langjährigen Freundes Jürgen Dittberner in den Sinn. Der war mit einer befreundeten Familie nach Stettin / Szczecin gefahren und hatte seinen Mercedes dort absolut diebstahlsicher geparkt, indem er mit der vorderen Stoßstange mit kaum einer Fingerbreite Zwischenraum an einen Baum herangefahren war und sein Begleiter sein Auto nur einen Millimeter von der hinteren Stoßstange entfernt abgestellt hatte. Sie waren sich sicher: Den Wagen könnte kein Weltmeister wegfahren. Als sie nach zwei Stunden Stadtrundgang zurückkamen, war der Dittberner ’sche Wagen dennoch verschwunden. Großes Bohei bei der polnischen Polizei. Man hielt Jürgen für einen Spinner und Versicherungsbetrüger. Schließlich stellte sich heraus, dass der Mercedes mithilfe eines Krans eines Abschleppdiensts aus der Lücke gehoben worden war. Jürgen sollte ihn nie wiedersehen.
Während wir nach Polen schauen, lenke ich das Gespräch auf Fontane. »Hier irgendwo hinter den Hügeln auf polnischer Seite muss das Hohen-Vietz aus Fontanes Roman Vor dem Sturm gelegen haben. Winter 1812/13. Bernd und Lewin von Vitzewitz, Landsturmtruppe gegen die französischen Besatzer.«
Dass die Kleiststadt Frankfurt (Oder) zum Muss einer jeden Wanderung durch die Mark Brandenburg gehört, ist selbstverständlich. Auf die Universität Viadrina ist schon hingewiesen worden, und alle Baudenkmäler aufzuzählen ist nicht Sache dieses Buchs. Für mich ist nur wichtig, dass Frankfurt eine Straßenbahn hat, man auf seiner Oderbrücke stehen und in vorbeifahrende Kähne spucken kann und schnell drüben in Słubice ist. Dort kann man nicht nur kiełbasa śląska, die schlesische Wurst, essen, sondern von dort erreicht man auch schnell Kunowice, wo am 12. August 1759 die Schlacht bei Kunersdorf stattgefunden hat.
Über Eisenhüttenstadt, von Einheimischen kurz Hütte genannt, ist schon viel berichtet worden, allerdings noch nicht, dass ich dort Verwandte habe und dort schon zweimal zu Lesungen zu Besuch war. Die Gründung der Stadt ist 1950 auf dem III. Parteitag der SED beschlossen worden. Neben dem Eisenhüttenkombinat Ost sollte bei Fürstenberg (Oder) eine sozialistische Wohnstadt mit Namen Stalinstadt entstehen. Nach der Entstalinisierung 1961 wurden dann Fürstenberg und Stalinstadt zu Eisenhüttenstadt zusammengeschlossen. Schön ist hier das Friedrich-Wolf-Theater anzusehen, und die Partie an der Oder ist lieblich.
Weiter geht es nach Neuzelle. Hoch oben auf einem Bergsporn, der bis in die Oderniederung reicht, thront das Klosterensemble, das zwischen 1300 und 1330 von den Zisterziensern erbaut wurde. Betritt man die dreischiffige Klosterkirche, hat man das Gefühl, mitten in Bayern zu sein.
Schade, dass es wieder zurückgeht nach Berlin. Aber wir sind müde. Beenden wir dieses Kapitel mit Joachim Ringelnatz:
Wie jeder, der Großes erlebte,
Als er an Größerem bebte,
Schließlich tief ausruhen will.
Groß Pankow und die Prignitz
Die Gemeinde Groß Pankow übertreibt etwas mit ihrem Namen. Genau genommen, müsste sie mit ihren 3982 Einwohnern Klein Pankow heißen, denn der Berliner Bezirk Pankow weist 394 816 Einwohner auf und ist deshalb das eigentliche Groß Pankow.
»Aber wir liegen auch an der Panke«, lautet der Einwand aus der Prignitz.
»Nun, unsere Panke ist immerhin ein Flüsschen von 29 Kilometern Länge und eure von der Quelle hinter Kuhsdorf bis zur Mündung in die Stepenitz nur ein Bach, der noch nie richtig vermessen wurde«, entgegnet daraufhin der drittgrößte Hauptstadtbezirk.
Als ich kurz vor Weihnachten 1945 Groß Pankow zum ersten Mal betrat, war es noch ein kleines Dorf, heute zählen zu Groß Pankow 18 Ortsteile und 39 Dörfer. Da wir Kinder mit unseren Müttern im Krieg evakuiert wurden, hatte ich zuerst eine Zeit lang in Steinau an der Oder, unweit von Liegnitz, verweilen dürfen, dann in Zieko in der Nähe von Coswig in Sachsen-Anhalt und schließlich in Groß Pankow, gelegen zwischen Perleberg und Pritzwalk. Warum waren wir ausgerechnet hierher gekommen? Weil ein Teil des Reichpostzentralamtes, in dem mein Vater als Techniker beschäftigt war, nach Groß Pankow, und zwar in den Tanzsaal des Gasthauses »Zettgries«, ausgelagert worden war. Meine Mutter und ich bekamen zwei Zimmer im Gehöft des örtlichen Reichsbauernführers Martin Blumenthal zugewiesen. Der war Mitglied in der NSDAP, aber kein überzeugter Nationalsozialist, weshalb er sich auch gut mit meinem Vater verstand, der als Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold ausgewiesener Gegner des NS-Regimes war. Ich war damals nicht einmal sieben Jahre alt, und Martin Blumenthals Tochter Edith wurde meine erste Freundin, mit der ich sogar in einem Bett schlafen durfte.
