ob er schon so zugefroren war, sodass man auf ihm Eislaufen konnte. In gebührendem Abstand folgte ihnen ihr Bewacher, so dass sie sich einigermaßen ungestört unterhalten konnten, ohne dass dieser jedes Wort verstand, aber wenn nötig, sofort bei ihnen sein konnte.
„Du bist ruhiger geworden seit dem Ereignis. Kommst du mit deinen Gedanken nicht mehr davon los? Hast du jetzt ständig Angst? Das verstehe ich durchaus, aber dagegen musst du ankämpfen. Ich möchte dir dabei helfen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass du mit mir redest, mir deine Sorgen und Ängste mitteilst. Ich bin doch deine beste Freundin. Und wenn du das jetzt verneinst, entführe ich dich auf der Stelle noch einmal. Und dann wirst du nicht wieder freigelassen!“
Anna lachte: „Du vergisst unseren Bewacher, liebe Maria, sieh ihn dir nur an. So grimmig und wichtig, wie der dreinschaut, hast du keinerlei Chance.“ Sie drehten automatisch beide ihre Köpfe um, sahen in die Richtung ihres Aufpassers und mussten laut kichern. Der Arme wusste nicht, wohin er blicken sollte, und sein Gesicht lief purpurrot an.
„Ich glaube Anna, das war eben nicht allzu nett von uns!“ Es dauerte trotz dieser Einsicht noch eine Weile, bis sie ihr Lachen ganz unterdrücken konnten und Anna weitersprach:
„Natürlich bist du meine beste Freundin, aber du machst dir zu viele Sorgen. Es mag komisch klingen, aber ich habe keine Angst. Natürlich muss ich oft an meine Entführung denken, aber es beherrscht mich nicht. Vielmehr sehe ich viele Dinge anders als früher, sowohl Kleinigkeiten wie auch Wichtiges. Ein Frühstück zum Beispiel ist nichts Bedeutendes, aber auch nichts Selbstverständliches. Deine Freundschaft ist auch nichts Selbstverständliches und ich befürchte, ich habe sie früher als solche gesehen. Heute möchte ich Gott jeden Tag dafür danken. Du bietest mir deine Hilfe an und ich spüre, du meinst es wirklich so. Das ist etwas Wichtiges, etwas wirklich Bedeutendes.“ Sie machte eine kurze Pause, Maria schwieg ebenfalls. „Weißt du, Maria, wie wir unser künftiges Leben gestalten wollen? Unbeschwert in den Tag, in unsere Zukunft hineinleben? Eines Tages einen mehr oder weniger netten Mann kennenlernen, Kinder bekommen, das war’s?“ Erneut machte Anna eine Pause und sie ritten eine Weile schweigend nebeneinander her, bevor sie sagte: „ Ich möchte Ärztin werden!“
Abrupt stoppt Maria ihr Pferd und starrte Anna an: „Wie bitte, was hast du eben gesagt?“
„Ich will Ärztin werden!“
Anna war inzwischen auch stehengeblieben.
„Das ist doch nicht dein Ernst! Du weißt, dass das nicht möglich ist! Frauen können keine Ärztin werden!“
„Doch, es gibt Ausnahmen. Wenn der Dekan einer medizinischen Fakultät die Erlaubnis erteilt, darfst du Medizin studieren.“
„Selbst wenn, dann darfst du später aber nicht als Arzt tätig sein.“
„Soweit bin ich noch nicht. Bis dahin vergeht noch viel Zeit, es kann sich einiges ändern. In Amerika fordern Frauen das Wahlrecht für sich und ihre Chancen stehen gar nicht so schlecht.“
„Amerika ist weit weg, Anna, dort haben sie nicht einmal einen König oder Kaiser, sondern einen Präsidenten, der vom Volk gewählt wurde; unvorstellbar!“
„Nein, nicht vom Volk, nur von Männern. Oder gehören Frauen nicht zum Volk?“
Maria erwiderte zunächst nichts und sie setzten langsam ihren Ritt fort. Nach einer Weile sagte sie: „Ich habe eigentlich noch nicht darüber nachgedacht, Anna. Vielleicht hast du Recht. Was sagen deine Eltern dazu?“
„Ich habe noch nicht mit ihnen darüber gesprochen.“
„Bevor du die Zustimmung irgendeines Dekans bekommst, benötigst du erst einmal der Zustimmung deines Vaters. Und außerdem, verstehe mich bitte nicht falsch, ich will nicht überheblich sein, woher willst du das Geld für ein Studium nehmen?“
„Ich kann arbeiten; es werden immer wieder junge Frauen gesucht, die reiche alte Leute versorgen.“
„Woher willst du das wissen?“
„Du hast es mir selbst gesagt, Maria. Du hast erzählt, dass bei deiner Mutter immer wieder Anfragen eingehen, ob sie niemanden entbehren könnte, der solchen Aufgaben gewachsen ist.“
