Dieter Janz

Schatten über Adlig-Linkunen


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Raum durfte sie sich frei bewegen; sie stellte sich oft an eines der kleinen Fenster und schaute hinaus, sehr abwechslungsreich war der Blick nicht: Bäume, Bäume, Bäume…. Endlich dämmerte es wieder und die Dunkelheit kam wieder, eine Dunkelheit, die auch die Seele zu erfassen schien. Anna legte sich wieder auf die Chaiselongue, doch diese Nacht konnte sie lange nicht einschlafen, ihr Heimweh wurde immer stärker. War sie jemals überhaupt schon so lange von zu Hause weg gewesen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Maria hatte einmal davon gesprochen, Hannes in Berlin zu besuchen, aber sie hatte nicht daran geglaubt. Zwei junge Frauen alleine auf einer Bahnfahrt nach Berlin: unmöglich. Schließlich war Anna doch noch eingeschlafen, wieder in diesen von Albträumen begleiteten Schlaf.

      Mitten in der Nacht wurde sie geweckt. „Aufstehen!“, befahl einer der Männer und schüttelte sie leicht an der Schulter. „Kannst Du reiten?“

      Bouffier hatte sich noch in der Nacht vor Morgengrauen mit Hinrich auf den Weg gemacht und sie ritten zu der im Entführerbrief angegebenen Stelle. Die letzte Meile mussten sie zu Fuß gehen, auch das war eine Bedingung der Entführer: ein einzelner Mann, zu Fuß, sollte die Tasche an einem im Wald befindlichen genau beschriebenen Höhleneingang abstellen und sich sofort wieder entfernen. Etwa 3000 Fuß vorher trennten sich die beiden und Bouffier versuchte nun, auf versteckten Pfaden und ohne entdeckt zu werden, das Ziel zu erreichen, um den Übergabeort zu beobachten. Er musste extrem vorsichtig sein, denn jeder Schritt konnte ein Knacken im Unterholz auslösen, und je näher er dem Ziel kam, desto gefährlicher wurde es, sich zu verraten. Da er sich nur langsam fortbewegen konnte, musste Hinrich ihm einen Zeitvorsprung lassen, bevor er selbst seinen Weg fortsetzte.

      Ihre Pferde hatten sie im Wald hinter sich zurückgelassen, nachdem sie diese sicher festgebunden hatten. Um keinerlei Verdacht auszulösen, war einem der Pferde der Sattel abgenommen und dieser im Unterholz versteckt worden. Anschließend beluden sie dieses Pferd mit Holz. Eine gute Tarnung: hier war ein Holzsammler mit Packpferd unterwegs. Alles in allem war der nächtliche Ausflug der Polizisten eine zeitaufwendige Angelegenheit.

      Endlich hatte Bouffier sein Ziel erreicht. Er konnte von einer mit dichtem Unterholz bewachsenen Stelle den Höhleneingang ungefähr 300 Fuß vor sich sehen und war damit relativ nahe dran. Hinrich war noch nicht angekommen. Es dämmerte bereits, als er endlich die Höhle erreichte, die Tasche abstellte und sogleich den Rückzug antrat. Bouffier kauerte in gebückter Stellung im Unterholz und wartete. Durch den langen Marsch war er zunächst ins Schwitzen geraten, aber jetzt spürte er die Kälte des aufkommenden Morgens. Wie lange würde er wohl so ausharren müssen, bis sich etwas tat? Er hätte sich etwas zu Trinken mitnehmen müssen, er verspürte Durst, aber daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Bouffier überkam ein leichter Schauder; war es die Kälte oder war er etwa aufgeregt? Er wusste es nicht. Während er so dahockte, wurde er langsam müde und musste kämpfen, um seine Augen offen zu halten. Immer wieder sank ihm der Kopf auf die Brust. Aber dann war er hellwach, als er Pferdehufe hörte. Er starrte auf den Höhleneingang und auf den Weg, der zu ihm führte. Endlich konnte er etwas erkennen. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen!

      Bei der Frage, ob sie reiten könne, war Anna schon fast belustigt, obwohl sie aus ihren Albträumen gerissen wurde. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie den Kerl an, der sie geweckt hatte und nickte. Geritten war sie schon als Kind, mit Hannes und Maria. Sie hatte außergewöhnliche Fähigkeiten im Umgang mit Pferden entwickelt und im Laufe der Zeit das Reiten wie eine ganz natürliche Art der Fortbewegung angenommen. Am liebsten ritt sie im Herrensattel mit Reithosen, was absolut unschicklich für eine Dame war; aber auch Maria bevorzugte diese Art zu reiten und die Herrschaften Kokies duldeten es stillschweigend.

