nach Gott fanden sich die Bekenner dieser verschiedenen Religionen stets auf sich selber angewiesen, und somit auf sich selber zurückverwiesen, – auf die eigene Phantasie, auf das eigene Ergrübeln, auf den eigenen Wahn; denn ein tatsächlicher Mittler, einer, den man mit Augen gesehen und mit Ohren gehört hätte, war nicht vorhanden: zwar sollte Osiris einstens gelebt haben, doch lediglich als ein tüchtiger Staatsmann, und im Laufe der Jahrtausende war ohnehin seine wahre Gestalt unter den abenteuerlichen Phantasien der Priester verschüttet worden und verschwunden; Dionysos war der letzte Widerhall uralten, längst vergessenen Dichtens; die meisten um ihn herum stellten allegorische, bestenfalls symbolische Gestalten dar und führten somit immer wieder letzten Endes auf die Natur zurück, nicht zum ersehnten Gotte hin. Unter dem Drucke des unstillbaren Sehnens entwickelten sich nun im Menscheninnern drei Triebe, die immer mehr Gewalt in ihm und über ihn gewannen – alle drei als sichere Wege zur Vermittelung zwischen Mensch und Gott: die Mystik, die Magie, der Glaube.
In einer Beziehung bilden Mystik und Magie entgegengesetzte, sich fliehende Endpunkte, in einer anderen fließen sie ineinander über; am besten ist es, man stellt sich diese drei Triebe vor, als stünden sie zusammen in einer Kreislinie, so daß jeder der drei an die beiden anderen angrenzt, nach jeder Seite Einfluß ausübend und von jeder Seite Einfluß empfangend, jeder der drei aber in seinem eigentlichen Wesen von den anderen durchaus verschieden. Die Mystik bedeutet das Bestreben des Menschen, aus eigenen Kräften zu Gott hinzugelangen und sich an ihn anzuklammern; die Magie knüpft bei ältesten Vorstellungen der urtümlichen Menschen an, die wir oben, bei Besprechung des ursprünglichen Sinnes der Opferhandlungen, kennen lernten, und nimmt an, es gebe Mittel und Wege, eine Gemeinschaft mit Gott zu erzwingen; als Glauben bezeichnen wir die kraftvolle Ruhe einer Seele, welche der Überzeugung lebt, Gott erbarme sich ihres Unvermögens und nehme sich ihrer in Liebe an.
Widmen wir jedem dieser drei Triebe eine kurze Betrachtung.
Wir Heutigen pflegen bei dem Worte Mystik an Männer wie Eckehart und Böhme, wie Franziskus und Hafis zu denken – Männer, bei denen die reine Beschaulichkeit oder die unschuldig-tatkräftige Versenkung in eine erträumte Welt vorwiegt; wir pflegen dabei zu übersehen, daß kein derartiges Bestreben ausschließlich geistiger Art sein kann, vielmehr ein jedes als unvermeidlichen Bestandteil die Überwindung der Körperlichkeit umschließt, was leicht zu wunderlichen Überspanntheiten und gefährlichen Ausschreitungen führt: diese Verneinung des Körpers ist für alle Mystik bezeichnend. Die arischen Inder bekämpften den Körper, indem sie ihn mit eiserner Strenge zu Ruhe und Bewegungslosigkeit erzogen; hierher gehören auch ihre Atemübungen, die den Zweck verfolgten, das Atmen womöglich gänzlich zu unterbinden, wodurch zuletzt langanhaltende Bewußtlosigkeit erzeugt wurde, die als Entrückung galt. Später strebten christliche Mystiker dem gleichen Ziele durch Askese und blutige Selbstkasteiung zu. Weiter verbreitet war und ist jedoch über die ganze Erde das umgekehrte Verfahren: des Körpers durch wirbelnde Bewegung Herr zu werden, ihn in völlige Erschöpfung und zugleich in Verzückung versetzend. Selbst dem nüchternen Mohammedanismus hat es nie gelingen wollen, diese Form der Mystik aus seiner Mitte zu verbannen: des Menschen Verlangen, mit Gott zu verschmelzen, ist ein unüberwindliches. Die Eigenart der aus zahlreichen Schilderungen in ihrem äußeren Verlauf allbekannten dionysischen und bacchantischen Feste der Raserei und des Taumels erfaßt man erst, wenn man begriffen hat, daß es sich keineswegs darum handelt, einer wilden Gottheit Verehrung zu bezeigen, vielmehr darum, die Vereinigung mit einem milden, menschenfreundlichen Gotte zu erringen: dies ist Mystik. Auf der berühmten Vase des Museums zu Neapel naht dem Dionysos von der einen Seite der Zug der trunkenen Bacchanten, auf der anderen Seite stehen in feierlich ernster Versunkenheit Gestalten, die auf göttliche Geheimnisse deuten: die Erkenntnis dieser Geheimnisse bildet das Endziel jener Trunkenheit. Um sicher zu gehen, will ich mich wieder auf einen aller Phantastik unverdächtigen Zeugen berufen – auf Erwin Rohde. Dieser schreibt: »Die Teilnehmer an diesen Tanzfeiern versetzten sich selbst in eine Art von Manie, eine ungeheuere Überspannung ihres Wesens; eine Verzückung ergriff sie, in der sie rasend, besessen, sich und anderen erschienen. Diese Überreizung der Empfindung bis zu visionären Zuständen bewirkten, bei hierfür Empfänglichen, der rasende Tanzwirbel, die Musik, das Dunkel, alle die Veranstaltungen dieses Aufregungskultes. Diese äußerste Erregung war der Zweck, den man erreichen wollte. Einen religiösen Sinn hatte die gewaltsam herbeigeführte Steigerung des Gefühls darin, daß nur durch solche Überspannung und Ausweitung seines Wesens der Mensch in Verbindung und Berührung treten zu können schien mit Wesen einer höheren Ordnung, mit dem Gotte und seinen Geisterscharen. Der Gott ist unsichtbar anwesend unter seinen begeisterten Verehrern, oder er ist doch nahe, und das Getöse des Festes dient, den Nahenden ganz heranzuziehen« ( Psyche, 2, 11 fg.). So finden wir denn innerhalb jener zwischen Mensch und Gott zu vermitteln suchenden Bestrebungen, die wir unter dem Namen Mystik zusammenfassen und die tatsächlich eine organische Einheit bilden, eine ausgedehnte Stufenleiter, von trunkenen Orgien an bis zu jener regungslosen Versunkenheit, welche Fénelon in seiner Placitis sanctorum preist als die pura contemplatio absque activitate et sollicitudine und welche den orphischen Brüderschaften, die einen verfeinerten, verklärten Dionysoskult pflegten, schon bekannt war: der Zweck ist immer die Erhebung bis zur Gottheit durch die Steigerung ins Ungeheuere von Kräften, die im Menscheninnern schlummern.
