Daniel Siegel

Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen


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ich ja sagen können: „In Ordnung, jetzt werde ich versuchen, mich an all die Schmerzen, die ich diesen schwer kranken Kindern zufügen musste, zu erinnern.“ Stattdessen dachte ich nicht weiter über das Jahr auf der Kinderstation nach und setzte mein Studium mit dem Thema „Trauma“ fort.

      Als Assistenten versuchten wir das überwältigende Bewusstsein, dass die Patienten sich als passiv, hilflos und verletzlich erlebten, zu verdrängen, indem wir uns als aktive, fähige und unverletzliche medizinische Kräfte sahen. Die Verletzlichkeit der Kinder wurde zu einer Bedrohung für unsere aktive, wenn auch unbewusste, Anstrengung, unsere eigenen Gefühle von Verletzlichkeit und Hilflosigkeit zu leugnen. Im Rückblick wurde die Verletzlichkeit der Kinder zu unserem Feind. Oftmals konnten wir nur wenig tun, um ihre verheerenden Krankheiten zu heilen, und unsere Unfähigkeit, ihnen zu helfen, kam zu unserem überwältigenden Gefühl von Traurigkeit und Verzweiflung noch hinzu.

      In diesem unerbittlichen und schlaflosen Jahr bekämpften wir Krankheiten, bekämpften die existenzielle Realität von Tod und Verzweiflung. Wir mussten die Hilflosigkeit so weit es ging aus unserem Geist verbannen, oder wir wären einfach zusammengebrochen. Die Verletzlichkeit wurde das Ziel unseres Zorns auf das Verbrechen der Krankheit, die wir nicht besiegen konnten.

      Diese unerledigte Angelegenheit zeigte sich mir in der Rolle als verletzlicher Vater meines ersten Kindes. Ich reagierte mit Scham und intensiven Gefühlen auf das Weinen und die Verletzlichkeit meines Sohnes – empfand sie als nahezu unerträglich – und auf meine eigene Hilflosigkeit, ihn zu trösten. Glücklicherweise konnte ich in einem schmerzhaften Prozess der Selbsterkenntnis durchschauen, dass dies etwas mit einer unerledigten Angelegenheit in mir selbst zu tun hatte und kein Fehler meines Sohnes war. Und aufgrund dieser Erfahrung kann ich sehr gut nachvollziehen, wie das als unerträglich empfundene Gefühl der Hilflosigkeit Eltern dazu bringen kann, in ihrem Verhalten gerade auf diese Hilflosigkeit bei Kindern abzuzielen und sie deswegen anzugreifen. Selbst mit Liebe und den besten Absichten können in uns immer noch alte Abwehrmechanismen wirken, die Verhaltensweisen und Erfahrungen unserer Kinder für uns unerträglich machen. Dies mag die Ursache für ein „ambivalentes Elternverhalten“ sein. Wenn Kinder in uns dieses unsägliche Gefühl hervorrufen, das wir nicht bewusst empfinden und sinnvoll in unser Leben integrieren können, laufen wir Gefahr, es auch in unseren Kindern nicht tolerieren zu können. Diese Intoleranz kann uns für die Gefühle unserer Kinder blind machen oder uns diese einfach ignorieren lassen. Dadurch empfinden die Kinder sie als unwirklich und werden von ihrer eigenen Gefühlswelt abgeschnitten. Unsere Intoleranz lässt uns manchmal auch energischer reagieren, zum Beispiel ungeduldig, verärgert oder sogar mit einem direkten, wenn auch nur unbewusst beabsichtigten Angriff auf die Hilflosigkeit und Verletzlichkeit des Kindes. Das arglose Kind wird zum Empfänger feindseliger Reaktionen, die mit seinem inneren Identitätsgefühl verwoben werden und seine Fähigkeit, diese Emotionen in sich selbst zu tolerieren, unmittelbar beeinträchtigen.

      Wenn wir Unerledigtes oder Ungelöstes mit uns herumtragen, ist es unbedingt erforderlich, dass wir uns die Zeit nehmen, innezuhalten und unseren emotionalen Reaktionen gegenüber unseren Kindern nachzuspüren. Wenn wir uns selbst verstehen, geben wir unseren Kindern die Gelegenheit, ihr eigenes Gefühl von Lebendigkeit zu entwickeln, und die Freiheit, ihre eigene Gefühlswelt ohne Einschränkungen und Ängste zu erleben.

      Unterschiedliche Arten des Gedächtnisses

      Warum tragen wir Unerledigtes oder Ungelöstes mit uns herum? Warum beeinflussen vergangene Erlebnisse unsere Gegenwart? Wie wirkt sich Erfahrung eigentlich auf unseren Geist aus? Warum beeinflussen vergangene Ereignisse weiterhin unsere gegenwärtige Wahrnehmung und bestimmen mit, wie wir unsere Zukunft gestalten?

      Die Gedächtnisforschung liefert aufregende Antworten auf diese grundlegenden Fragen. Vom Beginn unseres Lebens an können unsere Gehirne mit der Verknüpfung ihrer Grundbausteine, der Nervenzellen, auf Erlebnisse reagieren. Diese Verknüpfungen bilden die Gehirnstruktur und man hält sie für eine sehr wirkungsvolle Methode des Gehirns, sich an Erfahrungen zu erinnern. Die Gehirnstrukturen formen die Gehirnfunktionen. Die Funktionen wiederum bringen den Geist hervor. Zwar bestimmen auch genetische Informationen grundlegende Aspekte unserer Gehirnanatomie, aber unsere Erfahrungen erschaffen die einzigartigen Verknüpfungen und formen die individuelle Grundstruktur jedes Gehirns. Auf diese Weise formen unsere Erfahrungen unmittelbar die Struktur unseres Gehirns und bringen so den Geist hervor, durch den wir uns definieren.

