Dieter Janz

Schatten über Adlig-Linkunen


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ist mit Anna geschehen, Maria? Nun beruhige dich erst einmal, komm ins Haus!“ Vorsichtig führte er Maria in seine Wohnstube, wo in einem Kachelofen ein Feuer knisterte. Inzwischen war Erna, die Magd, aus der Küche gekommen und verfolgte das Geschehen mit sichtlichem Erstaunen, immer wieder „Oh Gottje, oh Gottje, das gnädige Fräuleinje!“ rufend, ohne überhaupt zu wissen, worum es ging.

      Nachdem Goldfeld Maria vorsichtig auf einem bequemen Sessel platziert hatte, fand sie langsam wieder ihre Fassung.

      „Maria, was ist geschehen, hatte Anna einen Unfall?“, fragte er erneut.

      „Nein, sie ist entführt worden“, antwortete sie, wobei ihr bei ihren eigenen Worten ein Schauer über den Rücken lief. Otto Goldfeld verstand zunächst nicht, was sie meinte.

      Wenn eine junge Frau zur damaligen Zeit entführt wurde, war das meistens eine vornehme Umschreibung dafür, dass sie durchgebrannt war, meist mit einem Liebhaber, den die Eltern missbilligten. Er konnte aber diesbezüglich keinen Zusammenhang mit Anna herstellen, vor allem nicht im Rahmen eines Waldspazierganges mit ihrer Freundin. Und die Tatsache, dass Maria völlig aufgelöst bei ihm angekommen war, ließ auf ein schlimmes Ereignis schließen.

      Er wiederholte sich: „Maria, was um Himmels Willen ist geschehen?“. Endlich war Maria so weit beruhigt, dass sie einigermaßen zusammenhängend erzählen konnte, was sich ereignet hatte. Jetzt erkannte er sofort den Ernst der Lage. Er sagte zu Erna, die in der Zimmertür stand und mit weit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen zugehört hatte: „Lauf so schnell du kannst zu Peer und richte ihm aus, er soll mit allen Wildhütern, derer er so schnell wie möglich habhaft werden kann, sofort zum Herrenhaus kommen. Ich werde auch dort sein. Verlier keine Zeit, lauf los!“ Erna drehte sich auf dem Absatz um und eilte davon.

      Bei Peer handelte es sich um den Wildhüter Nummer Eins des Gutes Linkunen, gewissermaßen den Chef-Wildhüter.

      Goldfeld wandte sich Maria zu: „Wir beide gehen jetzt zu deinen Eltern, sie machen sich bestimmt schon Sorgen. Wir müssen auch Friedrich und Berta unterrichten, das wird nicht leicht sein. Fühlst du dich in der Lage, die paar Meter zu laufen oder soll ich eine Kutsche anspannen?“

      „Natürlich schaffe ich das!“, antwortete Maria und wollte noch hinzufügen: „Die lächerlichen zwei- bis dreihundert Meter bis zum Herrenhaus! Ich bin die ganze Strecke durch den Wald gerannt!“ Aber sie unterließ es; Opa Otto hatte es gut gemeint und war besorgt um sie, die Worte hätten ihn vielleicht gekränkt. Sie sagte auch nicht, dass sie ja gleich aus dem Wald nach Hause hätte rennen können, sein Haus aber das Nächstliegende war und sie deshalb sofort zu ihm gekommen war. Also machten sie sich auf den Weg. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Nach ein paar Metern ergriff Maria Ottos Arm und lehnte sich an ihn. Jetzt merkte sie, dass seine Frage, ob sie es schaffen würde, gar nicht so unberechtigt war. Die letzten Meter kamen ihr schwerer vor als die ganze Strecke durch den Wald.

      Das Herrenhaus war hell erleuchtet, das Hauptportal war nicht verschlossen, so dass sie, ohne die Glocke betätigen zu müssen, eintreten konnten. Im Vestibül hielt sich niemand auf, so dass ihre Ankunft auch von niemandem bemerkt wurde. Maria schlug sofort den Weg zum Arbeitszimmer ihres Vaters ein, in der Hoffnung, ihn dort anzutreffen. Goldfeld folgte ihr. Dort angekommen öffnete sie die Tür ohne anzuklopfen. Dies hätte sich Goldfeld nie gewagt, obwohl die Regeln auf Gut Adlig-Linkunen bei weitem nicht so streng waren wie auf anderen Gütern. Unter anderen Umständen hätte Maria auch angeklopft, aber jetzt verschwendete sie keinen Gedanken daran. Tatsächlich hielt sich Wilhelm-Antonius in seinem Zimmer auf und, was relativ selten geschah, auch Friederike, ihre Mutter. Als Maria eintrat, riefen ihre Eltern fast wie aus einem Munde: „Gott sei Dank!“ Und ihre Mutter fügte hinzu: „Warum kommt ihr so spät nach Hause, das Personal hat sich sogar schon gesorgt, insbesondere natürlich Friedrich und Berta!“

      Erst jetzt bemerkten sie Otto Goldfeld, der nun auch das Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Aus der Situation heraus war deutlich zu erkennen, dass etwas passiert war. Und nun hörte man von draußen das Klappern vieler Pferdehufe und Hundegebell.

