beizukommen, ihm verwandt zu werden oder etwa verkümmerte Beziehungen neu aufzufrischen und ein Recht auf göttlichen Beistand zu gewinnen, wird – sagen wir als Beispiel – ein dem Gott und darum auch dem Menschen heiliges Tier – ein sonst unbedingt unantastbares – unter allerhand Feierlichkeiten erst geweiht, dann geschlachtet, ein Teil durch Verbrennung oder auf andere Weise der Gottheit zum Genusse dargereicht, das übrige von den Opfernden selbst verspeist. Durch diesen gemeinsamen Genuß der gleichen Speise entsteht die rechtsverbindliche verwandtschaftliche Beziehung der Opfernden zu der Gottheit. »Keineswegs handelt es sich um die Zahlung eines Tributs, vielmehr um die Stiftung genossenschaftlicher Beziehungen zwischen der Gottheit und ihren Anbetern«, sagt Robertson Smith ( Religion of the Semites, Vortrag 6). »Das Tieropfer hat in alten Zeiten nie die Bedeutung einer Gabe an die Gottheit getragen, vielmehr handelte es sich um die Schaffung einer Gemeinsamkeit zwischen den Menschen und ihrem Gott durch das zwischen beide verteilte Leben des Geopferten« (daselbst, Vortrag 10). Von dem fehlerlos ausgeführten Opfer bezeugen Hubert und Mauß: Es bewirkt »die absolute Identifizierung des Opferbringenden, des Geopferten und des Gottes« ( Le Sacrifice, enthalten in Mélanges d'histoire des religions, 1909, S. 73).
Ich überspringe die tausendfachen Umwandlungen und die unerschöpflichen Verwickelungen, welche die menschliche Phantasie sowie die Habgier der Berufspriester erfand: es genügt mir, den zugrunde liegenden Gedanken herausgeschält zu haben.
Auf diesem Wege mußte es zum Menschenopfer kommen. Den urtümlichen Menschen, welche sich kaum von den Tieren zu unterscheiden wußten, mit denen sie in nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zu stehen glaubten und von denen darum immer einzelne Geschlechter als unantastbar galten, fiel es nicht schwer, Tiere zu finden, genügend heilig für den hohen Zweck; in Indien z. B. griff man für die feierlichsten Opfertaten zum edlen Pferd; auch in Griechenland kam es vor, daß man schneeweiße Pferde zu Opfertieren verwendete. Je mehr der Mensch sich seiner Menschenwürde bewußt wurde, um so fühlbarer mußte sich jedoch das Bedürfnis nach einer höher gearteten Vermittelung aufdrängen: welch andere Wahl blieb denn da übrig als die des gottverwandten Menschen selber? Wo man sich scheute, diesen tatsächlich zu töten, griff man zu Finten und Vermummungen: in gewissen Fällen wurde der betreffende Jüngling im letzten Augenblick durch ein stellvertretendes Tier ersetzt; bei einem griechischen Opferfest wurde das Opferkalb, damit es für einen Menschen gelte, in einen Mantel gehüllt und auf Kothurne gestellt, usw. Hierbei blieb die stets rege aufbauende Erfindungsgabe des Menschen nicht stehen, vielmehr war es bald der Gott selber, der geopfert wurde!
Man muß nämlich folgendes wissen. Bei allen Opfern wurde das zu opfernde Wesen (gleichviel ob Tier oder Pflanze) von Hause aus als besonders heilig und auserwählt betrachtet; außerdem geschah das Erdenkliche, diese Eigenschaft möglichst zu steigern, so daß Robertson Smith den Vergleich mit einem elektrischen Akkumulator heranzieht, um begreiflich zu machen, in welchem Grade das Opfer in dem Augenblick vor seinem Tod von Heiligkeit strotzt und strahlt. Deswegen gilt auch der den tödlichen Streich Führende als Mörder und muß sich besonderen Reinigungen unterwerfen; es gab Fälle, in denen er schnell fliehen mußte, andere, in denen man Verbrecher zu diesem Amte anstellte und sie dann wirklich hinrichtete; in Griechenland beliebte man eine Scheingerichtssitzung, bei der schließlich das Messer verurteilt und ins Wasser geworfen wurde. Wer diese Tatsachen kennt, wird leicht begreifen, daß, sobald der Mensch selber das Opfer war, er hierdurch allein schon fast bis zu der Würde eines Gottes emporwuchs. Ein Schritt weiter, und es war der Gott in eigener Person; selbst die Hellenen, deren große Dichter so scharf zwischen Gott und Mensch zu unterscheiden gewußt hatten, bequemten sich leicht zu der Vorstellung von der Verkörperung (Inkarnation) eines Gottes in einem Menschen (O. Gruppe: Griech. Myth. u. Relig.-Gesch., § 307; und siehe für »die Verspeisung der Gottheit«, § 257). Bekannt ist das Beispiel des alten Mexiko, wo alljährlich ein schöner Jüngling als Verkörperung der Gottheit auf Erden auserwählt und eine Zeitlang mit allen einem Gott zukommenden Ehrungsbezeugungen behandelt wurde, um zuletzt unter großen Feierlichkeiten zum Heil Aller geopfert zu werden; Prescott hat in seinem Conquest of Mexico diesen Vorgang meisterhaft geschildert. Seitdem hat man ähnliches vieler Orten aufgedeckt, so daß Frazer einen ganzen Band dem Sterbenden Gott hat widmen können. »In dieser Auffassung des Geopferten als einer göttlichen Persönlichkeit erreicht die Idee des Opfers ihren höchstmöglichen Ausdruck. Unter dieser Gestalt ist sie in die verbreitetsten Religionen der Menschheit eingedrungen und hat dort Glaubenssätze und Religionsgebräuche hervorgebracht, die noch heute leben« (Hubert und Mauß, S. 103).