      Das Gedächtnis ist das Verfahren, mit dem das Gehirn auf Erlebnisse reagiert und neue Verknüpfungen herstellt. Die zwei Arten von Gedächtnis lassen sich durch die zwei Methoden beschreiben, wie Verknüpfungen hauptsächlich erzeugt werden: implizit und explizit. Für das implizite Gedächtnis werden bestimmte Schaltkreise im Gehirn angelegt, die für das Erzeugen von Emotionen, für Verhaltensreaktionen, Wahrnehmungen und wahrscheinlich die Verschlüsselung körperlicher Empfindungen zuständig sind. Es ist ein frühes, nonverbales Gedächtnis, das von der Geburt bis zum Lebensende verfügbar ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt des impliziten Gedächtnisses sind die so genannten mentalen Modelle. Durch mentale Modelle erzeugt unser Geist Verallgemeinerungen wiederholter Erfahrungen. Wenn sich zum Beispiel ein Baby getröstet und geborgen fühlt, wenn die Mutter auf seinen Kummer antwortet, wird es diese Erfahrung verallgemeinern, so dass ihm die Anwesenheit der Mutter ein Gefühl von Wohlbefinden und Sicherheit vermittelt. Wenn es zukünftig über irgendetwas bekümmert ist, wird das mentale Modell seiner Beziehung zu seiner Mutter aktiviert und es wendet sich Trost suchend an seine Mutter. Unsere Bindungsbeziehungen beeinflussen, wie wir andere und uns selbst wahrnehmen. Durch wiederholte Erfahrungen mit unseren Bindungspersonen erzeugt unser Geist mentale Modelle, die unsere Vorstellungen über andere und uns selbst betreffen. In dem oben angeführten Beispiel erlebt das Kind seine Mutter als sicher und aufgeschlossen und sich selbst als fähig, etwas in seiner Umwelt zu bewirken und die Erfüllung seiner Bedürfnisse herbeizuführen. Diese Modelle erzeugen einen Filter, durch den wir unsere Wahrnehmungen nach bestimmten Mustern kanalisieren und unsere Reaktionen auf die Welt gestalten. Durch diese Filtermodelle entwickeln wir charakteristische Sichtweisen und Seinsarten.

      Das faszinierende an impliziten Erinnerungen ist, dass sie ohne die innere Empfindung des „Sicherinnerns“ abgerufen werden. Der Einzelne ist sich nicht einmal bewusst, dass das innere Erlebnis durch etwas aus der Vergangenheit erzeugt wird. So können Gefühle, Verhaltensweisen, körperliche Empfindungen, Auslegungen von Wahrnehmungen und die verzerrende Wirkung bestimmter unbewusster mentaler Modelle unsere momentanen Erfahrungen sowohl in Bezug auf unsere Wahrnehmungen als auch auf unser Verhalten beeinflussen, ohne dass wir uns im Geringsten bewusst sind, dass unsere Vergangenheit gerade Einfluss auf uns nimmt. Erstaunlicherweise kann unser Gehirn implizite Erinnerungen ohne den Weg über unsere bewusste Aufmerksamkeit verschlüsseln. Das bedeutet, dass Elemente in unser implizites Gedächtnis Eingang finden können, ohne dass wir ihnen jemals bewusst unsere Aufmerksamkeit gewidmet haben müssen.

      Nach unserem ersten Geburtstag wird in einem Gehirnbereich, dem so genannten Hippocampus, ein weiterer Schaltkreis angelegt, der die zweite zentrale Erinnerungsform, das explizite Gedächtnis, ins Leben ruft. Es hat zwei Bestandteile: das semantische Gedächtnis, das Fakten verarbeitet, und ungefähr ab einem Alter von anderthalb Jahren zur Verfügung steht, und das episodische oder autobiografische Gedächtnis, das sich irgendwann in dem Zeitraum um den zweiten Geburtstag zu entwickeln beginnt. Die Zeit, bevor das autobiografische Gedächtnis verfügbar ist, wird Kindheitsamnesie genannt und ist ein universelles Entwicklungsphänomen, das in allen Kulturen beobachtet werden kann; es hat nichts mit traumatischen Erlebnissen zu tun, sondern ergibt sich offenbar aus der Tatsache, dass bestimmte Gehirnstrukturen noch nicht ausgebildet sind. Im Gegensatz zum impliziten Gedächtnis gehen explizite Erinnerungen mit einem inneren Gefühl des Sicherinnerns einher. Beide Arten des expliziten Gedächtnisses bedürfen der bewussten Aufmerksamkeit für das Einspeichern von Eindrücken.

      Einzigartig am autobiografischen Gedächtnis ist, dass es ein Gefühl von Selbst und Zeit beinhaltet. Voraussetzung für diese Art der Erinnerung ist die ausreichende Reife eines Gehirnteils, die um den zweiten Geburtstag herum erreicht wird. Dieser Teil des Gehirns wird präfrontaler Kortex oder Stirnlappen genannt, da er sich ganz vorn am vordersten Teil der obersten Gehirnschicht, dem Neokortex, befindet. Der präfrontale Kortex ist für eine ganze Reihe von Prozessen außerordentlich wichtig, unter anderem für das