Daniel Siegel

Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen


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selbst Mutter wird und nie die Gelegenheit hatte, diese Ereignisse zu verarbeiten und die erschreckenden frühen Erlebnisse zu verstehen, werden sich wohl immer wieder Erinnerungen an Gefühle, Verhaltensweisen, Wahrnehmungen und körperliche Erlebnisse in ihr Leben drängen. Diese unerledigten Angelegenheiten können die Eltern-Kind-Beziehung grundlegend beeinträchtigen.

      Als Eltern neigen wir besonders unter Stress dazu, auf der Grundlage früherer Erlebnisse zu reagieren. Hier eine Geschichte über ein Thema der Vergangenheit, das Dan sich wieder bewusst machte, kurz nachdem er Vater geworden war.

      Hör auf zu weinen!

      Ich fühlte mich immer sehr seltsam, wenn mein Sohn als Baby weinte und sich nicht trösten ließ. Ich war überrascht, dass ich vor Angst und Schrecken in Panik verfiel. Anstatt Ruhe, Geduld und Einsicht auszustrahlen, wurde ich ängstlich und ungeduldig.

      Ich versuchte in mich zu gehen, um diese Gefühle zu verstehen. Ich dachte darüber nach, ob man mich in meiner frühen Kindheit vielleicht lange hatte weinen lassen. Ich konnte mich dessen nicht direkt entsinnen, aber ich wusste, dass der normale Vorgang der kindlichen Amnesie mich daran hindern würde, mir eine so frühe Erfahrung in Form einer zugänglichen autobiografischen Erinnerung ins Bewusstsein zu rufen. Ich fand keine andere plausible Erklärung für diese Panik.

      Ich versuchte es mit einer Geschichte: „Ja, ich muss mich als Kind davor gefürchtet haben zu weinen. Ich musste mich wohl an das Gefühl, verlassen zu sein, anpassen. Wenn mein Sohn nun weint, werden meine Ängste reaktiviert und ich erlebe die damit verbundene Panik.“ Ich dachte lange und intensiv darüber nach. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die Geschichte stimmte. Keine Bilder. Keine Empfindungen. Keine Gefühle. Keine Verhaltensimpulse. Mit anderen Worten: Diese Geschichte weckte keine nonverbalen Erinnerungen. Die Erklärung änderte zudem in keiner Weise meine Panik. Ich dachte, dass dies nicht zwangsläufig heißen musste, das sie nicht stimmte – sie war nur am jetzigen Punkt auf meinem Weg zum Verstehen keine Hilfe.

      Eines Tages war ich gerade bei meinem Sohn, als er anfing zu weinen. Ich fühlte mich hilflos und unfähig, ihn zu trösten, und mich überkam das panische Gefühl, fliehen zu müssen. Dann tauchte in meinem Geist ein Bild auf, das meinen Kopf ganz auszufüllen schien. Die Panik verdichtete sich nun um einen zentralen Punkt. Dann formte sich vor meinem inneren Auge ein Bild, das mit meiner äußeren Wahrnehmung konkurrierte. Ich beschreibe dies nun als innerlich und als äußerlich, aber zu diesem Zeitpunkt waren beide sehr nah beieinander: wie doppelt belichtete Bilder auf einem Videoband. Ich schloss meine Augen. Die äußere Sicht verschwand und das innere Bild wurde klar.

      Ich sah ein Kind, das schreiend auf einem Untersuchungstisch lag, mit einem Ausdruck von Entsetzen auf dem vor Schrecken verzerrten, geröteten Gesicht. Mein Kollege aus meiner Pflichtassistentenzeit auf der Kinderstation hielt das Kind auf dem Tisch fest. Ich hatte die Schreie zu ignorieren. Ich konnte den Raum erkennen. Es war das Behandlungszimmer der Kinderstation des Krankenhauses. Dorthin brachten wir die Kinder, denen Blut abgenommen werden musste. Es war mitten in der Nacht, und wir hatten Bereitschaft, und man hatte uns geweckt, damit wir herausfanden, warum dieser kleine Junge Fieber hatte. Er glühte förmlich, und wir mussten ihm Blut abnehmen, um eine Infektion ausschließen zu können.

      Die Kinder am UCLA Medical Center waren, wie in jeder Universitätsklinik, sehr krank. Viele von ihnen waren schon oft und lange im Krankenhaus gewesen, was ihre Angst aber keineswegs verringerte. Sie wurde im Gegenteil durch die ständigen Blutabnahmen nur noch größer, und dabei wurden auch noch die Venen zerstört. Mein Kollege und ich mussten jede Nacht im Bereitschaftsdienst Blut abnehmen. Nun war ich mit der Abnahme an der Reihe.

      Wenn die Armvenen eines Kindes so vernarbt sind, dass man kein Blut mehr abnehmen kann, muss man eine andere Vene finden. Manchmal mussten wir es wieder und wieder an verschiedenen Stellen versuchen. Wir wechselten uns beim Spritzen und Kindfesthalten ab. Wir mussten Ohren und Herz verschließen. Wir mussten den Blick von den angstvollen Gesichtern der Kinder abwenden, durften ihre Tränen nicht fühlen, die uns über die Hände rannen, und die Schreie nicht hören, die uns in den Ohren widerhallten.

