von Glaubenssätzen, Zeremonien, ewig wechselnden Mythen usw. verhältnismäßig geringe, hingegen die Kraft und Fülle des unsichtbar fließenden inneren Stromes die allerhöchste Bedeutung. Eine sehr bunte »Religion« kann (wie das bei den Iranern der Fall war) einen starken Glauben an den unaussprechlichen Gott bergen, oder aber dieser kann (wie bei den Altägyptern) unter der Fülle der äußerlichen Momente – der materialistischen Vorstellungen, des Überwucherns der Magie, der weltlichen Beweggründe – in den Massen ganz hinschwinden und nur noch in dem Herzen Einzelner eine Kraft bilden. Ebenso können einfacher gestaltete Kulte aus Armut an Gottesempfindung oder aus Reichtum an Gottesempfindung einfach sein. In den Tiefen des Gemütes fließt eben die Religion: nur dort kann sie erforscht werden; es handelt sich, wie wir sahen (S. 27), um »den emporstrebenden Willen des Menschen«: je bedeutender der Mensch, umso mächtiger strebt sein Wille empor, und umso mächtiger erschallt in seinem Herzen die Stimme des unerkennbaren höchsten guten Wesens. Daher Goethe's Wort: »Gott, wenn wir hochstehen, ist Alles; stehen wir niedrig, so ist er ein Supplement unserer Armseligkeit« (Max. u. Refl. 813). Vielleicht wirft man mir ein, gerade Goethe habe Gott nicht im eigenen Innern, sondern draußen in der Natur erblickt, und erinnert an den Spott seines Ephesischen Goldschmiedes:
Als gäb's einen Gott so im Gehirn
Da! hinter des Menschen alberner Stirn,
Der sei viel herrlicher als das Wesen,
An dem wir die Breite der Gottheit lesen.
Doch bringt der brave Goldschmied keineswegs des Dichters Verhältnis zur Gottheit erschöpfend zum Ausdruck; zum Beweise genügen die vorher angeführten Worte, aus denen hervorgeht, daß Goethe den Zusammenhang zwischen den sich gegenseitig bedingenden Gedankengestalten Mensch und Gott kennt, und weiß, daß die eine zur anderen in genauester Wechselwirkung (Korrelation) steht. Freilich redet Goethe verhältnismäßig selten und meist in geheimnisvollen Worten von dieser reinen Gottesvorstellung; das liegt aber in der Natur der Sache; von einem Wesen, das nur durch »neti, neti« bezeichnet werden kann, ist nicht gut reden. Selbst der Gottesmann Martin Luther gesteht: »Ja! wer weiß, was ist, das Gott heißt? Es ist über Leib, über Geist, über alles, was man sagen, hören und denken kann« (Wider die Schwarmgeister). Nichtsdestoweniger würde ich mich anheischig machen, aus fast jedem Lebensjahre Goethe's Äußerungen nachzuweisen, die für das nie versiegende Bewußtsein des im Inneren empfundenen Gottes zeugen. Ein Brief aus dem fünfundzwanzigsten Lebensjahre (15. 4. 75) bringt z.B. die Worte: »das liebe Ding, das sie Gott heißen, oder wie's heißt, sorgt doch sehr für mich« (wobei zu beachten ist, daß Goethe das Wort Gott, wie im Altnordischen, als Neutrum nimmt). Mit fünfundsechzig Jahren unterscheidet er zwischen den »besonderen Religionen«, die es »schwer scheint aus dem Inneren des Menschen zu entwickeln«, und der »natürlichen Religion«, von der »wir annehmen, daß sie früher in dem menschlichen Gemüte entsprungen«; von letzterer sagt er: »zu ihr gehört viel Zartheit der Gesinnung«. Wenn Goethe als der große Seher Gottes in der Natur bezeichnet werden kann, so gewinnt er diese Fähigkeit gerade aus seinem innigen Glauben an den »Gott im Inneren«. Wir lernten von Pascal, daß einzig, wer sich Gottes in der Seele bewußt ist, ihn draußen in der Natur erblicke (S. 22), und eben hörten wir Goethe's: »Gott, wenn wir hochstehen, ist Alles«. Darum ist es nicht paradox, wenn ich behaupte: in diesem gewaltigen Intellekt ist es der Gott im Inneren, der den Gott draußen in der Natur erkennt. Soviel nur zur zusammenfassenden und ergänzenden Wiederholung der im ersten Kapitel gewonnenen Ergebnisse.
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Zu den Gedankengestalten Mensch und Gott pflegt sich mit fast gleicher Naturnotwendigkeit eine dritte zu gesellen, die freilich schon auf der Grenze des dichtenden Mythos steht und diese Grenze wohl immer bald überschreitet, die aber eine kurze Betrachtung in ihrer ursprünglichen Reinheit verdient, da sowohl Mythos wie Geschichte aus der klaren Erfassung des einfachen Grundgedankens verständlicher werden: ich rede von der Vorstellung eines Mittlers zwischen Mensch und Gott.
