dieser Stelle muss ich auch noch einmal auf ihren Vater, Martin Blumenthal, zu sprechen kommen, der ein solch typischer Märker war, dass er eigentlich auf einer Briefmarke hätte verewigt werden müssen. Martin Blumenthal war für die Unterbringung der aus den deutschen Ostgebieten eintreffenden Flüchtlinge zuständig. Und als wir ihn einmal verzweifelt beten sahen und uns nach dem Grund dafür erkundigten, antwortete er: »Heute kommt Herr Kackstein, um alles zu kontrollieren.« Ich konnte damals nicht fassen, dass jemand tatsächlich so heißen sollte. Erwähne ich den Namen heute, unterstellen mir meine Gesprächspartner meist, er sei meiner Fantasie entsprungen, aber einen bekannten Nationalsozialisten namens Richard Kackstein hat es wirklich gegeben. Er war Bauer im nahen Kuhbier, trat schon 1920 der NSDAP bei, wurde SA-Mann und Sturmbannführer und saß als Abgeordneter seiner Partei im Preußischen Landtag und im nationalsozialistischen Reichstag. Im Frühjahr 1933 übernahm er außerdem im Kreis Ostprignitz Ämter als Kreisbauernführer und als Kreisleiter.
Zurück zu Groß Pankow: In Groß Pankow kann man hervorragend baden gehen. Die beiden wichtigsten Flüsse, die die Prignitz zwischen Pritzwalk und Perleberg durchziehen, sind die rund 29 Kilometer lange Dömnitz und die bereits oben erwähnte Stepenitz. Dieser Nebenfluss der Elbe entspringt auf einem Höhenzug nahe Meyenburg, fließt über 84 Kilometer reizvoll durchs Flachland und zählt zu den saubersten Wasserläufen Deutschlands. Man kann viele weitere Details über die Stepenitz nachlesen, nur nicht, dass ich im Juli 1946 als absoluter Nichtschwimmer um ein Haar in ihr ertrunken wäre – wie auch kurz zuvor im Dorfteich von Groß Pankow. Beide Male hat mich Edith gerettet.
Den Dorfteich konnten wir bei unserem Besuch im Jahr 2006 nicht mehr finden. Ich vermute, dass man ihn meinetwegen zugeschüttet hat. Nichtschwimmer bin ich in gewisser Weise mein Leben lang geblieben. Ich habe zwar aus meiner Bremer Zeit den Frei- und Fahrtentrinker, aber ich habe niemals eine Urkunde für den Frei- und Fahrtenschwimmer erlangt, nicht einmal das Seepferdchen habe ich.
Es sei noch hinzugefügt, dass man nach Groß Pankow am besten mit dem Auto über die B189 oder per Bahn mit dem Prignitz-Express, der Regionalexpresslinie RE6, gelangt. Auf dem Pankower Bahnhof trieb ich mich in den Jahren 1945 bis 1947 in jeder freien Minute herum, um die ankommenden Züge zu erwarten, den abfahrenden hinterherzuwinken und dem Stationsvorsteher bei der Arbeit im Stellwerk zuzuschauen. Das hat mich für mein Leben geprägt und zum Eisenbahnnarren werden lassen. Gern haben wir Kinder auch Markstücke auf die Schienen gelegt und gewartet, bis ein Zug sie platt gefahren hatte.
Nach Lindenberg reisten wir 2006 über Kyritz. Immer wieder wurden wir auf der Bundesstraße von zuckelnden Treckern ausgebremst, und immer wieder verfuhren wir uns auf der Suche nach dem optimalen Umweg. Nebel lag über der weiten Landschaft, und es nieselte leicht. Es war Ende Mai, doch das Wetter war herbstlich. Erst als Volker Lindenberg in sein Navigationsgerät eingab, fanden wir den richtigen Weg. Die grüne Landschaft wurde welliger. Menschenleer war es in diesem verzauberten Land.
Mit Lindenberg verbinde ich die Schmalspurbahn. Noch interessanter als die eben erwähnte normalspurige Hauptbahn war für mich als Junge die Schmalspurbahn zwischen Pritzwalk und Vettin. Die fuhr auch am Groß Pankower Nachbarort Kuhsdorf vorbei. Dort hielten die männlichen Jugendlichen beider Dörfer und wir evakuierte Jungen aus den bombardierten Großstädten oft einen nicht ungefährlichen Wettbewerb ab: Wer kann bei Annäherung eines Zugs länger ausgestreckt auf dem Gleis liegen, möglichst noch wie bei Karl May mit einem Ohr auf der Schiene? Tote gab es keine, aber tobende Eltern und Lehrer.
Von den vielen Schmalspurbahnen in der Prignitz ist bis heute nur noch der »Pollo« erhalten geblieben, die als Museumsbahn betriebene Schmalspurbahn zwischen Mesendorf und Lindenberg mit Halt in Brünkendorf und Vettin.
Als wir Lindenberg 2016 erreichten, konnten wir keine Dampflok bestaunen, denn es war Donnerstag, und die Museumsbahn verkehrt nur am Wochenende. So blieb uns nur der Besuch des Prignitzer Kleinbahnmuseums, das Einstecken eines Prospekts und der Kauf einer CD von einem Dampflokeinsatz.
