Dieter Janz

Schatten über Adlig-Linkunen


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die sich im schnellen Galopp auf sie zu bewegten, offensichtlich, um zum Gut Linkunen zu gelangen. Anna konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Sie kamen in rasantem Tempo näher und kurz bevor sie Anna erreicht hatten, bemerkte diese, dass die drei Gestalten vermummt waren. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun und verspürte den Drang, in den Wald zu Maria zu flüchten, blieb jedoch wie gelähmt auf der Stelle stehen. Die Gruppe erreichte sie. Anna öffnete den Mund und wollte schreien, brachte aber keinen Ton hervor. Zwei der Reiter drängten sie in ihre Mitte und einer von den beiden schnappte sie an den Armen und zog sie auf sein Pferd, als sei sie nur eine Feder. Dann machten sie auf der Stelle kehrt und galoppierten in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Jetzt erst gelang es Anna zu schreien, keine Worte, kein „Hilfe“, sondern nur einen langen, schrillen, Schrei.

      Inzwischen war Maria aus dem Wald gerannt gekommen. Sie hatte sämtliche Pilze fallen gelassen, ihre Röcke gerafft und lief, sinnloserweise, den davoneilenden Reitern nach, ständig „Anna! Anna!“ rufend. Diese bemerkten Maria überhaupt nicht und waren schnell verschwunden. Maria blieb stehen, blickte nur fassungslos in die Richtung, in der die drei Gestalten mit Anna von dannen geritten waren. Als sie begriff was passiert war, nahm sie ihre Beine in die Hand und rannte so schnell wie es ging nach Linkunen.

      Die drei Gestalten waren etwa zehn Minuten ununterbrochen mit Anna im vollen Galopp geritten, als sie plötzlich anhielten. Anna versuchte sich verzweifelt zu wehren, zu treten, wild um sich zu schlagen, doch die drei Männer hatten sie schnell fest im Griff. Sie fesselten sie an Armen und Beinen und verbanden ihr Augen und Mund. Dann saßen sie wieder auf. Anna wurde wie ein Sack Mehl von einem der Reiter über den Rücken des Pferdes gelegt. Der Ritt ging nun in demselben Tempo weiter wie zuvor. Wie lange sie unterwegs waren, konnte Anna nicht beurteilen; ihr war, als ob sie zwischendurch bewusstlos wurde. Schließlich stoppte die Gruppe. Anna wurde vom Pferd gehoben, sie war inzwischen völlig widerstandslos. Da sie an den Füßen gefesselt war, musste sie getragen werden. Nach ein paar Metern hörte sie, wie eine knarrende Tür geöffnet wurde und sie vermutete, dass sie einen Raum betraten. Jetzt wurde Anna auf einen Sessel gesetzt. Seltsamerweise geschah dies alles recht behutsam. Nach dem abenteuerlichen und alles andere als sanften Ritt, hatte sie eine solche Behandlung nicht erwartet. Ihre Entführer sprachen kein einziges Wort. Man nahm ihr zunächst die Augenbinde ab und Anna fand sich in einem Raum wieder, der sich offenbar in einem Holzhaus oder einer großen Holzhütte befand. Er war spärlich, aber nicht unbedingt ungemütlich eingerichtet. Sie saß auf einem abgeschabten, grauen Ohrensessel, der aber recht bequem war. Dieser befand sich ziemlich in der Mitte des Raumes, mit dem Rücken zu der Tür, durch die sie hereingekommen waren. An der Wand gegenüber stand ein Herd, der allerdings nicht befeuert wurde; etwas seitlich davon befand sich eine weitere verschlossene Tür. Die beiden anderen Wände waren mit jeweils zwei kleinen Fenstern versehen, die nicht mit Gardinen behangen oder Läden verschlossen waren, so dass Anna erkennen konnte, dass draußen inzwischen tiefe Dunkelheit herrschte. Ansonsten befanden sich noch ein robuster Holztisch mit vier Stühlen und eine Chaiselongue, mit einer Wolldecke darauf, im Raum.

