Horst Bosetzky

Streifzüge durch meine Heimat


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hohe, hoch oben mit einem Fichtenwalde besetzte Sandberge zogen. Genau da, wo eine prächtige alte Holzbrücke den von Freienwalde heranführenden Dammweg auf die Neu-Tornow’sche Flußseite fortsetzte, stand das Haus meines Vaters.

      Und da steht es heute noch, an die 150 Jahre später.

      Louis Henry Fontane wurde am 24. März 1796 in Berlin geboren und starb am 5. Oktober 1867 in Schiffmühle. Sein Vater, Theodor Fontanes Urgroßvater, ist unter anderem Kabinettssekretär der legendären Königin Luise von Preußen gewesen. Louis Henry Fontane hat in Berlin das Gymnasium zum Grauen Kloster besucht und in der Leipziger Straße eine Apothekerlehre absolviert, war aber zwischenzeitlich Soldat. Am 2. März 1813 hat er in der Schlacht bei Großgörschen trotz seiner französischen Wurzeln gegen Napoleons Truppen gekämpft hat und ist von einer Kugel getroffen worden, die jedoch in seiner Brieftasche stecken blieb. Später musste er aufgrund von hohen Spielschulden seine Apotheke in Neuruppin verkaufen. Eine Zeichnung von Hellmuth Raetzer zeigt ihn so, wie er im Erinnerungsbuch seines berühmten Sohnes beschrieben wird: Auf dem Kopfe saß ein Käpsel, grün mit einer schwarzen Ranke darum …

      Sein Grabstein ist heute von Moosen und Flechten überwachsen. Die Inschrift lautet schlicht und einfach: Louis Hanri Fontane. Weder Daten noch Fakten sind darauf zu finden.

      Schiffmühlen sind Wassermühlen. Da die träge dahinfließende Alte Oder alles andere als ein wild rauschender Bach ist, fragt man sich, wie mithilfe ihrer Wasserkraft bis 1770 Mehl gemahlen worden sein soll. Heute ist das kleine Fontanehaus in Schiffmühle ein Museum. Besucht man es, kann man sich das Ende der Kinderjahre bildlich vorstellen:

       Als 5 Uhr heran war, mußt’ ich wieder fort. »Ich begleite Dich noch«, und so bracht er mich bis über die Brücke.

       »Nun lebewohl und laß Dich noch mal sehen.« Er sagte das mit bewegter Stimme, denn er hatte die Vorahnung, daß dies der Abschied sei.

       »Ich komme wieder, recht bald.«

       Er nahm das grüne Käpsel ab und winkte.

       Und ich kam auch bald wieder.

       Es war in den ersten Oktobertagen und oben auf dem Bergrücken, da, wo wir von »Poseidon’s Fichtenhain« gescherzt hatten, ruht er nun aus von Lebens Lust und Müh.

      Bad Freienwalde ist mit Falkenberg / Mark wie mit einem siamesischen Zwilling verwachsen. Und auch hier »fontanet« es sehr. Man findet in Falkenberg nicht nur die Villa Fontane, den Fontane-Wanderweg und einen Gedenkstein mit einem Kupferrelief eines Fontanekopfes, auch der Verleger und Sohn von Theodor Fontane, Friedrich, war in dem Ort oft zu Gast. Der Höhepunkt eines jeden Ausflugs nach Falkenberg ist aber das Speisen oder Kaffeetrinken im »Panoramarestaurant Carlsburg«, das schon seit 1838 bekannt und seit 1991 wiedereröffnet ist. Grandios ist der Blick hinunter ins Oderbruch, ein Hochland nach Norden hin bis zur sogenannten Neuenhagener Insel und den bläulich grünen Höhenrücken, die schon zu Polen gehören. Hier muss Joseph von Eichendorff gestanden haben, als er die folgenden Verse gedichtet hat:

       Und ich wandre aus den Mauern

       Bis hinaus in’s freie Feld,

       Hehres Glänzen, heil’ges Schauern!

       Wie so weit und still die Welt.

      Schon allein das Wort Oderbruch löst bei mir hehre Gefühle aus, denn als Junge ist der Roman Die Heiden von Kummerow von Ehm Welk eines meiner Lieblingsbücher gewesen und das darin beschriebene vorpommersche Dorf Kummerow liegt im Bruch hinterm Berge. Selbstverständlich weiß ich, dass Welk eigentlich das Dorf Briesenbow bei Angermünde gemeint hat, das weit entfernt von der Oder liegt, an die sechzig Kilometer flussaufwärts an der Welse – aber was kümmert mich das?

      Steht man auf der hölzernen Terrasse der »Carlsburg« und dreht den Kopf weit nach links, kann man das Schiffshebewerk Niederfinow erkennen. Schaut man nach links unten, blinken dort im Sonnenlicht die Schienen der RB60 (Eberswalde—Frankfurt / Oder), und die blau-weißen Züge der Niederbarnimer Eisenbahn erscheinen so klein wie die einer Modelleisenbahn.