Als wir Hunger verspürten, empfahl man uns die Gaststätte von Bernd Lamprecht ein Stückchen weiter an der Hauptstraße. Die Preise dort sind für Berliner Verhältnisse unglaublich niedrig. Es mundete uns trefflich, um es mit den Worten meiner Schmöckwitzer Oma auszudrücken, denn die Mutter des Wirts kochte selbst. Der plauderte munter mit uns, klagte über die strukturschwache Region und trug auf Plattdeutsch Gedichte über den Pollo vor. Es war ein Erlebnis!
Zwar konnten Volker und ich nicht mit der musealen Kleinbahn fahren, aber wir konnten eine museale »Großbahn« besichtigen, also eine, die nicht auf Schmalspurgleisen verkehrt, sondern auf der Normalspur. Als Junge war ich begeistert davon gewesen, dass zwischen Kuhbier und Pritzwalk die Gleise der Nebenbahn nach Putlitz direkt an der Chaussee entlangliefen. Wenn dort ein Zug entlangdampfte, war das für mich wie eine Weihnachtsbescherung. Bis zum 29. Juli 2016 fuhr dort die RB70 mit den Zwischenhalten Laaske, Jakobsdorf (Prignitz), Groß Langerwisch, Kuhbier und Pritzwalk West. Betrieben wurde sie von der Hanseatischen Eisenbahn. Der dieselgetriebene zweiachsige Schienenbus, im Volksmund Ferkeltaxi genannt, stammte von der Waggonfabrik Uerdingen und war, wie uns der Lokführer auf unserer Reise 2016 verriet, im Jahre 1956 gebaut worden. Das merkte man ihm auch an, und da die Schienen im verkrauteten Gleisbett nicht unbedingt ICE-Standards entsprachen, fürchtete ich um meine Bandscheiben, obwohl wir meist nur dreißig Stundenkilometer fuhren. Wir saßen ganz vorne und genossen den Blick auf die Strecke. Es wurde eine herrliche Fahrt durch Wälder und Felder und über die Prignitzer Prärie. Ich zahlte für Hin- und Rückfahrt 5,40 Euro. Den Fahrschein sah ich mir jedoch erst zu Hause an. Sofort rief ich aus: »Horst, du heißt nicht nur so, du bist auch einer!« Die Strecke gehörte zum Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg, und ich hätte mir den Fahrschein sparen können, da ich eine 65-plus-Monatskarte hatte.
Über Pritzwalk ist aus meiner Sicht nicht viel zu berichten. Am 15. April 1945 ist hier ein Munitionszug nach einem Fliegerangriff explodiert, und wir haben den Knall bis nach Groß Pankow gehört. Eine andere Erinnerung an Pritzwalk verdränge ich gern: Hätte meine Mutter im Sommer 1945 im hiesigen Krankenhaus keine Abtreibung vornehmen lassen, könnte ich mich heute mit einem deutsch-russischen Halbbruder über vieles Putin’sche unterhalten.
Von Pritzwalk nach Groß Pankow sind es nur rund 13 Kilometer, und diese Fahrt genoss der kleine Horst früher ganz besonders, weil die Strecke durch das Dorf mit dem schönen Namen Kuhbier führte. Ich sah im Geiste die Kühe Bier trinken und amüsierte mich köstlich darüber. Deshalb wollte ich auch 2016 unbedingt dort entlangfahren, denn unzählige Male hatte ich auf der Chaussee von Kuhbier nach Groß Pankow mit Edith einen Leiterwagen gezogen und geschoben, um den Arbeitern das Mittagsessen aufs Feld zu bringen, wo die im Ernteeinsatz gewesen waren. Aber Volkers Navigationssystem führte uns auf eine neue Schnellstraße, auf der wir erst nach vielen Kilometern wieder umkehren konnten.
Auf dem Areal zwischen Groß Pankow und Kuhsdorf waren wir Bauern- und Evakuierungskinder auch tätig gewesen. Dort haben wir in den Wäldern Martin Blumenthals Pilze und Beeren gesammelt und die Kühe am Abend von der Weide in den Stall getrieben. Ich fand das alles herrlich! Gehasst habe ich nur das nach Luggendorf hin liegende Gurkenfeld, wo wir Kinder allerlei Arbeiten zu verrichten hatten, denn fast jeden Abend gab es Schmorgurken zu essen – und die konnte ich gar nicht ausstehen. Besser schmeckte da der Knieperkohl.
Auf den Mohnfeldern haben wir die reifen Kapseln geöffnet und uns die graublauweißen Körner in den Mund rieseln lassen. Wenn mich heute jemand »mohndoof« nennen sollte, kann ich ihn nicht verklagen. Im Sommer 1946 waren Schuhe rare Kostbarkeiten, und wir sind sehr oft barfuß gelaufen, auch bei schlechtem Wetter. Hatten wir furchtbar kalte Füße, wärmten wir sie in frischen Kuhfladen auf.
Zur Leichtathletik bin ich auch durch meine Zeit in Groß Pankow gekommen. Unser Bauer besaß damals große Plantagen mit prächtigen Kirschbäumen, und da die grünen Netze noch nicht erfunden waren, mit denen man heute die reifen Früchte vor Staren und anderen Vögeln schützt, mussten wir Kinder um das Anbaugebiet herumlaufen und dabei Topfdeckel aufeinanderschlagen, um die Tiere zu vertreiben.
Groß Pankow verdanke ich zudem meine Allergien, die sich zu einer chronischen Lungenerkrankung entwickelt haben, denn wir mussten auch beim Dreschen helfen, und die damaligen Dreschmaschinen bliesen unfassbar viel Feinstaub in die Luft. Mein Leiden