Prinzip war ihr natürlich aus der Schule das Rechnen mit Exponenten geläufig. Aber erstens wollte sie ihren Fauxpas wiedergutmachen, und zweitens hatte sie das Gefühl, dass er ihr auch zu diesem Thema Grundlegendes vermitteln konnte. Sie sollte sich allerdings täuschen. Er vermittelte ihr nicht nur Grundlegendes, sondern Revolutionäres.
»Gut, dass Sie das Thema ansprechen. Wir können zu einem tieferen Verständnis der Zeit und des mit ihr verknüpften Entropie-Begriffs nur gelangen, wenn wir grundlegender über Zahlen, ihre Dimensionen und die Exponentialfunktion an sich gesprochen haben. Wenn es um große Zahlen geht, haben die Menschen immer grundlegende Probleme.«
Dem wollte sie nicht widersprechen. »Warum ist das so?«
»Das liegt zunächst daran, dass uns eigentlich nicht klar ist, wie viel eine Million oder eine Milliarde wirklich ist, auch wenn wir von diesen Zahlen angesichts immer modernerer Computer mit mehr Leistung oder immer höherer Staatsverschuldung ständig hören und deshalb meinen, uns diese Größenordnung unproblematisch vorstellen zu können.
Eine Million ist eine gängige Größe. Es gibt Millionen von Arbeitslosen in jedem Land, und immer mehr Menschen sind Millionäre. Aber wissen Sie, wie lange ein Mensch braucht, um von eins bis zu einer Million zu zählen?«
Er beantwortete die Frage gleich selbst. »Es sind ungefähr drei Wochen, wenn man Tag und Nacht zählt. Wenn man acht Stunden für Schlaf und Essen abzieht, dann vier Wochen. Man sollte vielleicht manchen Managern das Gehalt in Ein-Dollar-Noten auszahlen und ihnen nur so viel Gehalt zahlen, wie sie in ihrer Freizeit zählen können.«
Sie musste laut lachen.
»Und wissen Sie, wie lange es dann dauert, um bis zu einer Milliarde zu zählen?«
»1.000 mal so viel«, sagte sie.
»Ja, aber wissen Sie, wie lang das 1.000-fache von vier Wochen wirklich ist? Es ist ein ganzes Menschenleben, etwa 76 Jahre. Wenn man mit zehn Jahren anfängt, muss man schon 86 Jahre alt werden, um bis zu einer Milliarde zu zählen.«
Es ging um Zahlen, und da war er in seinem Element. »Man kann die Dimension der großen Zahlen nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich erfassen«, sagte er und freute sich insgeheim über die geschickte Verbindung zur Grundstruktur allen Seins. »Legt man 100 US-Dollar-Noten so lange übereinander, bis eine Million Dollar zusammenkommen, macht dies einen Stapel von etwa zwei Metern aus.
Wenn wir eine Milliarde Dollar stapeln wollten, wäre dieser Stapel bereits fünfmal so hoch wie das Empire State Building. Und für die Darstellung der amerikanischen Staatsverschuldung müsste man mit 100 US-Dollar-Noten einen Turm mit einer Höhe von mehr als 30.000 Kilometern bauen. Dieser Turm würde bis weit in den Weltraum reichen.«
»Erschreckend!« Sie war mehr als beeindruckt, lehnte sich zurück und lauschte fasziniert seinen Worten.
»Da die Menschen immer häufiger mit großen Zahlen zu tun hatten, sind die Mathematiker unter ihnen irgendwann auf die Idee gekommen, die Exponentialfunktion zu entwickeln, also durch eine hochgestellte Zahl die Darstellung großer Zahlen zu vereinfachen. So lernen wir in der Schule, dass 22 gleich 4 ist und 33 gleich 27. In dieser eleganten mathematischen Darstellungsform steckt aber ein Riesenproblem, weil die Exponentialfunktion ganz schnell das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt.
Der Physiker Albert A. Bartlett hat sogar die Exponentialfunktion zum größten Manko des menschlichen Denkens erklärt. Er sagte: ›Die größte Schwäche von uns Menschen ist unsere Unfähigkeit, die Exponentialfunktion wirklich zu verstehen.‹17«
Und er fügte die etwas überraschende Frage hinzu: »Spielen Sie Schach?«
»Ja, natürlich.« Aber was hatte das mit der Exponentialfunktion zu tun? Er half ihr auf die Sprünge.
