Stiftsdame war eine gewisse Schulbildung, die zumindest das Lesen lateinischer Texte und den Chorgesang einschloss, aber nicht unbedingt zum Eintritt in das Stift führen musste.119 Eine einjährige Probezeit, die dem Gehorsamsversprechen folgte und mit dem Recht auf ein eigenes Domizil verbunden war, enthielt die Pflicht zur regelmäßigen Teilnahme an allen Stundengebeten, Chordiensten und anderen religiösen Events der Gemeinschaft.120 Über Dienerinnen und Zofen, die rechtschaffen sein sollten und wie die Stiftsdamen schwarze Kleidung ohne Schmuckstücke trugen, verfügten nur die Äbtissin, die Pröpstin und die regulären Stiftsdamen mit Sitz im Kapitel.121
Jede Stiftsdame hatte das Recht, auf ihre Präbende (ihr aus dem Amt resultierendes Einkommen) zu verzichten, um Familie und Freunde zu besuchen oder sogar ganz auszutreten und zu heiraten; bei nur kurzzeitiger Abwesenheit mit Erlaubnis der Äbtissin konnte sie ihre bisherige Präbende zurückerhalten.122 Von 1397 an wurden keine weltlichen Witwen mehr zu voller Präbende in das Stiftskapitel aufgenommen.123 Anlass dürfte ein Streit gewesen sein, bei dem die Söhne einer Kanonisse eine Fehde mit dem Stift geführt und erst beigelegt hatten, als die Mutter auf ihre Präbende verzichtete.124 In den Statuten waren zudem Essens- und Fastenregeln ebenso berücksichtigt wie die Anstellung von Kellermeistern (für Bier), von Bäckern und Köchen durch Äbtissin und Amtsleute.125 Alle diese oft ins Detail gehenden rechtlichen Bestimmungen und ihre Anwendung in der Praxis bedürfen noch vergleichender Studien.
Visitation, Auflösung und Übergabe an die Hessische Ritterschaft
Die Visitationsanordnung Papst Alexanders VI. vom Oktober 1500 veränderte langfristig auch das Leben in Kaufungen. Ziel war es, zuerst einmal zu überprüfen, ob die der jeweiligen Gemeinschaft zugrundeliegende Regel eingehalten wurde, um dann den oft recht freizügigen Lebensstil in Klöstern und Stiften abzuschaffen. Ein nachfolgendes Schreiben des zuständigen päpstlichen Legaten ordnete im Dezember 1501 die Visitation für alle hessischen Klöster an,126 die dann in Kaufungen erst mehr als sieben Jahre später im Februar 1509 stattfand. Zu diesem Zeitpunkt scheint hier überhaupt nur noch eine Stiftsdame, die 1504 zur Äbtissin gewählte Elisabeth von Plesse,127 gelebt zu haben, die allein den gesamten Wirtschafts- und Kirchenbetrieb organisierte und in Kleidung und Sitte einen recht weltlichen Lebensstil pflegte. Ihr Siegel (Abb. 16) ist an einer Urkunde vom 25. Mai 1507 erhalten.128 Wie die gesamte Siegelführung im spätmittelalterlichen Stift wäre es noch weiter zu erforschen.
16 Siegel der Äbtissin Elisabeth von Plesse vom 25. Mai 1507
Ergebnis war, dass die eingesetzten Visitatoren, die Äbte von Corvey und Bredelar, ein Benediktiner und ein Zisterzienser, sowie der Dekan des Kasseler Martinstifts, ein Kanoniker namens Heinrich Ruland, massive Abweichungen von der Benediktsregel sowie das Fehlen von Ordenstracht und klösterlichem Habitus beklagten.129 Die Äbtissin wäre uneinsichtig und wolle ihren Lebensstil nicht ändern. Solche Aussagen erstaunen, wenn man bedenkt, dass Heinrich Ruland elf Jahre zuvor unter Elisabeths Vorgängerin Agnes von Anhalt Frühmessen in der Kaufunger Georgskapelle gelesen hatte und die dortigen Zustände genau gekannt haben muss.130 Allerdings hatte Agnes, die sich selbst als Agnes geborn furstin zu Anhalt abbatissa der heiligen frien stiffte Cauffungen und Ganderßheim bezeichnete, gleichzeitig Gandersheim geleitet, das sich damals längst der Bursfelder Kongregation angeschlossen hatte. Ein mit Elisabeth einsetzender radikaler Wandel zum lockeren Lebensstil könnte erklären, warum Ruland die Kaufunger Situation so beklagte und die Visitation für notwendig erachtete. Letztlich wurde Elisabeth von Plesse zum Rücktritt gezwungen und trat nach einer Abfindung zunächst in das Kloster Höckelheim, eine Gründung ihrer Familie, ein.
