Petra Wagner

Der mondhelle Pfad


Скачать книгу

Bauer plötzlich als Krieger fungieren müsste oder ein König sein Organisationstalent beim Schafe- und Ziegenhüten vergeuden täte! Das wäre doch absurd! Das wäre …“

      Viviane suchte nach einem passenden Vergleich.

      „Das wäre so verkehrt, als wenn ich Arion tragen täte statt er mich.“

      Hanibu kicherte und Viviane fügte noch hinzu: „So etwas nennt man Hierarchie, Staatsgefüge, was bedeutet: Jeder fügt sich in die Gemeinschaft und nutzt ihr mit seinen Talenten.“

      „Ich glaube, ich verstehe, was du meinst, Viviane. Du bist ja das beste Beispiel: Die Tochter eines Schmieds und einer Kräuterfrau kann zwar keine Sterne berechnen, aber dafür hat sie ein höchst seltenes Talent, das aus ihr eine Ärztin und Kriegerin macht und sie so ganz vortrefflich ihrem Clan nützt. Aber wie ist dieses … Staatsgefüge entstanden? Ich meine: Warum ist es gerade so und nicht anders?“

      Viviane blieb stehen und sah Hanibu erneut seltsam an. Die verzog verlegen das Gesicht und lächelte entschuldigend.

      „Bin ich wieder die Erste, die das wissen will?“

      Viviane lachte und sah sich um.

      „Ich amüsiere mich immer prächtig, wenn du in einem Kauderwelsch aus drei Sprachen sprichst“, erklärte sie Hanibu und schob sie vor sich her. „Aber um deine Frage zu beantworten: Ja, du bist wieder die Erste. Das liegt vielleicht daran, dass es für uns eben schon immer so war. Du kommst aus einem anderen Land. Da ist es nur verständlich, dass dich so etwas interessiert. Mir ist auch gerade eingefallen, wie ich dir das am besten erklären kann. Guck!“

      Viviane winkte zwei junge Maiden heran, die gerade mit Holzeimern voller Wasser an ihnen vorbei laufen wollten und sich nebenbei tief verbeugten. Sie erklärte ihnen, was sie vorhatte und fragte, ob sie ihr dafür die Wassereimer zur Verfügung stellen wollten. Die beiden jungen Mädchen verstanden zwar nicht sogleich den Zusammenhang, waren aber sehr erpicht darauf zu sehen, wie man Hierarchie mit Wasser erklären konnte und hockten sich neben Hanibu vor die Eimer.

      Schmunzelnd tauchte Viviane die Hand in einen der Eimer, spreizte die Finger und ließ das Wasser hindurch rinnen.

      „Das sind die Menschen, wenn jeder für sich arbeitet.“

      Viviane deutete auf ihre nasse Hand.

      „Es bleibt zwar was hängen, aber man muss viel zu oft schöpfen, wenn man seinen Durst löschen will. Da kommt der König und sagt ‚Schart euch um mich und ich werde euch leiten, zusammen schaffen wir alles, was unserem Vater Himmel zur Ehre gereicht und die Götter werden uns gnädig sein.‘ Also hören die Leute auf ihren König und siehe da …“

      Viviane schloss langsam ihre gespreizten Finger, tauchte die hohle Hand ein und deutete auf das Wasser, das sich darin gesammelt hatte.

      „Wenn man sich etwas erschafft, dann muss man es natürlich auch schützen. Sonst nutzt ein anderer die Gelegenheit und denkt sich ‚Ach! Ich warte, bis die Schwächlinge ihre Ernte einfahren‘ und dann schwupps …“

      Viviane holte aus und gab ihrer eigenen Hand einen kräftigen Schlag. Das Wasser schwappte heraus und spritzte in alle Richtungen davon. Ihre drei Zuschauer gegenüber quietschten.

      „Wie ihr seht … Verteidigung ist wichtig und dafür braucht die Gemeinschaft Krieger. Sie müssen immer – ich betone immer – kampfbereit sein und beschützen uns mit ihrem Leben. Für diesen Dienst sollten ein paar Abgaben gerechtfertigt sein, denke ich.“

      Viviane nahm ihr Horn aus der Gürtelschlaufe.

      „Dann gibt es einige Menschen, die sind schlauer als die anderen. Sie beobachten alles von Mutter Erde, die Gestirne von Vater Himmel, die Allmacht … Sie achten die Götter und hüten das Wissen, das sie uns vor langer Zeit gebracht haben. Sie tun den Menschen viel Gutes.“

      Hanibu nickte verstehend, eine der jungen Maiden zeigte auf das Horn.