Diese Idee eines Mittlers, oder, wenn nicht eines tatsächlichen Mittlers, dann wenigstens irgendeiner vermittelnden Handlung, ist über die Welt weit verbreitet. Werden wir uns erst unserer Vorstellung Mensch als die eines einzigartigen kosmischen Phänomens bewußt, so wächst die Kraft des »emporstrebenden Willens« mehr und mehr: Gott wird immer dringender benötigt, weicht aber, je stürmischer unser Wille die Hände nach ihm ausstreckt, immer weiter zurück: auch dies muß als eine naturnotwendige Tatsache unseres Gemütes erkannt werden, die uns aus anderen überquer entstehenden Ideen – wie Freiheit und Notwendigkeit – bereits vertraut ist. Da nun gebiert die Sehnsucht die Vorstellung eines zwischen Gott und Mensch vermittelnden Wesens: sei es, daß ein menschengeartetes sich bis zur Gottheit aufschwinge, uns Anderen die Wege dorthin bahnend; sei es, daß das »höchste gute Wesen, der Vater im Himmel« sich in Liebe herabneige und – auf irgend eine, vom Verstande nie auszudenkende Weise – uns von seinem Wesen Etwas mitteilt – uns dadurch zu sich emporhebend. Beiden Vorstellungen – dem gottgewordenen Menschen und dem menschgewordenen Gotte – begegnen wir auf allen Seiten; im Grunde genommen gleichen sie einander vollkommen und bedeuten die zwei möglichen Arten, den selben Gedanken des Mittlers auszugestalten. Inmitten der bunten, unausdenkbaren, phantastischen, oft an Wahnsinn grenzenden Fülle, aus welcher unsere »Religionen« gewoben sind, bildet der Gedanke – besser gesagt die Gedankengestalt – des Mittlers den eigentlich und wahrhaft religiösen Kern, neben welchem alles übrige nur als Beiwerk gelten muß –, als ein mehr oder minder zufälliges Beiwerk, zeitlich bedingt und zum Teil rein willkürlich, oft sogar unmittelbar unreligiös, wenn nicht gar antireligiös.
Wir tun folglich gut daran, drei Gedankengestalten deutlich ins Auge zu fassen: der »gottwärts schauende Mensch« (wie der alte Chaucer sich ausdrückt), d.h. derjenige Mensch, der sich bewußt ist, mit seinem Wesen über die Erscheinungswelt hinauszureichen – der Gott, dessen Gegenwart er ahnt und dessen Beistand er erlebt –, dazu eine zwischen diesen beiden vermittelnde Kraft: diese drei Gedankengestalten bilden den Inhalt aller Religion.
Da ich nicht für Gelehrte zu schreiben beabsichtige, noch dazu befugt bin, sondern nur Leser im Sinne habe, welche für die Förderung ihrer eigenen Seele Klarheit suchen, wie ich sie für die meinige gesucht habe, so will ich nicht aus ethnographischen, anthropologischen und religionsgeschichtlichen Werken umständliches Material zusammentragen, sondern begnüge mich damit, die Ergebnisse meines Suchens, Denkens und Erlebens durch einzelne Beispiele kurz zu verdeutlichen – mehr nicht. Kant's Wort über das Dasein Gottes, es sei »durchaus nötig, daß man sich davon überzeuge, nicht aber ebenso nötig, daß man es demonstriere« ( Einziger Beweggrund), gilt auf diesem ganzen Gebiete: sobald von Dingen die Rede ist, die – zum Teil oder ganz – eine Welt jenseits der Welt der Erscheinung betreffen, kann man niemals beweisen, bestenfalls überzeugen: möchte mir das bei Einigen gelingen!
Wie oben schon bemerkt, ist das zwischen Mensch und Gott Vermittelnde nicht immer eine Persönlichkeit, vielmehr scheint diese Auffassung des Vermittlers einer vergleichsmäßig höheren Kulturstufe zu entspringen. Weitaus größere Verbreitung – fast über alle Weltteile und Zeiten – besitzt die Vorstellung einer auf stofflichem Wege zu bewirkenden Vermittelung der erstrebten näheren Gemeinsamkeit des Menschen mit der Gottheit. Keine Leistung der letzten fünfzig Jahre auf religionsgeschichtlichem Gebiete besitzt größere Tragweite und führt tiefer in die Geheimnisse der Menschenseele ein als die Entdeckung des ursprünglichen Wesens des Opfergedankens durch W. Robertson Smith, fußend auf den Arbeiten von Mannhardt und bald weiter verfolgt von Hubert, Mauß, Frazer und anderen, die zwar manches berichtigten und aufklärten, aber jene Entdeckung selbst in allen wesentlichen Punkten bestätigten. Dem Opfer liegt nicht – wie man es uns gelehrt hatte und wie wir es aus der Bibel und aus Homer zu entnehmen glaubten – die Vorstellung einer der Gottheit dargebrachten Gabe oder Abgabe zugrunde, sondern vielmehr der ungleich tiefere Gedanke von der Bedeutung der Blutsgemeinschaft als eines bindenden und verbindenden Mittels zwischen den Lebewesen. Alle noch so urtümlichen Völker achten die Blutsbrüderschaft; durch sie wird eine wahre Verwandtschaft mit ihren Pflichten und Rechten begründet: daher als Ziel die Herbeiführung einer blutsbrüderschaftlichen Verwandtschaft zwischen Mensch und Gott. Schon aber die Tatsache des gemeinsamen Genusses der gleichen Speise stiftet eine zwar