Einen weiten Weg hat, wie man sieht, der Opfergedanke zurückgelegt, von Anfängen an, die uns Heutigen fast unbegreiflich, kindisch-phantastisch dünken, bis zu Vorstellungen, denen man eine schauerliche Erhabenheit nicht absprechen kann.
Wer hierbei länger verweilt, wird viel lernen über die angeborenen Eigentümlichkeiten des Menschengemütes, namentlich über das beharrliche Kleben am Stoffe, auch bei kühnem Seelenflug und zartgewobenen Gedanken. Hochstehende Männer – Männer, denen das Bekenntnis gemeinsam war: »Gott ist Geist« ( Joh. 4, 24) – konnten auf die Dauer bei diesen Vorstellungen von dem vermittelnden Opfer kein Genüge finden: der Mittler zwischen Geist und Geist – es war nicht anders möglich – mußte ebenfalls Geist sein, sein Wirken ein Geistiges, und das heißt, ein Wirken, nicht auf den Körper, sondern auf Geist und Gemüt, also durch Wort und Tat.
So wären wir wieder bei dem Mittler angelangt, der entweder ein göttlicher Bote ist – vielleicht Gott selber, der sich zu uns Irdischen herabsenkt, und zwar, damit er sich uns verständlich mache, in menschlicher Gestalt – oder ein Mensch, welcher dank hoher und heiliger Gaben bis nahe an das von uns geahnte höhere Wesen heranreicht. Beide Vorstellungen vom Mittler treffen wir in ihrer Reinigkeit bei den arischen Indern an. Nach der Lehre der sogenannten Avataras oder göttlichen Reinkarnationen (von ava-tar, herab-steigen) verkörpert sich der Eingott von Zeit zu Zeit und betritt in Menschengestalt die Welt, um hier der Überhandnahme des Schlechten ein Ziel zu setzen und der unterdrückten Tugend aufzuhelfen. In jener einzigen Dichtung, der Bhagavadgita, spricht der auf Erden unter dem Namen Krishna wandelnde Gott zu dem Helden Arjuna, den er zu Todesverachtung und hohem Sinn anleitet und anfeuert:
Wie Ermatten des Rechts anhebt jedesmal hier, o Bharatas,
Und Erstehen des Unrechtes, so mich erschaff' ich wiederum.
Zu der Schutzwehr der Frommsinnigen, zu der Gottlosen Untergang,
Zu des ewigen Rechts Fest'gung ersteh' ich neu von Zeit zu Zeit4.
Eine Anzahl anderer Verkörperungen des Gottes auf Erden sind dem indischen Denken und Dichten geläufig, wobei wohl zu bemerken ist, daß es sich nicht wie in der griechischen Mythologie um Götter handelt, die zur Förderung ihrer gegenseitigen Ränke zeitweilig auf die Erde herabsteigen und sich in die menschlichen Ereignisse einmischen, sondern stets um den Eingott, der, als sittliche Allgewalt gedacht, den Tugendhaften zur Hilfe eilt gegen die Übermacht der Bösen. Die andere Auffassung des Mittlers tritt uns ebenfalls nirgends auf der Welt so unzweideutig klar entgegen wie bei diesen selben Indern: ein Mensch, an dessen historischem Dasein nach den neuesten Forschungen nicht gezweifelt werden kann, ein Fürst in der Blüte der Jugend und des Wohlergehens, verläßt Thron, Gattin und Kinder, um als Bettler die Heimat zu durchwandern und die Menschen von der Welt mit ihren Sorgen und lügnerischen Verheißungen loszulösen und sie gottwärts zu führen: ein scheinbar wahnsinniges Beginnen, das aber für viele hundert Millionen der Ausgangspunkt zu einem höheren Religionsleben wurde. Hier wird man mir einwerfen, Buddha habe überhaupt an keinen Gott geglaubt. Doch liegt die Sache nicht so einfach; sie läßt sich ohne einige Kenntnis der Abgrundtiefe indischen Denkens nicht klarmachen. Man beachte, daß Buddha selber den Glauben an eine personifizierte Macht des Bösen – also an ein höchstes schlechtes Wesen – Mara, den Fürsten des Todes, hegt: wie der Schatten das Dasein des Lichtes unwiderleglich beweist, ebenso zeugt dieser Satan für das Dasein eines höchsten guten Wesens. Das findet weitere Bestätigung durch folgende Tatsache: ein Mönch, der gelehrt hatte, derjenige Mensch, der ohne Sünden sterbe, falle der endgültigen Vernichtung anheim und befinde sich (wie die Inder sich ausdrücken) »weder diesseits noch jenseits des Todes«, wurde als Ketzer zurechtgewiesen. (Oldenberg: Buddha, 2. Aufl., S. 303.) Über das Jenseits läßt sich eben für den tiefer Denkenden mit dem