Wenn die Menschen folgerichtig dächten, ließe sich der Grundgedanke aller Mystik mit den Vorstellungen, die der Magie und dem Glauben zugrunde liegen, nie vereinigen; dies tun sie aber nicht, und so trieb denn namentlich die Magie in den Jahrhunderten vor und nach der Geburt Jesu Christi die üppigsten Blüten, und zwar nicht als Gegnerin der Mystik, vielmehr im Bunde mit ihr.
Nennt man – wie das zu geschehen pflegt – die Magie eine Verwendung übernatürlicher Kräfte, so geht man, glaube ich, an dem springenden Punkt vorüber; die eigentliche Voraussetzung bildet hier die Annahme, die Natur enthalte zu jeder noch so kühn erträumten Wirkung ein hinreichendes Mittel: es komme nur darauf an, dieses Mittel zu kennen, zu ergreifen und richtig zu handhaben. Übernatürliches gibt es bei dieser Weltauffassung überhaupt nicht; der vollkommen Weise würde alles können. Magie ist ein Afterbild der Wissenschaft; sie widerspricht allem, was Glaube zu heißen verdient, und neben ihr erweisen sich die Bemühungen der Mystik als überflüssig; nichtsdestoweniger vermochten zu keiner Zeit weder Mystik noch Glaube sich von ihr loszusagen. Einerseits ist das vollkommen Unverständliche dasjenige, was der Menge am besten zusagt: daß ein mit der Hand geworfener Pfeil, wenn er nur in der richtigen Richtung geworfen ist, den hundert Kilometer entfernten Feind verwunden wird – dies scheint jedem urtümlichen Menschen ohne weiteres einleuchtend, und noch heutigen Tages zweifeln viele nicht, daß, wenn sie eine Wachsfigur beschaffen, die ihren Todfeind darstellen soll, und diese Figur dann mit einer glühenden Nadel durchbohren, der Feind elend sterben muß – geschieht es nicht, so ist bei dem Verfahren etwas verfehlt worden. Noch niemals hat das Kartenlegen und sonstiger derartiger Unfug so stark gewuchert wie im England und Frankreich des heutigen Tages. Es kommt aber noch etwas hinzu. Wir sehen auch die feinsten und die kräftigsten Geister einem mehr oder minder übertünchten Magieglauben frönen und schließen daraus auf ein unüberwindliches Bedürfnis des Menschengemütes.
In diesem Buche haben wir es nur mit der einen Vorstellung einer magischen Wirkung zu tun, die wir schon im Anfang des Kapitels bei der Besprechung des ursprünglichen Opfergedankens kennen lernten: durch den Genuß einer geheiligten Speise wird die Verwandtschaft zwischen den Teilnehmern und Gott hergestellt und hierdurch zugleich Gott verpflichtet, den betreffenden Menschen beizustehen in ihren Nöten. Im weiteren Verlauf der Entwickelung scheint dieser ursprüngliche Gedanke in den Hintergrund gedrängt worden zu sein zugunsten rationalistischerer Vorstellungen von Gabe-, Dank-, Buß-, Reueopfern und dergleichen mehr. Im Homer z.B. findet sich meines Wissens keine Spur eines Hinweises auf die magische Bedeutung des Opfers.
Da trat eine gewaltige Gegenwirkung ein, die wir berechtigt sind als aus den religiösen Bedürfnissen des Menschenherzens entsprungen zu betrachten; auf allen Seiten brach die Bewegung zugleich hervor und erfaßte die gesamte hellenische und mehr oder weniger hellenisierte Welt: alles wollte zu Gott hin, wollte mit ihm verschmelzen – wobei zu beachten ist, daß für die Griechen Unsterblichsein so viel bedeutet wie Gottsein, und ein Mensch, dessen Seele Unsterblichkeit gewonnen hat, insofern Gott gleich zu achten ist. »Die Vereinigung des Menschen mit der Gottheit