      Anna nickte auf die Frage, worauf der Mann fortfuhr: „Steh auf, wir werden jetzt von hier fortreiten!“ Sie wusste nicht, ob sie dies als gutes oder schlechtes Zeichen werten sollte. Würde sie jetzt auf ihre Freilassung hoffen können oder wollten die Entführer sie nur an eine andere Stelle bringen, um die Gefahr der Entdeckung zu verringern? Als Anna aufgestanden war, verband man ihr wieder die Augen und führte sie aus dem Haus. Die Männer schienen es eilig zu haben; es blieb nicht einmal Zeit, etwas zu essen oder einen Schluck zu trinken. Draußen vernahm Anna den wohlvertrauten Geruch von Pferden und das Schnauben der Tiere. Man führte sie zu einem Pferd und einer der Männer half ihr beim Aufsitzen, was sich als schwieriges Unterfangen herausstellte, denn Anna musste sich mit ihrem langen Reifrock in einen Herrensattel zwängen, zudem noch mit verbundenen Augen. Als sie schließlich in einer einigermaßen bequemen Position war, wagte sie kaum an den Anblick zu denken, den sie jetzt abgab. Ihr stellte sich außerdem die Frage, wie sie mit verbundenen Augen reiten sollte. Nach den Geräuschen zu schließen, saßen jetzt die anderen auch auf und der Trupp setzte sich in Bewegung. Anna hielt keine Zügel in den Händen, ihr Pferd wurde von jemandem geführt, sie hielt sich am Sattelknauf fest. Die Pferde bewegten sich im Gang fort, also nur sehr langsam. Es wurde kein Wort gesprochen. Nach einer Weile, Anna schätzte sie auf etwa eine Stunde, machten sie plötzlich Halt. „Wie gut kannst du reiten?“, fragte sie einer der Burschen, worauf sie knapp antwortete: „Ziemlich gut.“ Jetzt wurde ihr die Augenbinde abgenommen und Anna sah, dass noch tiefe Nacht herrschte, der Mond aber den Weg, auf dem sie sich befanden, einigermaßen hell erleuchtete. Ringsherum war nur Wald, scheinbar endlos, aber besonders tief konnte man nicht ins dunkle Gehölz blicken. Anna erkannte, dass sie diesmal von nur zwei Reitern begleitet wurde, einer von ihnen hielt die Zügel ihres Pferdes. Ihr Rock war bis zu den Hüften hochgerutscht und ballte sich auf beiden Seiten des Reittieres wie zwei mächtige Ballons, was einen geradezu grotesken Anblick bot. Unter anderen Umständen hätte sie sich geschämt, aber jetzt stand die Angst im Vordergrund ihrer Gefühle. Der Reiter, der bis jetzt ihr Pferd geführt hatte, drückte ihr nun die Zügel in die Hand und sie setzten sich wieder in Bewegung. Ein Mann ritt vor ihr, der andere hinter ihr. Einen Moment lang schoss ihr der Gedanke an Flucht durch den Kopf, aber sie verwarf ihn sogleich wieder. Zunächst setzten sie ihre Reise im Trab fort, dann fielen sie in Galopp, erst langsamer, dann immer schneller werdend. Sie wechselten mehrmals auf andere Waldwege und Anna verlor vollends die Orientierung, aber sie konnte den schnellen Galopp gut mithalten. Es fing langsam an zu dämmern, als sie das Tempo verringerten, zunächst in Trab und dann in Gang. Jetzt merkte Anna, wie sehr sie der schnelle Ritt angestrengt hatte, sie fühlte sich erschöpft. Plötzlich hielten sie an, einer der Männer sprang vom Pferd und eilte auf einen Höhleneingang zu. Auch der andere stieg ab und forderte Anna auf, dergleichen zu tun. Er führte Anna ebenfalls in Richtung Höhle und sagte: „Setz dich auf diesen Baumstumpf und warte!“

      Sie schienen es jetzt verdammt eilig zu haben. Der erste kam mit einer Tasche zurück, sie rannten zu ihren Pferden, sprangen förmlich in die Sättel und galoppierten in die Richtung, aus der sie gekommen waren davon, das dritte Pferd im Schlepptau.

      Es dauerte nicht lange, bis sie aus ihrem Blick verschwunden waren und das Geräusch der Pferdehufe verstummte. Anna konnte noch gar nicht erfassen, was sich hier abspielte, sie war mutterseelenallein mitten im Wald. Gott sei Dank wurde es immer heller und ihr kam die Umgebung irgendwie bekannt vor. Als sie sich gerade entschlossen hatte, aufzustehen und einen Weg zu suchen, fuhr ihr ein gewaltiger Schreck in die Glieder: Sie vernahm ein deutliches Knacken im Unterholz, dass eindeutig von einem Menschen oder einem großen Tier herrühren musste. Anna starrte wie gebannt in die Richtung, aus der es kam. Und plötzlich trat ein Mann aus dem Gehölz. Bevor Anna schreien konnte, sprach er sie mit einem freundlichen Lächeln an: „Sie sind Anna, nicht wahr?“

      Auf Adlig-Linkunen herrschte eine nervöse Atmosphäre. Die Herrschaften Kokies waren die ganze Nacht aufgeblieben, ebenso Friedrich und Berta. Noch vor Anbruch des Morgengrauens hatte sich Wilhelm-Antonius entschlossen, eine Kutsche vorbereiten zu lassen, um sie in die Richtung der angegebenen Geldübergabestelle zu schicken. Als er Friedrich damit beauftragte, fragte dieser: „Kann ich mitfahren? Ich halte das untätige Sein nicht mehr aus. Ständig hat man das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, ohne zu wissen, was.“ „Selbstverständlich, Friedrich. Nehmen Sie einen bewaffneten Wildhüter mit!“ Und so machten sich der Kutscher, ein Wildhüter und Friedrich im Morgengrauen auf, in der Hoffnung, dass Anna nach der Übergabe des Geldes freigelassen würde und in der Nähe auftauchte. Friedericke, Maria und Berta zogen sich in den Salon zurück. An ein vernünftiges Gespräch war nicht zu denken. Dennoch bemühten sie sich, sich gegenseitig ein wenig aufzumuntern und vor allem Berta Halt zu geben, die