als zuverlässige Mainzer Vasallen und Inhaber der Kaufunger Vogtei, zunehmend aus der Region zurück, um sich von 1223 an vorwiegend auf die Burg Wallenstein zu konzentrieren.73 So war Landgraf Hermann I. vor 1217 bereits in der Lage, den Niederzwehrener Rodungszehnten an sich zu bringen. Auch wenn ihn sein Sohn Ludwig IV. 1224 auf Bitten seiner Mutter und der Äbtissin wieder zurückübertrug und damit ausdrücklich für das Seelenheil seines Vaters sorgte,74 war die Kaufunger Vormachtstellung angreifbar geworden. Zweitens verloren die vom Stift kontrollierten Furten bei Niederzwehren und Wolfsanger an Bedeutung, nachdem Kassel, vermutlich nach 1180, eine Fuldabrücke gebaut und damit seinen Standort aufgewertet hatte.75 Überhaupt dürfte der fortgesetzte Ausbau Kassels durch die Ludowinger die Märkte in Wolfsanger und Kaufungen, die von Anfang an gegen die Konkurrenz zu bestehen hatten, geschwächt haben.
Angesichts solcher lokalen Differenzen und Belastungen darf ein großer Erfolg der Stiftsdamen nicht übersehen werden: 1226 wird das Kanonissenstift wieder als reichsunmittelbar bezeichnet. Damit war es, wie gefordert, aus dem Speyerer Besitz herausgelöst und in weltlichen Angelegenheiten erneut dem König unterstellt.76 Drei Jahre später nahm Papst Gregor IX. das Stift unter päpstlichen Schutz und bestätigte die Besitzungen.77
Die Stiftsbauten zur Zeit der landgräflichen Stiftsvogtei
Die Stiftsvogtei gelangte 1297 an Landgraf Heinrich I. von Hessen, der sie von den Brüdern von Gudenberg übernahm. Bis zur Reformation blieb dieses Amt nun in den Händen der Landgrafen, so dass die territorialpolitischen Gegensätze im Kasseler Becken endgültig beruhigt waren. Allerdings unterblieb fortan eine gezielte Förderung Kaufungens als Gegengewicht zu Kassel. Es ist sogar zu vermuten, dass der landgräfliche Territorialherr eine Abwanderung aus den Stiftsdörfern in die nahe Residenzstadt begünstigte und dem Stift verschiedene Rechte und Besitztümer entfremdete. So nutzten Landgraf Heinrich II. und sein Sohn Otto etwa das Patronat über die Kirche in Heiligenrode 1366 zur Dotierung des neuen Kasseler Martinsstifts.78 Zuvor hatte Heinrich II. 1353 Oberkaufungen und die Stiftsdörfer von der in den landgräflichen Territorien erhobenen Schafbede befreit; allerdings galt die Befreiung nur für je maximal 500 Tiere, insofern das Stift überhaupt einer solchen Steuer unterworfen war.79
Deshalb verwundert es nicht, dass sich die Kaufunger Äbtissin mit Vertretern weiterer Klöster und Stifte 1339 und erneut 1386 verbündete, um jegliche Angriffe auf eigene Rechte zurückzuweisen.80 Um 1386 können die kriegerischen Auseinandersetzungen und die drei Belagerungen Kassels unter dem geschwächten Landgrafen Hermann einen unmittelbaren Anlass geboten haben, den auch Mainz zu nutzen versuchte. So beglich Hermann damals Schulden bei zwei Rittern aus ‚seinen‘ Dörfern Kaufungen, Heiligenrode, Umbach und Sandershausen, also aus dem Stiftsbesitz.81 Noch stärker von Entfremdung bedroht war der Fernbesitz insbesondere an der Mosel, der wiederholt gegen die Ansprüche ortsnaher Institutionen zu verteidigen war.82
Überhaupt wurde Hessen seit den 1330er Jahren durch klimabedingte Krisen und daraus resultierende Hungersnöte erschüttert. Von der seit 1348 in Europa verbreiteten Pest wurde die Kasseler Region vor allem in den Jahren 1356/57 heimgesucht.83 Die Folge waren Abwanderungen aus ungünstigeren Siedlungslagen wie gerade den späteren Rodungsdörfern des hohen Mittelalters. Von den Kaufunger Stiftsdörfern fiel Lobesrode wüst, ohne dass das Stiftsleben darunter übermäßig gelitten hätte. Um 1379 erneuerte man unter Äbtissin Adelheid von Ziegenhain sogar noch den Kreuzgang84 und den angrenzenden Südquerarm, der mit einer steinernen Nonnenempore und gotischem Gewölbe ausgestattet werden sollte. Gerade als die Außenmauern des Südquerarms weitgehend standen, scheinen allerdings die Probleme im Kaufunger Stift zugenommen zu haben.
