nichts gewusst hatten.
Während des Gesprächs teilte Maria mit: „Übrigens habe ich ein Telegramm nach Berlin an Hannes schicken lassen und ihn gebeten, nach Linkunen zu kommen. Er müsste also in den nächsten Tagen hier ankommen. Wenn er das Telegramm gestern noch erhalten hat, könnte er heute schon gegen Abend hier sein.“
„Das war sehr gut, Maria“, antwortete ihre Mutter. „Daran habe ich in all der Aufregung überhaupt nicht gedacht!“
„Aber ich …“
Plötzlich stand Wilhelm-Antonius in der Tür des Salons und musste trotz ihrer Situation amüsiert lächeln. „Da weiß die eine Hand nicht, was die andere tut. Jetzt hat Hannes zwei Telegramme von uns bekommen. Aber wir wissen jetzt auch, von wem unserer Tochter Vernunft und Weitblick geerbt hat!“
Jetzt musste sogar Berta lächeln und die Atmosphäre entspannte sich ein wenig. Wilhelm-Antonius ging zu Maria, nahm sie in den Arm und platzierte einen dicken Kuss auf ihre Wange. „Ich bin der festen Überzeugung“, fuhr er fort, „dass Sie, liebe Berta, Ihre Tochter auch bald wieder in die Arme schließen können.“
„Ich auch!“, bestätigte Friederike.
Man konnte Berta deutlich ansehen, wie gut ihr die Anteilnahme ihrer Dienstherren tat. Bei allem Unglück, das über ihre Familie gekommen war, hatten sie und Friedrich aber das große Glück, dass sie die Unterstützung der Familie Kokies genießen konnten. Das war alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Auch hochrangige Dienstboten wie Zofen oder Butler waren in der Regel bei der Bewältigung ihrer Probleme auf sich allein gestellt. Schlimmer noch, sie mussten eventuell sogar damit rechnen, entlassen zu werden, wenn sie aufgrund ihres Kummers ihrer Tätigkeit nicht mehr ordnungsgemäß nachgehen konnten und ihre Pflichten vernachlässigten.
Als Bouffier die Reiter kommen sah, bemerkte er, dass eine Frau dabei war. Er beobachte, wie sie anhielten, abstiegen, zielbewusst die deponierte Tasche holten und in aller Hektik wieder davonritten. Die junge Frau hatten sie zurückgelassen. Das konnte nur Anna sein.
Einerseits spürte Bouffier eine gewisse Erleichterung, andererseits ärgerte er sich über seine stümperhafte Vorgehensweise. Die Entführer konnten ungehindert entkommen; hätte er dafür gesorgt, dass er nicht alleine, sondern in Begleitung einer versteckten, berittenen und bewaffneten Eskorte in Lauer gelegen hätte, könnte man jetzt sofort die Verfolgung der Verbrecher aufnehmen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Geisel direkt bei der Geldübergabe freigelassen würde, aber er hätte es in Erwägung ziehen müssen. Nichtsdestotrotz musste er sich jetzt um Anna kümmern. Er beeilte sich, aus seinem Versteck zu kommen, um sich ihr zu erkennen zu geben. Als er aus dem Unterholz heraustrat, bemühte er sich, sein beruhigendstes Lächeln aufzulegen und sagte: „Sie sind Anna, nicht wahr?“
Diese staunte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben und deshalb fuhr er schnell fort: „Mein Name ist Peter Bouffier, Polizeileutnant; ich bin hier, um Sie nach Hause zu bringen.“ Anna brachte immer noch kein Wort heraus, aber ihre Anspannung löste sich etwas. „Können Sie ein paar Schritte gehen? Ich habe in der Nähe mein Pferd versteckt.“
Jetzt fand Anna ihre Sprache wieder: „Ja, ja ich glaube schon, ich will es versuchen. Auf keinen Fall möchte ich hier alleine gelassen werden, während Sie Hilfe holen. Sie sind doch alleine?“
Es war ihm sichtlich peinlich, als er dies bestätigten musste: „Ja, ich bin alleine hier, dummerweise!“
Aber Bouffier hatte nicht an den treuen Hauptwachtmeister gedacht. Gustav Hinrich tauchte plötzlich ebenfalls auf. Er hatte sich zwar nach dem Deponieren des Lösegeldes zurückgezogen, dann aber ebenfalls ein Versteck gesucht und auf der Lauer gelegen.
„Offensichtlich habe ich mich geirrt, das ist Hauptwachtmeister Hinrich“, stellte Bouffier ihn Anna vor und wandte sich ihm dann zu. „Freut mich, dass Sie auch hier sind. Dann muss Fräulein Doepius nicht zu Fuß gehen, wenn Sie die Pferde holen. Wir warten hier so lange.“
„Wird sofort gemacht, Chef“, antwortete Hinrich und machte sich umgehend auf den Weg.
