Daniel Siegel

Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen


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über uns und nicht von uns geschrieben. Unverarbeitetes kann sich unmittelbar auf unsere Sicht von uns selbst und unseren Austausch mit unseren Kindern auswirken. Wenn sie unsere Lebensgeschichte schreiben, dann wird sie nicht von uns selbst erzählt. Dann zeichnen wir nur auf, wie die Vergangenheit weiterhin, und oftmals ohne dass wir uns dessen bewusst sind, unsere gegenwärtigen Erfahrungen beeinflusst, und die Richtung unserer Zukunft bestimmt. Wir treffen keine wohl überlegten Entscheidungen, wie wir mit unseren Kindern leben möchten, sondern reagieren nur auf Grundlage vergangener Erfahrungen. Wir geben förmlich unsere freie Wahl der Richtung auf und schalten auf Autopilot, ohne dass wir auch nur im Geringsten wissen, wohin dieser uns führen wird. Oft versuchen wir die Gefühle und das Verhalten unserer Kinder zu steuern, obwohl es eigentlich unser eigenes inneres Erleben ist, das uns erst gegen dieses Verhalten aufbringt.

      Wenn wir aufmerksam beobachten, was wir innerlich erleben, wenn uns das Verhalten unserer Kinder stört, dann können wir beginnen zu verstehen, wie unsere eigenen Handlungen der liebevollen Beziehung, die wir zu unseren Kindern haben möchten, zuwiderlaufen. Mit der Lösung unserer eigenen Angelegenheiten erhalten wir mehr Spielraum und werden im Austausch mit unseren Kindern flexibler. Wir können Erinnerungen in unsere Lebensgeschichten so integrieren, dass sie einen Sinn ergeben und die gesunde Entwicklung unserer Kinder, sowie unsere eigene, fördern.

      Übungen von innen heraus

      1. Schreiben Sie in Ihr Tagebuch, wann Sie emotional und gereizt reagieren. Vielleicht bemerken Sie bestimmte Interaktionsmuster im Austausch mit Ihrem Kind, die solche emotionalen Reaktionen hervorrufen. Belassen Sie es zunächst dabei, diese zu bemerken – versuchen Sie noch nicht, Ihre Reaktionen zu verändern, beobachten Sie nur.

      2. Erweitern Sie Ihre Beobachtungen, indem Sie überlegen, ob die Reaktionen Ihrem Kind gegenüber implizite Ursachen haben könnten. Denken Sie an die impliziten Elemente des Gedächtnisses und an die Tatsache, dass diese nicht in Form von konkreten Erinnerungen wahrgenommen werden. Implizites explizit zu machen, indem man diesen eher automatischen Elementen aus der Vergangenheit bewusst seine Aufmerksamkeit widmet, ist ein wichtiger Schritt dahin, sich selbst besser zu verstehen und eine intensivere Beziehung zu seinem Kind aufbauen zu können.

      3. Denken Sie an eine Angelegenheit aus Ihrem Leben, die Ihre Fähigkeit, eine flexible Beziehung zu Ihrem Kind aufzubauen, beeinträchtigt. Denken Sie an die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Aspekte dieser Angelegenheit. Fallen Ihnen irgendwelche Themen oder allgemeine Muster aus früheren Interaktionen ein? Welche impliziten Gefühle und körperlichen Wahrnehmungen tauchen auf, wenn Sie heute an diese Angelegenheit denken? Haben Sie diese Gefühle auch bei anderen Gelegenheiten gehabt? Gibt es Punkte in Ihrer Vergangenheit, die dazu beitragen? Wie wirken sich diese Themen und Gefühle auf Ihr Selbstbild und Ihre Beziehung zu Ihrem Kind aus? Wie beeinflussen sie Ihre Erwartungen an die Zukunft?

      IM LICHT DER WISSENSCHAFT

      Wissen und Wissenschaft

      Seit Anbeginn der Geschichtsschreibung sind Menschen daran interessiert, die Welt zu verstehen. Mit der Weiterentwicklung wissenschaftlicher Technik wurden die Fragen, die man stellen und zu beantworten versuchen konnte, immer anspruchsvoller, die verfügbaren Werkzeuge immer komplizierter und technischer, und die Forschungsgebiete immer zahlreicher. Es gibt Tausende professioneller Zeitschriften und Unmengen von Spezialisierungen in Dutzenden von akademischen Wissenschaften, in denen aktiv versucht wird, die Welt, in der wir leben, zu verstehen.

      Um Wissen zu erlangen, verwendet dieses Buch einen interdisziplinären Ansatz, wie er in Daniel Siegels Buch The Developing Mind erforscht wird, das davon ausgeht, dass es in der Welt, einschließlich menschlicher Erfahrungen, eine „Realität“ gibt, die durch sorgfältige Untersuchungen im Detail erkannt werden kann. Jeder einseitige Ansatz muss jedoch begrenzt bleiben; so wie in dem alten indischen Gleichnis, in dem eine Gruppe Blinder die verschiedenen Teile eines Elefanten ertastet, kann eine einzelne Erfahrung oder ein einzelner Blickwinkel nur einen Teil der größeren Realität enthüllen. Wenn jeder Blinde seinen Teil an Informationen über den Elefanten beiträgt, formt sich allmählich das Bild des ganzen Elefanten.