      Aber jetzt konnte ich diese Schreie hören. Es kam kein Blut. Ich musste eine andere Stelle finden. „Nur noch ein Mal“, sagte ich zu dem Kind, das mich nicht hören konnte. Und wenn es mich hören konnte, so verstand es mich nicht. Es fieberte und war krank, war verängstigt, schlug um sich, schrie und ließ sich nicht beruhigen.

      Ich öffnete die Augen. Ich schwitzte. Meine Hände zitterten. Mein sechs Monate alter Sohn weinte noch immer. Und ich weinte ebenfalls.

      Ich war erschüttert von diesem überfallartigen Rückblick. Ich hatte nicht oft an diese lange zurückliegende Pflichtassistenz auf der Kinderstation gedacht, hielt sie als ein „gutes Jahr“ im Gedächtnis und war froh, als es vorüber war. In den Tagen nach dem Rückblick dachte ich viel über diese Eindrücke nach. Ich sprach mit ein paar guten Freunden und Kollegen über meine Erfahrung. Immer wenn ich begann, über die Nächte im Bereitschaftsdienst zu sprechen, hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Meine Hände schmerzten und mir war, als würde ich eine Erkältung bekommen. Wenn die Bilder kamen, fühlte ich Angst und Verzweiflung und war von den Szenen mit den kleinen Kindern überwältigt. Ich versank in der Erinnerung: „Ich darf das Kind nicht ansehen, ich muss die Blutprobe nehmen.“ Ich versuchte sowohl in meiner Erinnerung als auch im Gespräch mit meinen Freunden, den Blick abzuwenden. Ich schämte mich und fühlte mich schlecht, den Kindern Schmerzen zugefügt zu haben. Ich erinnerte mich daran, dass ich jedes Mal, wenn nachts das Rufsignal ertönte, ein Gefühl der Panik unterdrücken musste. Es war keine Zeit, darüber zu sprechen, wie große Schmerzen die Kinder hatten oder wie sehr sie uns fürchteten. Es gab keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie überwältigt und angsterfüllt wir waren. Wir mussten weitermachen; hätten wir ein Pause eingelegt, um nachzudenken, dann hätten wir es nicht ertragen können, fortzufahren.

      Warum kam dieses Jahre zurückliegende „Trauma“ nicht schon früher, vor der Geburt meines Sohnes, in Form einer plötzlichen Rückblende, von Gefühlen, Verhaltensweisen oder Empfindungen zum Vorschein? Die Suche nach einer Antwort wirft Fragen nach dem Abruf von Gedächtnisinhalten und der einzigartigen Konfiguration ungelöster traumatischer Erinnerungen auf. Verschiedene Faktoren machen es wahrscheinlicher, dass eine Erinnerung abgerufen wird. Dies sind unter anderem die mit der Erinnerung verknüpften Assoziationen, das Thema oder der Kern der Erfahrung, der Lebensabschnitt der Person, die sich erinnert, der zwischenmenschliche Kontext und die geistige Verfassung des Einzelnen zur Zeit des Speicherns und des Abrufens.

      Ich bin der Jüngste in der Familie und vor der Geburt meines Sohnes gab es in meinem Leben keine kleinen Kinder. Daher hatte ich nach meiner Assistenzzeit auf der Kinderstation nie Kontakt zu untröstlich weinenden Kindern. Als ich mich dann schließlich in der Gegenwart eines hartnäckig weinenden Kindes befand, reagierte ich darauf mit einem Gefühl von Panik. Diese Panik kann als eine nonverbale emotionale Erinnerung angesehen werden, die durch den Umstand hervorgerufen wurde, dass ein weinendes Kind bei mir war. Sobald mich die Panik überfiel, suchte der Erinnerungsprozess in meinem Geist zunächst nach einer autobiografischen Erinnerung, jedoch ohne etwas zu finden. Zu dieser Zeit gab es keine thematisch erzählende Erinnerung, in welche das Jahr auf der Kinderstation hätte eingewoben werden können. Das Jahr war als „Spaß und vorbei“ abgelegt und ich dachte nicht bewusst darüber nach. Dann kam die Rückblende.

      Oft gibt es einen Grund dafür, dass traumatische Erfahrungen nicht so verarbeitet werden, dass man später jederzeit problemlos auf sie zugreifen kann. Während des Traumas kann eine überlebensnotwendige Anpassung darin bestehen, die Aufmerksamkeit von den schrecklichen Aspekten eines Erlebnisses abzuwenden. Übermäßiger Stress und Hormonausschüttungen während des Traumas können außerdem direkt die Funktionen der Teile des Gehirns beeinträchtigen, die für das Speichern autobiografischer Erinnerungen erforderlich sind. Nach dem Trauma plagt uns die Erinnerung an diese Details, die nur in nonverbaler Form abgelegt sind, mit großer Wahrscheinlichkeit mit zutiefst beunruhigenden Gefühlen.

      Mein Mitgefühl mit den entsetzten Kindern im Krankenhaus war erdrückend. Das Jahr war so intensiv, die Arbeit so anstrengend, die Anzahl der Patienten so groß, die Fluktuation so hoch und der Grad der Erkrankungen so schwer, dass sich meine Kraft, damit fertig zu werden, dem Ende zuneigte.