Insbesondere die kriegerischen Ereignisse der Jahre 1385 bis 1388 dürften das Stift unter Margarethe von Stein-Kallenfels (und damit auch den Landgrafen Hermann) schwer geschädigt haben. Stiftsgebäude, Stiftskirche und Wirtschaftshof, der damals schon westlich der Benediktskapelle gelegen haben muss, gingen in Flammen auf.85 Dieser schwere Brand, der alle Erträge, Werkstätten und Vorräte hinwegraffte, lässt sich mehr oder weniger auf Februar 1388 eingrenzen: Während eine Seelgerätstiftung vom 22. Januar noch die Nikolauskapelle am Kreuzgang unterstützte,86 spricht die am 8. März erfolgte Verpfändung der von Kaiser Heinrich II. herrührenden Besitzungen in Escheberg und Obermeiser für erhöhten Geldbedarf.87
Die beiden damals noch im Stift lebenden Damen und einige mit Präbenden versorgte Kanoniker nahmen gleichwohl den Neuaufbau in Angriff. Die ersten neuen Dachbalken der Stiftskirche sind in das Jahr 1391 zu datieren.88 Der Brand hatte nicht nur die Kirchendächer, sondern vermutlich auch die Arkaden des Hauptschiffs und einen Teil des nördlichen Querhauses zum Einsturz gebracht.89 Von dieser Zerstörung zeugen heute noch starke Beschädigungen, die am Durchgang vom nördlichen Seitenschiff zum Querschiff zu erkennen sind.
Die ersten Bauarbeiten betrafen das zerstörte Nordquerhaus, die Vierung sowie das Dach über dem gewölbten Chor, während man das Südquerhaus vermutlich in einem provisorischen Zustand nutzte. Sah man beim Wiederaufbau des Nordquerhauses, das aus statischen Gründen wahrscheinlich zuerst in Angriff genommen wurde, eine flachgedeckte Basilika vor, so erhielten die nachfolgend bearbeiteten Vierungsbögen alle Vorkehrungen für eine Einwölbung, ehe zuletzt im Querarm der oberste Abschnitt der Nordmauer mit den beiden Fenstern ergänzt worden sein dürfte. Die liturgisch wichtigen Ostteile konnten somit bis 1391 wiederhergestellt werden. Allerdings litt das Leben im Stift weiterhin unter massiven Einschränkungen. So musste der erwählte Mainzer Erzbischof Konrad seinem Bericht zufolge mit eigenen Augen ansehen, wie verlassen das Stift war und unter welchen Bedrängnissen die Äbtissin litt. Daher wies er sie an, Pfründe künftig nur noch an Geistliche zu vergeben, die zuvor Treue und Gehorsam gegenüber den Statuten gelobt hätten.90
Aus Kostengründen vereinfachte man auch die Planungen für den Wiederaufbau der Stiftskirche und sah das Langhaus nicht mehr als überwölbte Basilika vor, sondern als schlichte, flachgedeckte Hallenkirche. Bei den Pfeilern und Scheidbögen verzichtete man selbst auf einfachste Achteckprofile.91 Trotzdem waren weitere Einsparungen nötig, so dass die Arbeiten bis 1399 in eine provisorische, flachgedeckte Pseudobasilika mündeten.92 Immerhin war die Zahl der Stiftsdamen zwischenzeitlich von zwei (1390) auf sechs (1397) angestiegen.93 Die neue Äbtissin Berta von Sayn, die 1399 ihr Amt antrat, veranlasste zunächst eine Bauunterbrechung und entließ im Jahr 1400 den Baumeister.94 Doch um 1407 ließ sie die Seitenschiffe mit modernen Maßwerkfenstern versehen,95 und zwei Jahre später erwirkte sie einen Indulgenz- oder Ablassbrief zugunsten des Kirchenbaus und seiner Ausstattung.96 Im Jahre 1416 bekam auch der südliche Querhausarm, der an eine tiefer gelegene, hölzerne Nonnenempore angepasst wurde, ein neues Dach. Auf die beabsichtigte Einwölbung dieses Querhausarms verzichtete man nicht zuletzt, um die Einheitlichkeit des Kirchenraums zu wahren. Doch der Geldmangel blieb nach wie vor akut. Deshalb suchte das Stift 1420 einen zweiten Indulgenzbrief zu erlangen.97
Wenig später wandten sich Landgraf Heinrich II. als Vogt des Stifts, die Äbtissin sowie die Kanoniker an den Papst, um die schon im 13. Jahrhundert umstrittene98 Inkorporierung der Pfarrkirche im Moseldorf Lay, auf die auch Siegburg Ansprüche erhob, zu erreichen und somit die Einkünfte zu vermehren. Nachdem die Vermögensverhältnisse geprüft worden waren, konnte dieser Schritt bis 1423 vollzogen werden.99 Aber die Hoffnung auf eine endgültige Lösung erfüllte sich nicht; die Layer Pfarrkirche ging Kaufungen 1440 gänzlich verloren, als Nikolaus von Kues eine Übertragung an das Kloster Münstermaifeld erwirkte.
Aus dem Jahr 1451 stammt ein weiterer Indulgenzbrief zugunsten Kirchenbau und Ausstattung.100 Möglicherweise wurde damit begonnen, die ottonische Chorapsis durch einen gotischen Polygonalschluss zu ersetzen. Weitere Bautätigkeiten erstreckten sich auf die Stiftsgebäude. Äbtissin Elisabeth von Waldeck (seit 1442 im Amt) ließ 1463 westlich des Kirchturms, auf der Nordseite des Wirtschaftshofs, einen großen Fachwerkbau mit steinernem Erdgeschoss und spätgotischem Erker errichten, der als repräsentatives Amtshaus gedient haben könnte.101 Seine Stelle nimmt heute das Herrenhaus des Stifts ein, in dessen Eingangshalle sich ein großer gotischer Kamin erhalten hat, der unter anderem das Wappen der Äbtissin und eine Datierung zeigt (Abb. 11). Gemäß der Inschrift constructu(m)