„Anna, Sie sind jetzt frei, ich verbürge mich für Ihre Sicherheit.“
„Danke, ich…, ich…“
„Sie brauchen jetzt nichts zu sagen“, unterbrach sie Bouffier. „Sie werden uns später sicher jede Menge zu erzählen haben. Aber jetzt kommen Sie erst einmal zur Ruhe. Wir sehen jetzt zu, dass Sie so schnell wie möglich nach Hause kommen. Hinrich wird Sie führen, Sie können sein Pferd benutzen; ich werde vorausreiten und auf Adlig-Linkunen die gute Nachricht Ihrer Freilassung verkünden. Ihre Eltern werden über alle Maßen erleichtert sein!“
Anna konnte auf einmal entspannt lächeln, während ihr gleichzeitig ein paar dicke Tränen die Wange herunterkullerten. Bouffier trat an sie heran, legte einen Arm auf ihre Schulter und sagte leise, ebenfalls lächelnd: „Es ist vorbei, Anna, der Albtraum ist vorüber, Sie werden bald wieder zu Hause sein; freuen Sie sich auf Ihre Eltern!“
„Und auf Maria; geht es ihr gut, ist sie verschont geblieben?“
„Ja, es geht ihr gut. Es geht allen gut in Linkunen, und es wird allen noch besser gehen, wenn man von Ihrer Freilassung erfährt!“
Inzwischen war Hinrich mit den Pferden zurückgekehrt. Anna wurde auf einmal bewusst, dass sie sich erneut mit ihrem Reifrock und einem Herrensattel arrangieren musste. Diesmal schoss ihr die Röte bei diesem Gedanken ins Gesicht. Überhaupt wurde sie sich jetzt über ihr Äußeres im Klaren: seit zwei Tagen ungewaschen, die Kleidung völlig durcheinander, die Haare zerzaust. Aber das alles durfte jetzt keine Rolle spielen, Hauptsache war, dass sie nach Hause konnte, dass sie frei war. Es würde noch genügend Zeit kommen, um ausgiebig zu baden. Bei dem Gedanken an eine vernünftige Mahlzeit verdrängte sie ihr Erscheinungsbild in die hinterste Ecke ihres Gehirns. Bouffier und Hinrich halfen Anna vorsichtig in den Sattel, Hinrich führte nun das Pferd, bis sie einen Weg erreichten. Hier wollte Bouffier sich gerade von ihnen trennen, um vorauszureiten, als sie das Geräusch von Pferdehufen hörten. Die beiden Polizisten zogen sofort ihre Pistolen. Annas Pferd wurde zur Seite in den Wald geführt, um sie außer Schusslinie im Falle eines Feuergefechtes zu bringen. Das Geräusch kam von vorne immer näher und plötzlich tauchte vor ihnen in etwa 300 Fuß oder ca.100 Meter Entfernung eine zweispännige Kutsche auf. Man konnte sofort erkennen, dass sie aus dem Fuhrpark Adlig-Linkunen stammte, das Wappen an den Türen war nicht zu übersehen. Die Erleichterung bei Anna und ihren beiden Begleitern war riesig, die Polizisten steckten ihre Waffen wieder in die Halfter und warteten, bis das Fahrzeug sie erreicht hatte. Die Szene, die sich jetzt abspielte, war durch nichts zu überbieten. Als Friedrich aus der Kutsche blickte und seine Tochter erkannte, war der sonst so besonnene und ruhige Mann nicht mehr zu halten. Noch bevor das Gefährt völlig zum Stillstand kam, riss er die Tür auf, sprang heraus, wobei er beinahe gefallen wäre und rannte auf Anna zu. Diese ließ sich jetzt langsam vom Pferd gleiten und als Friedrich sie erreicht hatte, drückte er sie wortlos fest an sich; er wollte sie scheinbar nicht mehr loslassen, als hätte er Angst, sie wieder verlieren zu können. Die anderen sprachen ebenfalls kein Wort und hatten ihre Blicke auf Vater und Tochter gerichtet. Es war still, doch plötzlich hörte man Schluchzen, freudiges Schluchzen, das nicht nur von Anna kam. Friedrich kullerten ebenfalls Tränen der Freude und Erleichterung über die Wangen. Das Ganze schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis die beiden sich wieder voneinander lösten und Friedrich seine Tochter vorsichtig zur Kutsche führte. Sie hatten immer noch kein Wort miteinander gesprochen.
Die Erleichterung auf dem Gut Adlig-Linkunen war deutlich zu spüren, von den Herrschaften bis hin zum kleinsten Dienstboten. Annas Befreiung sprach sich genauso schnell herum wie vorher ihre Entführung.
Wie erwartet, traf am Abend Hannes auf dem Gut ein und vernahm ebenfalls mit großer Beruhigung das Ende des Entführungsdramas.
Nur Bouffiers Gefühle waren zwiespältig; einerseits war er natürlich froh, dass Anna körperlich unversehrt wieder zu Hause war, andererseits konnte er mit seiner Arbeit als Polizist nicht zufrieden sein. Er hatte keinerlei Anhaltspunkte, wer die Entführer sein mochten; es gab keine Hinweise, wo Anna festgehalten worden war.
Am