      Eine interdisziplinäre Sicht zielt darauf ab, die Berührungspunkte zwischen unabhängigen Wissensgebieten zu finden, so dass sich ein einheitliches Wissen herauskristallisieren kann. Der Evolutionsbiologe E. O. Wilson schrieb in seinem Buch Consilience (Die Einheit des Wissens), dass eine Vereinigung des Wissens im akademischen Umfeld aufgrund der Trennung der wissenschaftlichen Disziplinen voneinander nur schwer zu erreichen sei. Ein interdisziplinärer Ansatz vermag diese Trennungen jedoch zu überbrücken, so dass sich die Wissenschaft weiterentwickeln kann.

      Jede Forschungsdisziplin, jede Quelle von Wissen, hat ihren ganz eigenen Ansatz, ihre Konzepte, ihr Vokabular und ihre Art und Weise, Fragen zu stellen. Ein interdisziplinärer Ansatz respektiert alle Mitwirkenden in gleicher Weise und erkennt an, dass diese Art der Zusammenarbeit der Weg ist, unsere Sicht der größeren Realität, die wir zu verstehen suchen, zu vertiefen. Dazu müssen wir mit Bescheidenheit und Offenheit danach streben, über die Grenzen der einzelnen Disziplinen hinweg herauszufinden, wie der Elefant tatsächlich aussieht.

      Die Forschungsgebiete, auf die wir zurückgreifen werden, reichen von der Anthropologie bis zur Psychologie, von der Hirnforschung bis zur Psychiatrie und von Linguistik und Erziehungswissenschaften bis zur Erforschung der Kommunikation und komplexer Systeme. Ein Institut, an dem dieser übergreifende Ansatz verfolgt wird, ist die „Foundation for Psychocultural Research – UCLA Center for Culture, Brain, and Development“, eine Stiftung an der University of California in Los Angeles. Dieses Institut bietet Studenten und Fakultäten verschiedene Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung in solch einem interdisziplinären Umfeld, in der Hoffnung, eine neue Generation von sich einander annähernden Forschern, Lehrern und Praktikern zu unterstützen.

      Bindungen, Geist und Gehirn

      Seit Jahrtausenden versuchen Menschen die Essenz des Menschseins zu begreifen. Die menschliche Psyche, definiert als Seele, Intellekt und Geist, ist eine funktionierende Entität, von der man annimmt, dass sie aus den Gehirnaktivitäten entsteht. Das Gehirn, selbst ein integriertes System des Körpers, wird unter Zuhilfenahme der sich explosionsartig entwickelnden neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaften erforscht. Die Gehirnforschung erkundet, wie geistige Vorgänge durch die Aktivität feuernder Neuronen im Gehirn entstehen.

      Gleichzeitig befasst sich das unabhängige Fachgebiet Psychologie mit der Erforschung des Menschen entlang verschiedenen Dimensionen: Erinnerung, Denken, Emotionen und Entwicklung, um nur einige zu nennen. Unser Verständnis der kindlichen Entwicklung wurde durch ein Teilgebiet dieses Themenfeldes weit vorangebracht: die Bindungstheorie. Die Forschung in dieser Richtung hat uns neue Erkenntnisse darüber vermittelt, wie der Umgang der Eltern mit ihren Kindern deren spätere Entwicklung beeinflusst. Es konnte gezeigt werden, dass sich zwischenmenschliche Beziehungen und Kommunikationsmuster, die Kinder mit ihren Bezugspersonen erfahren, direkt auf die Entwicklung geistiger Prozesse auswirken.

      So können wir nun das Wissen darüber, wie das Gehirn mentale Prozesse hervorbringt (Neurowissenschaften) mit dem Wissen, wie Beziehungen mentale Prozesse formen (Bindungsforschung) in eine direkte Beziehung zueinander setzen. Diese Konvergenz ist die Essenz unseres wissenschaftlichen Ansatzes, der „interpersonellen Neurobiologie“, und sie bildet das Gerüst, von dem aus wir zu einem Verständnis der alltäglichen Erfahrungen von Kindern und ihren Eltern gelangen können.

      Die interpersonelle Neurobiologie geht hinsichtlich der Entwicklung von folgenden Grundprinzipien aus:

      • Der Geist ist ein Prozess, der mit dem Fließen von Energie und Informationen zu tun hat.

      • Der Geist (der Strom von Energie und Informationen) tritt durch das Zusammenspiel von neurophysiologischen Prozessen und zwischenmenschlichen Beziehungen zutage.

      • Der Geist entwickelt sich, während das genetisch vorprogrammierte Heranreifen des Gehirns auf fortlaufende Erlebnisse reagiert.

      Wissenschaftler gehen zwar davon aus, dass die Muster, in denen das neuronale Netzwerk feuert, den „Geist“ – nämlich Prozesse wie Aufmerksamkeit, Emotionen und Erinnerungen – hervorbringen. Jedoch wissen wir nicht genau, wie die Gehirnaktivitäten die subjektive