angehen, streckte seinen Rücken durch und saß so entspannt obenauf, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes getan als zu reiten. Die Stute gehorchte ihm willig, obwohl sie von ihrem Vorbesitzer einen ganz anderen Reitstil gewöhnt war.
Im Hinterherwinken sah Viviane plötzlich wieder ihren Speer fliegen, der durch den Schild des Unglücklichen schlug und sich in sein Auge bohrte …
Als sie wieder beim Langhaus angekommen war, schüttelte sie immer noch traurig den Kopf und wischte sich die Hände an ihrem frischen Überkleid ab, obwohl sie gar nicht blutverschmiert waren.
„So, Viviane. Jetzt wird aber nicht geguckt wie sieben Tage Regenwetter!“, trällerte Großmutter Mara, hielt ihr einen Tonkrug hin und schmunzelte verschwörerisch.
Sofort richtete Viviane ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart. Zögernd nahm sie den Krug, zog den Pfropfen ab und lugte hinein. Sie stutzte und schnupperte.
„Das ist ja Himbeersaft, ganz gemeiner Himbeersaft!“ Ungläubig sah sie Großmutter Mara an und schielte übertrieben misstrauisch in den Krug. „Und da ist nichts drin? Nicht die kleinste Droge?“ Sie sog noch einmal argwöhnisch Luft ein, um selbst die winzigste Nuance zu wittern, die nicht wie Himbeere roch.
Großmutter Mara stemmte entrüstet die Hände in die Hüften.
„Heiße ich Flora oder Viviane?! Ich bin Mara, die Töpferin, und kein Giftmischer! Schon lange nicht mehr in dich gegangen, Viviane, was?! Also: Nein. Natürlich ist da kein Gift drin! Ich vergreif mich doch nicht am König! Die Götter würden mich allesamt verdammen! Und deine Mutter hätte mir auch garantiert keine, wenn auch noch so schwache, Droge gegeben.“ Mara schüttelte vehement den Kopf und tätschelte Vivianes Wange. „Vertrau deiner alten Großmutter! Bring deine Argumente vor und der König wird dir deine Wünsche erfüllen.“
Viviane kräuselte zweifelnd die Stirn, drückte aber den Pfropfen fest in den Krug und nickte.
„Das werde ich, Großmutter, und verzeih mein Misstrauen. Da sind wohl die Pferde mit mir durchgegangen. Also, dann mal los! Auf ins Gefecht der Worte! Ist Hanibu fertig?“
„Die ist schon mit den Kindern zur kleinen Weide.“
„Gut. Bis nachher!“
Viviane ging zur kleinsten Wiese, auf der nur Dina und Arion grasten. Sie waren schon aufgezäumt und Hanibu lehnte