17 Siegel des Kapitels zu Kaufungen vom 2. April 1515
Anstelle der ausgewiesenen Kanonisse(n) kamen acht Benediktinerinnen aus dem westfälischen Kloster Gehrden, das der Bursfelder Kongregation, einer vor allem in Norddeutschland erfolgreichen Reformbewegung, angehörte.131 Interessant ist, dass die Neuangekommenen ihre Institution nach wie vor als kaiserlich freies Stift bezeichneten sowie Ämterstruktur und Präbendensystem übernahmen.132 Nur eine zusätzlich amtierende Kellnerin sorgte für Essen und Vorratshaltung, und der Abt von Breitenau wurde zum geistlichen Betreuer bestimmt. Zehn Jahre später, 1519, kehrte auch Elisabeth von Plesse, nunmehr als einfache Nonne in Ordenstracht und nach einem Gehorsamseid, wieder zurück, nachdem sie im Jahr zuvor intensiv darum gebeten hatte.133 Dass die Heiligkreuzkirche weiterhin im Zentrum des Klosterbetriebs stand, belegt das Siegel des Kaufunger Kapitels vom 2. April 1515 (Abb. 17), auf dem die Umschrift + SIGILLUM ECCL[ES]IE SANCTE CRVCIS IN CUFFHVNGEN den Gekreuzigten umgibt.
Im Zuge der Reformation, der sich Hessen 1524 angeschlossen hatte, löste Landgraf Philipp I. 1527 den Konvent auf und zog den reichen Kirchenschatz ein. Außer den Benediktinerinnen lebten damals 14 Laienschwestern in Kaufungen, die vom Landgrafen abgefunden wurden.134 Die Besitzungen übergab er 1532 der Hessischen Ritterschaft.135 Eine längere Korrespondenz um die Einkünfte aus Heroldishausen im Herzogtum Sachsen zeigt, dass den Rittern der Zugriff auf Ferngüter außerhalb der Landgrafschaft verweigert wurde und die Nonnen engagiert um ihre Ansprüche kämpften.136 Überhaupt erfolgte die gesamte Übertragung gegen den Widerstand der Nonnen, die 1537 sogar einen Prozess vor dem kaiserlichen Kammergericht anstrengten. Obwohl sie diesen Rechtsstreit letztlich gewannen, konnten sie, machtlos wie sie waren, das Recht auf den ihnen zugesprochenen Besitz nicht durchsetzen, denn der Landgraf wies die Forderungen des kaiserlichen Gerichts entschieden zurück.137
Die Hessische Ritterschaft konnte letztlich die in Hessen gelegenen Güter behalten. Eine handkolorierte, nach Westen orientierte Landtafel des unter Landgraf Moritz tätig gewesenen Kartographen Wilhelm Dilich präsentiert beispielsweise anschaulich, dass die Ritterschaft um 1625 über sämtliche Zehnteinkünfte aus der Niederzwehrener Feldmark verfügte (Abb. 18).138 Es ist nicht bekannt, warum die Ritter gerade den Besitz in Niederzwehren, einem ihrer größten Stiftsgüter, so aufwendig erfassen ließen. Vielleicht hatten Streitigkeiten um den Zehnt oder der Zwang, die Güterverwaltung neu zu ordnen, eine offizielle Festschreibung erfordert. Das aus der Vogelperspektive kartierte Gebiet, begrenzt durch die Fulda sowie die Gemarkungen Rengershausen und Oberzwehren, erstreckte sich von der heutigen Südgrenze der Stadt Kassel bis zum Park Schönfeld. Die Sommer-, Winter- und Brachfelder rund um das Dorf Niederzwehren spiegeln die damaligen Praktiken der Dreifelderwirtschaft. Ein eigener Index, der nur das weniger ausgearbeitete Arbeitsexemplar (Abb. 19) ergänzt,139 erklärte obendrein, welche Felder vom Zehnt betroffen und welche befreit waren.
18 Wilhelm Dilich, Landtafel zu den Zehnteinkünften aus Niederzwehren, 1625
Die Landtafel gibt auch Einblick in die Verwaltungspraxis der Hessischen Ritterschaft. Außergewöhnlich ist der Beschreibstoff Pergament, der zusammen mit dem rechts zum Aufrollen angebrachten Holzstab und der metallenen Aufbewahrungshülse des 18. Jahrhunderts auf eine repräsentative Funktion verweist. Die weiteren Umstände der Entstehung lassen sich aus der überlieferten Korrespondenz zwischen dem landständischen Auftraggeber und dem Geographen rekonstruieren.140 Der Kasseler Bürgermeister und Stiftssyndikus Johannes Beckman hatte Dilich mit dem Werk betraut. Im Oktober 1624 begannen die Vermessungen mit vier bis fünf Helfern vor Ort; die Niederschrift war im Februar 1625 beendet. Anton Becker, der Kaufunger Stiftsvogt, wickelte zuerst die Entlohnung ab, ehe die Schlussabrechnung an den Obervorsteher der Ritterschaft Hermann von der Malsburg ging, der nur 66 von 89 verlangten Reichstalern, geschäftstüchtig weitgehend in Naturalien, auszahlte.
19 Wilhelm Dilich, Arbeitsexemplar der Landtafel zu den Zehnteinkünften aus Niederzwehren, 1625
Zusammenfassung
Abschließend lässt sich