      Über dem Herd hing ein Regal mit diversem metallenen Koch- und Essgeschirr, Löffeln aus Holz und Messern. Ihre drei Entführer waren noch immer vermummt und stumm. Anna bemerkte, dass sie mit Pistolen und Messern bewaffnet waren, von oben bis unten schwarz gekleidet, ihre Kapuzen enthielten nur an den Augen, Nasen und Mündern kleine Schlitze. Einer von ihnen machte sich jetzt am Herd zu schaffen und entfachte ein Feuer, das laut zu knistern anfing. Ein anderer bereitete einen Wasserkessel vor, den er auf den Herd stellte. Der Dritte stand ihr schweigend gegenüber, etwas breitbeinig, so dass ihr sofort klar wurde: jeglicher Versuch, etwas ihrerseits zu unternehmen, wäre zwecklos. Anna litt furchtbare Angst. Selbst wenn sie hätte schreien können, es hätte nichts genutzt. Wahrscheinlich hielten sie sich hier an einem völlig einsamen Ort auf, mitten in den masurischen Wäldern, fern ab von jeglicher menschlichen Besiedlung. Plötzlich fing sie an zu zittern, was ihr anfangs zu unterdrücken gelang, brach jetzt völlig aus ihr heraus. Ihr Bewacher trat auf sie zu; sie geriet in Panik, hatte keine Möglichkeit, ihr Gesicht mit den gefesselten Händen vor möglichen Schlägen zu schützen. Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Die vermummte Gestalt legte sanft die rechte Hand auf ihren Kopf und flüsterte: „Sei ruhig, sei ruhig! Dir wird nichts geschehen.“ Anna starrte ihn an, direkt in die von den Schlitzen freigegebenen Augen. Und dieser Blick war keineswegs feindselig, man hätte fast meinen können, diese Augen lächelten sie an! So grotesk es in dieser Situation auch war, Anna beruhigte sich, das Zittern ließ nach. Noch einen Augenblick lang sahen sie sich an, dann zückte die Gestalt ein Messer, aber eher langsam und bedächtig, als um zu demonstrieren, dass keine Gefahr bestand, und zerschnitt Annas Hand- und Fußfesseln. Unwillkürlich rieb sie sich ihre Handgelenke, obwohl diese nicht schmerzten. Die anderen beiden Männer waren damit beschäftigt, irgendetwas Essbares zuzubereiten. Der eine unterbrach seine Tätigkeit und kam zu Anna, die nun ohne Fesseln zusammengesunken in dem Sessel saß. Er sprach sehr leise und mit einem russischen Akzent: „Hör zu Maria, dir wird nichts angetan, aber du musst tun, was wir verlangen. Das ist nicht viel. Du musst einfach nur eine Weile hier bleiben, bis wir dich wieder fortbringen; keine Fragen stellen, keinen Aufstand machen. Du wirst eine Zeit lang hier leben, schlafen und essen. Dann wirst du wieder frei sein. Nicht schreien, nicht rufen, nur das Nötigste reden. Ist das klar?“ Anna wollte gerade sagen „Aber ich bin nicht Maria, ich bin Anna!“, als sie erkannte, dass das die Situation nur komplizierter machen konnte. Eine Verwechslung! Man hatte Maria entführen wollen und sie erwischt. Die drei Gestalten glaubten, sie hätten die Tochter der Herrschaften Kokies in ihrer Gewalt! Wenn sie sich jetzt als Anna Doepius zu erkennen gegeben hätte, blieb die Möglichkeit, dass sie ihr nicht glaubten, oder dass sie diese als völlig nutzlos betrachteten. Nicht auszudenken, was im zweiten Fall geschehen würde! Nutzlos in den Augen von skrupellosen Entführern zu sein, bedeutete zweifellos den sicheren Tod. Also widersprach Anna nicht. Sie nickte nur. Sie hatte Tränen in den Augen und einen Kloß im Hals. Das alles war zu viel für sie. Ihr bisheriges Leben war recht sorglos verlaufen; sie liebte ihre Eltern und fühlte sich von ihren Eltern geliebt. Sie hatte sich immer geborgen und beschützt gefühlt. Sie hatte Maria und Hannes als Freunde, ja, die Herrschaften Kokies erkannte sie jetzt als liebevolle Angehörige. All das war jetzt weit, sehr weit weg. Anna brach in Tränen aus. Nun hielt auch die dritte Gestalt inne in ihren Tätigkeiten am Herd. Außer dem Schluchzen und dem Knistern des Feuers im Herd war nichts in dem Raum zu hören. Da kam wieder die erste vermummte Gestalt, legte die Hand auf ihren Kopf und sagte: „Frau, beruhige dich, wir werden dir nichts tun, lass gut sein!“ Anna wurde etwas ruhiger. Plötzlich drehte sich der Geselle, der bisher am Herd zugange war, um, schmiss das in seiner Hand befindliche metallene Geschirr zu Boden und schrie: „Ich halte das nicht mehr aus!“, öffnete die Tür neben dem Herd und verschwand dahinter.

      So schnell war Maria noch nie in ihrem Leben gerannt. Weder ihre Reifröcke noch die fürs Rennen völlig ungeeigneten Schuhe hinderten sie daran. Endlich erreichte sie das Haus des Gutsverwalters.

      Otto Goldfeld war schon Gutsverwalter zu Zeiten der Eltern von Wilhelm-Antonius Kokies. Er war das, was man am besten mit einer „treuen Seele“ beschreibt, dazu ein freundlicher liebenswürdiger Herr. Er bewohnte das Verwalterhaus mit einer Magd, die ihm und einem gutmütigen Jagdhund, einem ebenfalls betagten Zeitgenossen, der längst nicht mehr zur Jagd taugte, den Haushalt bestellte. Goldfeld war schon seit Jahren Witwer. Trotz seines hohen Alters konnten Kokies sich auf ihn als perfekten und zuverlässigen Gutsverwalter hundertprozentig verlassen. Seine altersbedingten körperlichen Gebrechen kompensierte er völlig durch seinen hellwachen Verstand. Auf den ersten Blick wirkte er durchaus jünger, als er tatsächlich war; er war immer noch eine stattliche Erscheinung, relativ groß, mit schon grauem, aber dennoch vollem, Haar, einem gepflegten Kaiser-Wilhelm Bart und stets einem gutmütigen Lächeln auf den Lippen. Letzteres verging ihm aber, als er Maria auf das Haus zurennen sah. Ihre Frisur war völlig aufgelöst, ihre Kleidung unordentlich. Er stand in der Haustür und Maria fiel wie ein Kind in seine Arme. Für sie war Goldfeld weniger ein Angestellter ihres Vaters; sie sah in ihm eher einen Ersatz-Großvater, weshalb sie ihn auch Opa Otto nannte. Ihre eigenen Großeltern, sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits, hatte sie kaum gekannt, sie waren verstorben, als sie noch ein kleines Kind war.

      Außer Atem brachte Maria in den Armen von Goldfeld kaum ein Wort heraus, sie stammelte nur: „Anna, Anna…“ Er glaubte