Gleich hinter der Scheune der Blumenthals lag das Schloss beziehungsweise Herrenhaus der Familie Gans zu Putlitz, das auch heute noch dort zu finden ist. Edith geriet immer ins Schwärmen, wenn sie von ihren Besuchen dort sprach. Mit einer der adligen Töchter ging sie in dieselbe Klasse – leider nicht mit mir, denn ich war an die vier Jahre jünger als sie. Die Dorfschule, heute die Grundschule Juri Gagarin, war wegen uns vielen Flüchtlingskindern aus Berlin und Hamburg so überfüllt, dass eine »Willkommensklasse« im zweiten Gasthaus des Orts eingerichtet werden musste.
Das einst so stattliche Haus von Martin Blumenthal mit viel Schinkel an der Fassade verfällt heute zunehmend, dafür hat die Riesengemeinde Groß Pankow nun ein ansehnliches Rathaus bekommen.
Im Mai 2016 war ich wieder einmal vor Ort, kutschiert wurde ich von meinem Freund Volker, einem gebürtigen Brandenburger. Zuerst suchten wir nach dem Herrenhaus. Sein Wappen fasziniert mich, seitdem ich es zum ersten Mal sah. Auf ihm ist eine auffliegende goldbewehrte silberne Gans vor rotem Hintergrund abgebildet. Ebenso in den Bann gezogen hat mich als Junge der komische Name des Schlossherrn: Waldemar Gans Edler Herr zu Putlitz. Der ließ mich nicht mehr los, und gut sechzig Jahre später habe ich Gustav Gans (1821–1890) in einem Kriminalroman der Reihe Es geschah in Preußen auftreten lassen. Wiedergegeben habe ich die Szene, die in den Erinnerungen von Wolfgang Gans Edler Herr zu Putlitz, erschienen unter dem Titel Unterwegs nach Deutschland, wie folgt beschrieben wird:
Von ihm wurde seit Großvaters Zeiten bei uns in Laaske immer als haarsträubender Skandal die Geschichte erzählt, wie während des regnerischen Sommers von 1852 in Retzin die Ernte nicht eingefahren werden konnte, weil Onkel Gustav die Scheune dazu benutzte, um darin eine heute vergessene Oper »Rübezahl« seines Freundes, des Komponisten Friedrich von Flotow, zum ersten Male aufzuführen.
Ja, Gustav Gans, Gutsbesitzer, Schriftsteller, Theaterintendant und als Politiker sogar Mitglied des Preußischen Herrenhauses, befreundet mit allen Dichtern seiner Zeit von Emanuel Geibel über Gustav Freytag bis zu Franz Grillparzer, war eine herausragende Persönlichkeit.
Angemerkt werden muss, dass Retzin heute ebenso zu Groß Pankow gehört wie die Gemarkungen Kuhsdorf, Kuhbier, Horst und Wolfshagen, während Laaske der Stadt Putlitz zugerechnet wird.
Das Rittergut Groß Pankow war seit Urzeiten im Besitz der Familie Gans zu Putlitz. Waldemar Gans Edler Herr zu Putlitz ist am 2. Mai 1945 beim Einmarsch der Roten Armee ums Leben gekommen, während ich nur eine posttraumatische Belastungsstörung erlitt, als meine Mutter zwei Meter neben mir vergewaltigt wurde.
In Groß Pankow ist Elisabeth Gans Edle Herrin zu Putlitz aufgewachsen, die Mutter des deutschen Mediziners, Kunstsammlers und Genealogen Bernhard von Barsewisch, der am 18. April 1935 geboren wurde. Unmittelbar nach Kriegsende flüchtete die Familie nach Westdeutschland. Von Barsewisch studierte zunächst Biologie, später Humanmedizin an den Universitäten in Hamburg und West-Berlin. 1960 legte er das medizinische Staatsexamen ab, fokussierte sich dann auf die Augenheilkunde, um 1978 außerplanmäßiger Professor in München zu werden. Nach der Wiedervereinigung zog es ihn zurück in seine alte Heimat. 1991 kaufte er das Gutshaus Groß Pankow, um darin eine hochangesehene Augenklinik unterzubringen.
Nebenbei: Auch Edith Blumenthal hat eine interessante Biografie. Sie heiratete einen der Lehrer der oben erwähnten Dorfschule, Herbert Szuks, der später zu einem der führenden Meeresbiologen der DDR wurde. Auf deren Trawlern reiste er um die halbe Welt, um die gefangenen Fische auf Parasiten zu untersuchen. Edith und Herbert haben in Güstrow gewohnt, aber Edith ist nach der friedlichen Revolution noch oft nach Groß Pankow gefahren, um eine Entschädigung