      „Da passt natürlich noch mehr rein, als in die hohle Hand und einfacher geht es auch.“

      „Ganz recht, junge Maid“, lobte Viviane und bot Hanibu das Horn zum Trinken an.

      Als sie danach greifen wollte, zog sie schnell die Hand zurück. Hanibu sah sie verständnislos an, bis ein Lächeln ihr Gesicht erhellte.

      „Aha! Jetzt verstehe ich! Damit die Druiden das alles leisten können, müssen sie natürlich auch einen Teil von den Abgaben bekommen. Sonst hat man am falschen Ende gespart und bekommt sein Horn nicht voll.“

      „Genau, Hanibu. Nun hast du das System begriffen! Und meine anderen aufmerksamen Zuhörer? Wie steht es mit euch?“

      Die beiden jungen Mädchen nickten eifrig. Viviane erklärte ihnen, dass die Lektion nun beendet sei und fragte, ob sie ihr noch einen Schluck Wasser gönnten, was die beiden zum Strahlen brachte. Viviane bückte sich ziemlich umständlich und konnte sich nicht entscheiden, aus welchem Eimer sie denn nun das Wasser nehmen sollte. Endlich hatte sie ihr Horn voll und die beiden Mädchen gingen mit neuem Elan ihrer Wege. Mit einer Hand im Rücken drehte sich Viviane zu Hanibu um und prostete ihr zu.

      „Vorhin diente es einem anderen Zweck, aber ich lasse dich trotzdem nicht mehr aus meinem Horn trinken.“

      „Aber das hast du doch sonst auch immer gemacht!?“

      Hanibus Augen begannen wieder verdächtig zu glänzen, doch Viviane übersah es diesmal, trank genüsslich ihr Horn leer und steckte es umständlich in die Schlaufe zurück. Danach schloss sie die Schnallen an ihrer prall gefüllten Arzttasche. Hanibu leckte sich derweil die trockenen Lippen. Sehnsüchtig pendelte ihr Blick zwischen den entschwindenden Wassereimern und Vivianes Horn. Ihre Augen wurden abgelenkt und weiteten sich überrascht, als Viviane ein wunderschön verziertes Horn in die Höhe hielt.

      „Du brauchst mein Horn nicht mehr. Du hast jetzt ein eigenes. Und hier …“ Sie hob ein reich verziertes Lederteil hoch. „ … hab ich auch noch die passende Gürtelschlaufe dazu.“

      Hanibu blinzelte hektisch.

      „Viviane! Das ist … das ist …!“

      „Für dich, ganz recht! Hab ich aus meiner Kriegsbeute ausgesucht. Gefällt es dir nicht?“ Viviane beugte sich zu Hanibu und sah ihr von unten her in die Augen. „Du brauchst doch nicht gleich weinen! Ich habe noch mehr davon, da wählst du dir nachher selbst eins aus. Das hier hat mir bloß am besten gefallen.“

      Hanibu schniefte, schüttelte den Kopf und wischte sich mit einem Zipfel ihres Überkleides die Augen. Dann krächzte sie: „Ist es dir gar nicht aufgefallen?“

      „Was?! Ist doch ein ordentliches, solides Trinkhorn! Absolut auslaufsicher, wenn man es richtig rum hält.“

      Viviane betrachtete das Horn von unten und drehte es prüfend zwischen den Fingern. Hanibu räusperte sich und deutete zitternd darauf.

      „Es ist innen drin mit Silber ausgegossen und hat außen herum dünne Goldfäden im Schliff!“ Hanibus Stimmlage wurde genauso dünn wie die Goldfäden und schraubte sich, passend zu den Verzierungen, immer höher. „Die Gürtelschlaufe hat sogar ein punziertes Knotenmuster und der Feststellknopf ist ein riesiger Bernstein.“

      Wenn Hanibu jetzt weiter piepsen täte, bekäme der Bernstein einen Sprung und sie Atemnot. Daher stellte Viviane ihre Ohren auf Durchzug und fächelte ihr schnell den ankommenden Luftstrom zu.

      „Ach so! Doch, doch! Ist mir alles aufgefallen! Deshalb hatte es mir ja so gut gefallen. Ich hab auch ein weißes, was innen vergoldet ist und außen mit Perlmuttintarsien, aber das fand ich dann doch zu protzig. Und die Gürtelschlaufe dazu erst noch! Am oberprotzigsten!“

      Viviane winkte ab. „Wenn du das lieber haben willst …“

      Hanibu schluchzte: „Ich bin doch nur eine Sklavin, Viviane! Hast du das vergessen!? Ich bin nicht würdig …“

      „Ach. Jetzt weiß ich, woher der Wind weht! Einen kurzen Augenblick dachte ich wirklich, ich stehe auf deinen Zehen.“