       Am westlichen Ufer der Oder

      Der Titel Viadrus – Heimatbuch für Bad Freienwalde (Oder) und Umgebung verweist auf den Flussgott der Oder, einen kräftigen Mann mit Schilfblättern im Haar, der mit einem griechischen Manteltuch bekleidet ist, ein Ruder in der einen und eine Quellvase in der anderen Hand. 866 Kilometer lang ist die Oder. Das ist nicht viel im Vergleich zu den 2857 Kilometern der Donau, aber immerhin. Die Oder entspringt in Tschechien, wurde von den Polen Oddera genannt und hieß bei den deutschen Gelehrten des 16. Jahrhunderts nach ihrem Gott Viadrus fluvius. Diese Bezeichnung hat sich allerdings nicht durchgesetzt, nur die Europa-Universität Viadrina hat ihren Namen davon abgeleitet.

      Warum die Oder der Schicksalsfluss meiner Familie ist, soll später erzählt werden, an dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass ich zwar nie auf der Oder gepaddelt bin, aber oft auf dem Oder-Spree-Kanal. Dabei habe ich immer davon geträumt, einmal den ganzen Kanal mit seinen insgesamt 65 Kilometern zu bewältigen und bei Eisenhüttenstadt jubelnd in die Oder einzubiegen.

      Schreibt man über die Oder, wäre eigentlich über den Nationalpark Unteres Odertal und seine wunderschönen Flussauenlandschaften zu berichten, aber den habe ich nie erkundet – wir haben es auf dem Oderdeich nur bis zur Nationalparkstadt Schwedt geschafft. Wichtig für mich ist dagegen das märkische Oderland zwischen Bad Freienwalde (Oder) und Neuzelle.

      Von Bad Freienwalde erreicht man mit dem Auto in kurzer Zeit Oderaue, in dessen Ortsteil Zollbrücke das »Theater am Rand« von Thomas Rühmann – bekannt durch die Rolle des Dr. Heilmann in der Fernsehserie In aller Freundschaft – und Tobias Morgenstern betrieben wird. Das Gebäude ist aus massivem Holz und sieht aus, als gehöre es in den Wilden Westen. Hinter der Bühne gibt es keine künstlichen Kulissen, allein die Natur mit ihren Feldern, Bäumen, Hecken, Koppeln, Wegen und Zäunen dient als Bühnenbild. Das ist einzigartig. Ich habe hier mit Freunden und Verwandten im Sommer 2015 das Stück Mitten in Amerika gesehen, eine bitterböse Geschichte um Wasser, Boden, Öl, Windräder und Schweinefarmen in Texas und Oklahoma. Zu Beginn der Vorstellung öffnete sich kein Vorhang – einen solchen gibt es hier gar nicht –, sondern die Schauspieler kamen durch ein Kornfeld von hinten auf die Bühne.

      Nach der Vorstellung ging ich zur Oder hinunter, tauchte meine Hände mit einer rituellen Geste ins Wasser und dachte daran, wie mein Vater hier im Sommer 1937 entlanggepaddelt ist. Von Breslau nach Berlin hat er es geschafft. Meine Mutter war damals, weil sie schwanger war, nicht dabei – ich also auch nicht.

      Wenn man Oderaue beziehungsweise Zollbrücke besucht, sollte man einen Abstecher nach Letschin machen. Dort befindet sich in der Fontanestraße 20 die Fontane-Apotheke, vormals allerdings nicht von Theodor, sondern von seinen Eltern betrieben. Nicht weit ist es auch zu den Seelower Höhen, wo die Rote Armee am 16. April 1945 die Schlacht um Berlin eröffnet hat. Auf einer unserer Wanderungen fanden wir dort noch immer leicht erodierte Schützengräben. Der herrliche Ausblick auf die Oderniederung lässt sich deshalb nicht so recht genießen.

      Mit der Wandergruppe sind wir auch fast jedes Frühjahr zu den Adonisröschen an den Oderbergen in Lebus gepilgert. Lebus war einmal eine Größe in der europäischen Geschichte. Unter dem polnischen Herrscher Mieszko I. ist es zu einem wichtigen Teil des Piastenstaates geworden, und Bolesław III. Schiefmund hat 1125 das Bistum Lebus gegründet. Mitte des 13. Jahrhunderts eroberten dann die Askanier Lebus, und es wurde brandenburgisch. Bald aber wurde Lebus bedeutungslos, denn der Bischofssitz wurde nach Göritz (Oder) verlegt.

      Als wir in Lebus am Oderufer in einem Restaurant sitzen und auf das Essen warten, wandern unsere Blicke nach Polen hinüber, wo auf einem Deich Fußgänger und Reiter zu sehen sind. Ich denke an O Cangaceiro – Die Gesetzlosen, den brasilianischen Abenteuerfilm von 1953, und versuche die Titelmelodie Mulher Rendeira zu summen, werde aber durch den Ruf »Jürgen, dein Auto!« aufgeschreckt.