Welt der Erscheinung – womit aber keineswegs gesagt wird, es tue sich nicht eine andere Welt auf. Bei jeder Bewegung kann man zwei entgegengesetzte Punkte unterscheiden: von dem einen entfernt man sich, auf den anderen strebt man zu; bei dem »emporstrebenden Willen des Menschen auf Gott zu«, fesselt der erstere – nämlich der Punkt, von dem man sich entfernt (der Mensch) – fast allein Buddha's Blick, der zweite (Gott) schwebt ihm in nebelhafter Ferne. Die Würde des Menschen steht ihm so hoch – und das ist echt arisch an seiner Auffassung – daß ihm an unserem Erdenleben alles armselig-unzureichend erscheint. Seine ganze Überredungsgewalt widmet er dem einen Ziele, die durch Scheingüter betörten Menschen hiervon zu überzeugen, damit sie allem Irdischen entschlossen und endgültig den Rücken kehren. Sobald die neue Richtung eingeschlagen ist, führt sie unausweichlich den neuen Weg; dies genügt, und Buddha verschmäht es, über die bejahende Seite seines Vorhabens Worte zu machen – Worte, die doch nur bildlich und daher auch sinnlich ausfallen könnten, da jedes Bild an bekannte Erscheinungen anknüpfen muß. Solche Enthaltsamkeit – man denke nur als Gegenbild an das Paradies der Mohammedaner – zeugt von Größe und Reinheit.
In diesen beiden Idealen des Mittlers (Gottmensch und Menschgott) erblicken wir eine bemerkenswerte Verbindung von Tiefsinn und Kindlichkeit. Alle die Überlieferungen, in denen der verkörperte Gott auf Erden auftritt, gehören zu dem Erhabensten, was die menschliche Dichtung besitzt; dagegen wirkt es fast verwirrend, wenn man sieht, wie wenig der Allmächtige mit allen seinen Bemühungen ausrichtet; die Menschen bleiben unverbesserlich, und der Gott muß immer von neuem zur Erde herab. Bei Buddha wiederum wirkt sein Leben – die in die Tat umgesetzte Abwendung von der Welt – unbedingt großartig und bildet fraglos die Quelle seiner ungeheuren Wirkung; dagegen liegt Naivität in der Beschränkung des Denkens auf die eine gerade, folgerichtige Linie, welche mit Notwendigkeit ins Leere mündet. Immerhin bleibt es auch für uns Heutige von entscheidendem Werte, diese beiden in ihrer Einfachheit reinsten Vorstellungen des Mittlers zu besitzen, welche sich so gründlich abheben von denen, die uns Europäer seit Kindheit umgeben.
Durch die hellenisch-römische Grundlage unserer gesamten Kultur und dadurch zugleich unserer Bildung und unserer Vorstellungswelt ist uns eine unentwirrbar bunte Menge von Mittelwesen zwischen Mensch und Gott überliefert worden – von olympischen »Göttern« an, die eigentlich bewußt erdichtete Vertreter des im Hintergrund waltenden namenlosen »höchsten Wesens« sind, bis zu vergötterten Volkshelden, zu syrischen Naturdämonen, persischen Engeln, ägyptischen »Todesgöttern«, spätplatonischen Demiurgen, Äonen usw. usw. Es kann nicht zu den Aufgaben des vorliegenden Buches gehören, in diese undurchdringliche Masse hineinzuleuchten; vielmehr begnüge ich mich, einiges Wenige über ein paar Gestalten zu sagen, in denen man deutliche Spuren der Gedankengestalt eines Mittlers wahrnimmt und an deren, während vieler Jahrhunderte nie erlöschender und immer von neuem flammenartig auflodernder Verehrung und Anbetung man das lebendige Bedürfnis des Menschenherzens nach Vermittelung deutlich erkennt.
Es ist nicht so phantastisch, wie es Manchem im ersten Augenblick erscheinen mag, wenn ich in diesem Zusammenhang auf die Gestalt des Herakles hinweise, des volkstümlichsten aller Heroen, die der griechischen Phantasie entsprangen und in der manches Tiefsinnige verborgen liegt. Freilich fällt es nicht leicht, sich in der Überfülle zurechtzufinden; denn von allen Seiten wurde unaufhörlich hinzugetragen, was nur jede Landschaft von übermäßigen Menschenleistungen zu melden wußte, und auch über die Ursprünge haben Dichter und Gelehrte Dutzende von Erklärungen zur Hand, welche von der Deutung als eines reinen Sonnenmythus bis zu der Behauptung reichen, ein bestimmter vorgeschichtlicher Mann habe durch seine überragenden Taten zu allen späteren Erdichtungen den Anstoß gegeben. Ich meine aber, wir gehen nicht fehl, wenn wir in der Weise vereinfachen, daß wir hier vor allem ein Zeugnis erblicken für die unstillbare Sehnsucht des »emporstrebenden Willens« nach gottverwandtem Menschentum – an Körper stark und schön, an Gemüt kindlich und unselbstsüchtig.
Den zweiten zeugt nicht Gäa wieder;
Nicht führt ihn Hebe himmelein;
Vergebens mühen sich die Lieder,
Vergebens quälen sie den Stein.
