Volkmar Jesch

Ein Quantum Zeit


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können wir da feststellen? Zunächst ist die eine, von Ihnen ausgelöste und beeinflusste Kausalkette zum Unfall zu berücksichtigen, indem Sie zu einer bestimmten Zeit aufgestanden, das Fahrzeug gestartet, etwas später auf die Autobahn eingebogen sind und schließlich den Unfallort zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht haben. Eine weitere Kausalreihe betrifft selbstredend Ihren Unfallgegner.

      Es sind aber nicht nur diese ursächlichen Vorgänge zu beachten. Es hat ja auch geregnet, also muss der Regen irgendwie ausgelöst worden sein, der Straßenbelag hatte aufgrund der verwendeten Materialien und der Dauer seiner bisherigen Benutzung eine bestimmte Beschaffenheit, die durch das Regenwasser weiter verändert wurde. Nicht zuletzt waren Ihre Aufmerksamkeit und die des anderen Fahrers beeinflusst von irgendwelchen Gedanken in Ihren Gehirnen, davon, was Sie über den Tag getan, gegessen oder nicht gegessen hatten, kurzum von der biologischen Beschaffenheit aller ›Ihrer Teile‹.

      Wenn Sie jetzt den Zeitpunkt unmittelbar vor dem Zusammenstoß genauer betrachten, werden Sie feststellen, dass für die Bestimmung des Zustandes in einem bestimmten Moment unheimlich viele Dinge gleichzeitig zu berücksichtigen sind, die alle eine selbständige Kausalreihe haben. Ganz viele Kausalketten laufen aufeinander zu, bevor ein bestimmtes Ereignis stattfindet.

      Doch dürfen wir bei der Untersuchung der Geschehnisse nicht vergessen, dass in jedem Moment noch sehr viel mehr passiert, als wir wahrnehmen oder jemals werden wahrnehmen können. Ich meine damit nicht nur das Verhalten von anderen Lebewesen, die durchaus Einfluss auf das Geschehen in unserer Welt haben können, wie der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings zeigt, der einen Hurrikan auslösen kann.

      Eine Analyse des Zustandes in einem Moment wäre aber unvollständig, wenn sie nicht berücksichtigen würde, dass die Welt aus Molekülen, Atomen und aus deren subatomaren Bestandteilen, also aus ganz kleinen Teilchen besteht, deren Verhalten ebenso Einfluss auf unser Geschehen nimmt. Wir müssen tiefer in die Materie gehen, um unser Bild von einem Zustand der Welt zu einem Zeitpunkt zu vervollständigen.

      Das ist aber noch nicht alles. Wir müssen auch den Mechanismus verstehen, wie die Gegenwart voranschreitet in die Zukunft, wie sich also ein – näher analysierter – Zustand in einem Zeitpunkt zu einem anderen Zustand im nächsten Zeitpunkt entwickelt. Wenn wir tatsächlich das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen, müssen wir das Rad in alle Elemente eines Zustandes exakt einrasten lassen, die Prinzipien entschlüsseln, wie sich das Rad vorwärtsbewegt, um uns anschließend der Frage zuzuwenden, ob das Ganze auch in umgekehrter Richtung geht.

      Die Grundprinzipien hierzu haben wir schon besprochen. Die Zukunft ist offen, es gibt in jedem Moment verschiedene Möglichkeiten, also verschiedene andere Zustände, in die wir uns begeben können. So entwickelt sich unser Leben, so schreitet die Gegenwart voran. Von den vielen möglichen Zuständen, die sich für uns eröffnen, treten wir regelmäßig als Nächstes in den wahrscheinlichsten ein. Also ganz offen ist die Zukunft nicht, sie ist dem Wahrscheinlichkeitsdogma unterworfen.

      Schauen wir uns also näher die dahinterstehenden Gesetzmäßigkeiten an, versuchen wir die Prinzipien der weiteren Gegenwartsentwicklung zu entschlüsseln, um auf dieser Basis zu prüfen, ob wir in der Zeit zurückgehen können, oder ob uns die Entropie oder andere kosmische Gesetze daran hindern. Wollen Sie das wirklich alles hören?«

      »Ja«, antwortet sie kurz und bündig.

      »Gut. Ich sehe, Sie trinken Wasser mit Eis. Das Eis ist schon fast ganz geschmolzen. Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, warum das Eis eigentlich schmilzt? Ihnen mag vielleicht diese Frage seltsam vorkommen, weil wir diesen Vorgang gleichsam verinnerlicht haben. Nie haben wir den umgekehrten Vorgang gesehen, und ich will Ihnen gleich sagen, dass er auch noch nie im Universum passiert ist.«

      »Ich denke doch, dass es den umgekehrten Vorgang gibt«, sagte sie und legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Stellen Sie eine Schale warmes Wasser in den Gefrierschrank, dann wird das Wasser zu Eis gefrieren. Das ist die Umkehrung des Vorganges, in dem das Eis schmilzt.«

      »Nein, es ist nicht die Umkehrung, es ist der gleiche Vorgang. Sie werden gleich verstehen, warum das so ist.«

      Veränderung des Blickwinkels

       Bring vor, was wahr ist,

       schreib so, dass es klar ist,

       und verficht es, bis es mit dir gar ist.