„Ja hier in Ostpreußen, auf hiesigen Gütern. Wie willst du studieren und gleichzeitig auf einem masurischen Gut Kranke pflegen?“
„Nicht auf einem masurischen Gut; in den Städten muss es auch Kranke geben, zum Beispiel in Berlin!“
„Anna, du bist naiv. Bitte, stürze dich nicht in irgendwelche Abenteuer, die dich in den Ruin ziehen. Schon die Vorstellung, dass du alleine in Berlin bist, graut mir. Hast du mal darüber nachgedacht, in welchem Licht man dich sehen wird?“
„Aber Maria, wir leben im 19. Jahrhundert, die Zeiten ändern sich. Was heute noch ungewöhnlich ist, wird morgen bereits normal sein. Außerdem ist man in Berlin erheblich toleranter als hier im verstaubten Ostpreußen!“
„Du meinst unmoralischer, nicht toleranter. Ich schlage dir vor, erst einmal mit deinen Eltern zu reden. Sag mal, wie bist du eigentlich auf all diese Ideen gekommen? Woher weißt du, dass man in Berlin als Frau studieren darf, wenn man eine Genehmigung erteilt bekommt? Hat Hannes für dich in Berlin nachgefragt? Du warst doch noch nie alleine dort!“
Anna wollte gerade antworten, als Maria ihr ins Wort fiel: „Ah! Sag nichts, ich glaube, ich kann es mir selbst zusammenreimen: Hat es etwas mit Otto Goldfeld zu tun und der Tatsache, dass unser Hausarzt, Dr. Markowski, in letzter Zeit öfter bei ihm ist?“
In der Tat ging es dem Gutsverwalter immer schlechter und der Arzt sah regelmäßig nach ihm. Goldfeld konnte seine zunehmende Atemnot nicht mehr verbergen, wie er es noch vor kurzer Zeit getan hatte. Maria war aufgefallen, dass Anna bei den Arztbesuchen immer zugegen war und sich auch sonst oft bei Goldfeld aufhielt; hatte dies aber ausschließlich auf das enge Verhältnis der beiden zueinander zurückgeführt. Aber jetzt erschien das Ganze in noch einem anderen Licht. Und in der Tat bestätigte Anna: „Ja, es hat auch sehr viel damit zu tun. Ich habe mich ausführlich mit Dr. Markowski unterhalten. Zunächst nur, um in Erfahrung zu bringen, wie ich Opa Goldfeld helfen kann. Dabei wurde aber auch generell mein Interesse für die Medizin geweckt. Ich merkte, wie wenig ich ohne medizinische Kenntnisse für ihn tun kann. Dr. Markowski ist eine Goldgrube und sehr, sehr erfreut, wenn man ihn ausfragt. Ich glaube, er denkt, dass er in mir eine gelehrige Schülerin gefunden hat, und ich hoffe, er hat Recht. Schon bald habe ich ihm anvertraut, wie sehr mich ein Studium interessieren würde. Er hat zunächst genauso reagiert wie du, und ich versuchte, alle seine Einwände zu entkräften. Auf der anderen Seite imponierten ihm wohl meine Hartnäckigkeit und meine Verärgerung darüber, dass Frauen nicht studieren dürfen. Eines Tages überraschte er mich mit der Nachricht, dass ich mit Sondergenehmigung die Universität besuchen kann. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und erklärte mir, dass er den Dekan der medizinischen Fakultät in Berlin recht gut kenne und sich für mich einsetzen könne. Er riet mir allerdings, ebenso wie du, zuerst mit meinen Eltern ausführlich zu sprechen.“
„Und die werden alles andere als erfreut sein. Ich glaube, so wie die Dinge stehen, wird dies schon die erste unüberwindbare Hürde sein. Aber ich bewundere dich, Anna, und überlege, wie ich dir helfen kann. Hast du überhaupt schon mit jemandem, außer Dr. Markowski und mir, darüber gesprochen?“
„Um Gottes willen, nein. Ich muss mir alles genau überlegen, einen genauen Plan machen. Und ich möchte nicht, dass meine Eltern das Vorhaben von jemand anderem erfahren als von mir, also behalte unser Gespräch für dich!“
„Natürlich, Anna, das versteht sich doch von selbst!“
Inzwischen waren sie an dem See angekommen und mussten feststellen, dass die Eisfläche noch viel zu dünn war, um sie betreten zu können. Es würde noch ein paar Tage benötigen, bis der See so weit zugefroren war, dass man darauf laufen könnte. Also machten sie sich wieder auf den Heimweg. Sie wechselten die Gangart ihrer Pferde zwischen Galopp und Trab, weshalb ein intensives Gespräch nicht möglich war und sie relativ schnell zu Hause ankamen. Als sie am Verwalterhaus vorbeikamen, sahen sie die Kutsche von Dr. Markowski davor stehen. Es musste sich