      „N’Abend“, sagte Goldfeld etwas verlegen, während Herr und Frau Kokies ihn anstarrten. „Maria wird Ihnen erzählen, was passiert ist. Wenn die Herrschaften mich bitte entschuldigen wollen. Draußen haben sich die Wildhüter versammelt und ich muss Anweisungen geben. Es wäre auch ratsam, wenn sie nach dem Butler und Berta schicken würden. Es geht um Anna.“

      Friederike spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Sie suchte sich einen Stuhl, Wilhelm-Antonius schaute aus dem Fenster und erblickte etwa ein halbes dutzend Wildhüter zu Pferde mit Fackeln in den Händen, die Gewehre geschultert, mit ihren Jagdhunden. Maria sah aus, als ob sie den Teufel gesehen hätte. Ihre Aufmachung entsprach ganz und gar nicht mehr dem Zustand, als sie mit Anna von zuhause aufgebrochen waren. Ihr Vater ging zu ihr und führte sie zu seinem Ohrensessel, einem mächtigen Möbelstück im Arbeitszimmer, damit auch sie sich setzen konnte. Er war auch derjenige, der zuerst die Sprache wieder fand.

      „Was ist euch zugestoßen, Maria, seid ihr überfallen worden?“ Maria nickte mit dem Kopf und fing an, die gesamte Geschichte zu erzählen. Als er hörte, dass Anna die Hauptbetroffene war, sagte er: „Warte einen Moment, wir wollen Friedrich holen.“ Er läutete nach dem Butler und ein paar Minuten später erschien er im Arbeitszimmer.

      Wohlahnend, dass Anna etwas zugestoßen sein könnte, kam Berta gleich mit. Als alle im Zimmer versammelt waren, sprach Wilhelm-Antonius zum Butler und dessen Frau Berta gewandt: „Friedrich, Berta, wie wir so eben erfahren haben, sind Anna und Maria von drei unbekannten Reitern überfallen worden. Unglücklicherweise haben sie dabei Anna entführt. Maria wird uns jetzt die Einzelheiten berichten.“ Mit den letzten Worten drehte er sich zu seiner Tochter um, damit sie dies unglückselige Erlebnis erzählen konnte. Maria hatte sich inzwischen wieder soweit im Griff, dass sie ohne hysterische Elemente und relativ langsam sprechen konnte. Während ihrer Rede fing Berta leise an zu schluchzen und auch Friedrich musste mit den Tränen kämpfen. Friederike stand auf und ging zu ihrer Zofe, die auf einem Stuhl nahe ihrem saß und legte vorsichtig einen Arm auf Bertas Schulter. Alle gesellschaftlichen Regeln in den Wind schießend, schmiegte diese sich an Friederike und aus dem leisen Schluchzen wurde ein lautes Weinen. Als Maria ihre Ausführungen beendet hatte, herrschte ein paar Minuten betretenes Schweigen. Nur Bertas Weinen erfüllte den Raum. Gutsherr Kokies sagte schließlich: „Wir werden alles Erdenkliche tun, um Anna zu finden und zu befreien. Ich denke, sie ist wohlauf.“ Woher er die letzte Vermutung nahm, erklärte er nicht. Es war wohl mehr der Versuch eines Trostes denn eine ehrliche Überzeugung. Dann fuhr er fort: „Goldfeld, zuverlässig wie immer, hat offenbar einige Wildhüter mobilisiert und sie durchkämmen den Wald mit Hunden. Des Weiteren überlege ich mir, ob wir nicht morgen die Kriminalpolizei hinzuziehen. Es handelt sich immerhin um ein schwerwiegendes Verbrechen und wenn die Täter gefasst sind, müssen sie zweifellos einem Gericht zugeführt und verurteilt werden!“

      In der Tat gab es in der nächstgelegenen Kleinstadt Hirschburg eine kriminalpolizeiliche Abteilung. Sie wurde durch einen Polizeileutnant namens Peter Bouffier und dessen Assistenten Gustav Hinrich vertreten. Bouffier war Hugenotten-Nachkomme und wurde deshalb hin und wieder als „der Franzmann“ in der Bevölkerung bezeichnet. Er hatte in der preußischen Armee gedient, aber das Militärische entsprach nicht seinem Wesen und eine glänzende Offizierskarriere war für ihn kaum zu erwarten. Auch die Tatsache, dass er keinen Adelstitel führte, wirkte sich eher hinderlich aus. Die entscheidende Rolle spielte aber die Tatsache, dass er sich in eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen verliebt hatte. Als preußischer Offizier der unteren Dienstgrade bedürfte es für eine Heirat der Genehmigung der Heeresleitung, dies wiederum war von der finanziellen Situation abhängig. Ein preußischer Leutnant genoss durchaus ein hohes gesellschaftliches Ansehen, seine Einkünfte standen aber keinesfalls im Verhältnis zu dieser sozialen Achtung. Mit seinem Gehalt war er kaum in der Lage, einen angemessenen Haushalt mit Dienstboten zu unterhalten. Wenn also weder er noch seine zukünftige Frau über private Mittel verfügten, hatte er kaum eine Chance, dass eine Eheschließung genehmigt wurde. Andererseits konnte er ehrenhaft aus der Armee entlassen werden und hatte dann Anspruch auf eine Stellung als preußischer Beamter und diese Möglichkeit nahm er in Anspruch. So kam er auf den Posten des Polizeileutnants im