Und wenn es an der selben Stelle der klassischen Walpurgisnacht heißt:
Da sah ich mir vor Augen stehn,
Was alle Menschen göttlich preisen –
so erinnert das uns daran, daß Herakles auch mit dem »Gott-Sohn« der Phönizier identifiziert wurde, dem weisen, starken Gott, der auf Erden wandelt, überall Heil schaffend (vergl. Daremberg et Saglio: Dict. des Antiq. 3, 79). Sehr bemerkenswert ist auch das Wort Richard Wagner's, der von Herakles sagt: »Hier ward der wahre Mensch erst geboren« (Kunst und Klima); wie wir wissen, wird die Gedankengestalt Gott erst vom wahren Menschen erfaßt: danach hätten wir in dem halb-mythischen Herakles den Vermittler des Gottesgedankens zu verehren. Ähnlich steht es um Asklepios – eine uns Neueren weniger geläufige, zwischen Mensch und Gott schwebende Gestalt, die im Altertum höchstes und allgemeinstes Ansehen genoß als der Inbegriff, nicht so sehr des starken als des überaus weisen, gütigen Helfers in allen Nöten und Schmerzen, von dem es fraglich blieb, ob hier ein Gott vorübergehend auf Erden geweilt habe oder ein Mensch durch seinen »emporsteigenden Willen« bis zur Gottheit erhoben worden sei.
In religiöser Beziehung eine weit größere, durch Jahrtausende hindurch reichende Bedeutung besaß Osiris. Ernste heutige Forscher sind der Überzeugung, die an diesen Namen anknüpfenden Sagen gingen auf eine geschichtliche Persönlichkeit zurück, auf einen Mann, der wirklich gelebt habe, und zwar als Wohltäter ganz Ägyptens, dessen erstaunlich dauerhafte Ordnung er geschaffen, zu dessen Kultur, Reichtum, friedlicher Entwickelung und vielleicht auch Religion er die Grundlagen legte, nämlich auf einen König aus der ersten Dynastie, welcher Jahrtausende vor Christi Geburt unter den Lebenden weilte (Maspéro, Budge u.a.). Dieser große Mann wuchs bald zur mythischen Gestalt aus, zugleich – wenn ich mich so ausdrücken darf –- wuchs er in seine eigene Religion hinein. Er erhielt den uns aus dem ersten Kapitel bekannten Ehrennamen: »das gute Wesen«; er ward zwar nicht dem großen Allgott gleichgesetzt, hieß aber »Herr der Ewigkeit und Herrscher der Toten«; denn Osiris, der als Mensch so unendlich viel Gutes für die Sterblichen getan hatte, erhielt nun im Jenseits das Amt eines strengen, den edelstrebenden Teil der Menschheit treu beschützenden Freundes; als milder Richter waltete er an den Toren des Paradieses. Auf Erden war er – so erzählte die Sage – von seinem eigenen Bruder, dem Geist des Bösen, getötet worden, sein Leichnam zerrissen und die Stücke weit umher gestreut; als es aber nach mühevollen Jahren seiner Gattin Isis gelungen war, alle Stücke aufzufinden und zusammenzutun, belebte ihn der Allgott von neuem – zwar nicht mehr zum irdischen Dasein, doch zur Unsterblichkeit im Jenseits. Hier nun lag der wahre Quellpunkt aller ägyptischen Religiosität, die sonst unter dem gelehrten theologischen Wust der Priesterschulen erstickt wäre. Einer der ersten Forscher unserer Tage schreibt: »Für den Glauben der Ägypter besitzt der grausame Tod und die selige Auferstehung des Osiris die selbe Bedeutung wie der Tod und die Auferstehung Christi für den Glauben der Christen. Wie Osiris starb und von den Toten wieder auferstand, ebenso hoffte ein jeder, durch seine Vermittelung und durch die Berufung auf seinen teuren Namen, aus dem Todesschlaf siegreich zu erwachen, einer seligen Ewigkeit entgegen. In des Lebens Stürmen war dies der Anker, an den die Menschen sich festhielten; diese Hoffnung hat Millionen ägyptischer Männer und Frauen getröstet und aufrecht erhalten, während einer Zeit, die weit mehr Jahrhunderte umspannt, als seit der Gründung des Christentums bis heute verlaufen sind. In der langen Geschichte der Religion gibt es nicht zwei göttliche Gestalten, die in bezug auf die Inbrunst der Hingabe und auf die Überschwenglichkeit der Hoffnungen, die sie entzündet haben, sich so nahe stünden wie Osiris und Christus« (Frazer: Osiris, Kap. 11). Die Gestalten selbst – der große ägyptische Staatsmann, und Jesus von Nazareth, der galiläische Tischlerssohn, dessen »Reich nicht von dieser Welt« – zeigen nicht die geringste Verwandtschaft; auch ihrem gewaltsamen Tode kommt keineswegs eine ähnliche Bedeutung zu. Worin besteht also die von Frazer behauptete »Nähe«? Lediglich in der unermeßlichen religiösen Bedeutung eines Mittlers zwischen Mensch und Gott. Dem bloßen unergänzten Gedanken an Gott wohnt keine entscheidende religiöse Bedeutung bei: er weckt Erkenntnis und Ahnung, ist auch geeignet – wie wir das bei den urtümlichen