       Leitspruch von Ludwig Boltzmann,

       Physiker

      »Dass Eis im Wasser schmilzt oder Wasser im Eisschrank gefriert, scheinen triviale Erkenntnisse zu sein«, fuhr er fort. »Bei näherem Hinsehen sind die Vorgänge überhaupt nicht trivial, sondern höchst komplex.

      Zur näheren Analyse springen wir in den Bereich der atomaren Struktur und stellen uns die Atome einmal als Teilchen, als Partikel, vor. Denken Sie an den Formationsflug der Teilchen in einem hüpfenden Ball. Dieses Bild wollen wir jetzt aufgreifen und die Sichtweise deutlich verfeinern. Neben der phänomenologischen Behandlung der Entropie als Ausdruck der Nicht-mehr-Nutzbarkeit von Energie kann man nämlich die Entropie auch atomistisch deuten.19 Und dabei werden wir wieder auf die Wahrscheinlichkeit treffen und noch mehr über sie erfahren.«

      »Moment, es gibt zwei Möglichkeiten, Entropie zu deuten?«, staunte sie. »Und das bringt uns auch dem Verständnis näher, warum man die Zeit nicht zurückdrehen kann?«

      »Nicht nur das. Es bringt uns dem grundlegenden Verständnis der Vorgänge im Innersten der Natur näher. Auf einmal verstehen wir, warum bestimmte Dinge in unserer Welt passieren und andere wiederum nicht«, antwortete er. »Beide Deutungen der Entropie bedeuten das Gleiche, wobei uns die mathematischen Einzelheiten hierzu nicht wirklich interessieren sollten. Es ist immer dieselbe Entropie.

      Es war der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann, der Ende des 19. Jahrhunderts die grundlegende Einsicht zum Verständnis der Entropie gewann. Boltzmann wurde 1844 in Wien geboren. In der Schule immer Klassenbester, legte er sein Abitur mit 17 Jahren ab. Bereits mit 25 Jahren wurde Boltzmann ordentlicher Professor für mathematische Physik in Graz. Aufenthalte in Heidelberg und Berlin folgten, bevor Boltzmann wieder nach Wien zurückkehrte. Später wechselte er nach Graz und Leipzig.

      Boltzmann war ein genialer Physiker. Er las aber auch über philosophische Probleme der Naturwissenschaften. Diese Vorlesungen waren so berühmt, dass auch der größte Hörsaal in Wien nicht ausreichte, um alle Zuhörer zu fassen.

      Boltzmanns Größe wurde schon zu Lebzeiten anerkannt. Doch seine Thesen waren umstritten. Vor allen Dingen seine Auffassung zur atomaren Beschaffenheit der Materie wurde von dem Physiker Ernst Mach, der an der gleichen Universität lehrte, heftigst bekämpft, was dem manischdepressiven Boltzmann sehr zu schaffen machte. Mach, immerhin einer der prominentesten Naturwissenschaftler seiner Zeit, soll den jüngeren Kollegen Boltzmann nach einem Vortrag einmal gefragt haben: ›Und haben S’ schon einmal ein Atom g’sehn, Herr Kollege?‹20

      Doch Boltzmann hatte recht, und er sollte derjenige werden, der auf der Basis eines atomaren Aufbaus der Materie dem Verständnis der Entropie die entscheidende Richtung gab. Die Konstante, die die Formel zur Entropie prägt, wird ihm zu Ehren ›Boltzmann-Konstante‹ genannt.

      Albert Einstein hielt Boltzmanns Theorie für die wichtigste, die je entwickelte wurde. Seine, also Einsteins Relativitätstheorie, habe zwar Newtons Theorie abgelöst, doch auch sie werde irgendwann von einer anderen Theorie verdrängt werden, so Einstein selbstkritisch. Aber die Theorie von Boltzmann sei ewig. Die werde niemals abgelöst werden.

      So genial Boltzmann auf der einen Seite war, so schrullig war er wohl auch. Um mit Milch versorgt zu sein, so wird kolportiert, kaufte sich Boltzmann eine Kuh und trieb sie selbst mitten durch die Stadt nach Hause.

      Boltzmann starb 1906 in der Nähe von Triest. Er beging Selbstmord. Das bedeutet aber nicht, wie mancher Physiker spöttelt, dass es gefährlich ist, über die Entropie nachzudenken.

      Max Planck war so angetan von der Boltzmannschen Formel zur Entropie21, dass