»Rufen wir uns die alte indische Legende in Erinnerung, von einem Weisen, der das Schachspiel zur Zerstreuung und Belehrung seines Königs erfunden haben soll. Als Dank wollte ihm der König einen Wunsch erfüllen. Der Wunsch des Weisen schien bescheiden: Er bat um nichts mehr, als dass er allen Weizen bekommen sollte, der sich daraus ergeben würde, wenn man auf das erste Feld ein Weizenkorn legt, auf das zweite Feld doppelt so viel, also zwei Körner, und auf das nächste Feld wieder doppelt so viel wie auf das vorherige Feld, mithin vier Körner, und so weiter. Der König verspottete den Weisen, weil er nur so wenig forderte. Am nächsten Morgen verging dem König das Lachen, als der Hofmathematiker, der die ganze Nacht gerechnet hatte, ihm erklärte, was der König dem Weisen schuldete. Die versprochene Menge Weizen sei weder in der Weizenkammer des Königs, noch in allen Weizenkammern von Indien noch in allen Weizenkammern der ganzen Welt vorhanden, erklärte der Hofmathematiker dem König. 264 minus ein Korn Weizen schuldete der König dem Weisen.«
»Wie viele Körner sind das?«
»Das sind etwa 18 Trillionen Körner Weizen.«
Sie musste ihn unterbrechen: »Wie kann man sich diese Menge vorstellen?«
»Betrachten wir die Weizenmenge einmal aus dem Blickwinkel der Technik der modernen Zeit. Würde man 18 Trillionen Körner Weizen in einen Güterzug verfrachten, dann bräuchte der Güterzug, wenn in jeden Waggon 20 Tonnen passen würden und wenn er mit 80 km/h an einem vorbeiführe, 730 Jahre, um zu passieren!18 Meistens fahren Güterzüge aber wesentlich langsamer, sodass eine Passierzeit von etwa 1.000 Jahren durchaus realistisch ist.«
Das Beispiel imponierte ihr. »Den Exponenten hätte ich auch unterschätzt. Allerdings ist 64 auch ein ziemlich hoher Exponent, oder?«
»Ja, aber bedenken Sie, das Beispiel mit dem Schachbrett bezieht sich auf 2er-Potenzen. Wir reden hier nur über die Kraft der Verdoppelung.
In unserem dezimalen Rechensystem sprechen wir dagegen von Zehnerpotenzen. Da ist alles noch viel schlimmer. Da geht es nicht um die Verdoppelung, sondern um die Verzehnfachung. Die Erhöhung des Exponenten um eine Stelle bedeutet eine weitere Null am Ende einer Zahl. Das dürfte jedem klar sein, und doch unterschätzen wir diese Null gewaltig. Wir neigen dazu, die Nullen am Ende gedanklich so zu behandeln, als wäre es eine Null in den uns bekannten Größenordnungen von 10er-Potenzen. Ein wahrhaft fataler Irrtum.
Je größer der Exponent wird, desto sprunghafter steigt auch die Ausgangszahl an. Denn jede weitere Zahl im Exponent, also jede weitere Null am Ende, bedeutet nicht nur die Verzehnfachung irgendeiner Zahl, sondern der vorherigen Zahl, mag diese auch noch so groß sein.«
Das war ihr doch alles klar, dachte sie. Weit gefehlt.
»Zur Verdeutlichung ein Beispiel«, fuhr er fort. »Die kürzeste Sprintstrecke bei den olympischen Spielen hat eine Länge von 102 m, also 100 Meter, das längste Laufduell, der Marathonlauf, umfasst eine Strecke von circa 4,2 mal 104 Meter, mithin 42 Kilometer. Von Hamburg nach Wien sind es fast 1.000 Kilometer, nämlich 106 Meter. Fährt man 107 Meter weiter ist man am Kap der Guten Hoffnung in Südafrika und in einer Entfernung von 108 Meter hat man ein Viertel des Weges zum Mond hinter sich. Nach einem Flug von 109 Meter könnte man auf dem Mars sein, und die Sonne ist von der Erde 1,5 mal 1010 Meter entfernt.
Obwohl der Exponent von der Sprintstrecke von 102 Meter nur verfünffacht wurde, ist man schon auf der Sonne. Und die Vergrößerung der Zahlen nimmt explosionsartig weiter zu. Zwischen 102 Kilometer und 103 Kilometer liegen 900 Kilometer, zwischen 1012 Kilometer und 1013 Kilometer aber bereits 9.000.000.000.000 Kilometer. Und die Zahlen steigen immer sprunghafter an. Wenn es im Universum insgesamt 1080 Atome gibt, dann sind 1083 Atome bereits so viel Atome, wie in 1.000 Universen passen würden.«
Puh. Jetzt hatte er es ihr aber gegeben. Das war jedenfalls der Gedanke, der durch die Milliarden von neuronalen Netzwerkverbindungen in ihrem Gehirn schoss. Imponierend, diese Zahlenspielereien. Na gut, es war mehr als Spielereien. Die Beispiele waren beeindruckend und lösten bei ihr eine noch größere Ehrfurcht für die Dimension großer Zahlen aus.
»Gleiches gilt natürlich auch für die Betrachtung