Volkmar Jesch

Ein Quantum Zeit


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       Entropie ist etwas, was man nicht versteht,

       aber man gewöhnt sich daran.

       Max Planck,

       Physiker

      Welches war nun Boltzmanns grundlegende Einsicht? Die bisher behandelten Phänomene stellen, genau genommen, nur einen, wenn auch sehr wesentlichen Teilbereich der Entropie dar. Es gibt auch andere Phänomene, die der Entropie zugeschrieben werden, etwa dass wir im Winter frieren, was ja nicht mit Reibung zu erklären ist.

      Um die Entropie in all ihren Ausprägungen zu verstehen – und das ist die Voraussetzung für ein grundlegenderes Verständnis zur Zeit – müssen wir zwischen dem Makro- und dem dazugehörigen Mikrozustand unterscheiden. Als den Makrozustand bezeichnen wir den Zustand in unserer Welt, einen Zustand, wie wir ihn eben für einen Moment unmittelbar vor dem Unfall näher beschrieben haben. Jetzt gehen wir tief in die Materie und wenden uns dem Mikrozustand zu, dem Zustand in der Welt der ganz kleinen Teilchen.«

      »Wodurch werden Makro- und Mikrozustand, sagen wir einmal des Glases Mineralwasser charakterisiert, das gerade vor mir steht?«, fragte sie.

      »Nun, ganz einfach. Zum Makrozustand gehören etwa die Angabe der Temperatur des Wassers oder der Druck im Wasser. Um den Mikrozustand zu erkennen, verändern wir die Sichtweise und schauen auf die atomare beziehungsweise molekulare Ebene. Es ist so, als würde man das Glas Wasser zunächst auf die herkömmliche Art auf seine Gegebenheiten untersuchen und sich dann eine Lupe kosmischen Ausmaßes holen, um nachzuschauen, was sich tatsächlich im Inneren des Wassers abspielt, damit dessen Temperatur oder der Druck in der Flasche realisiert werden können.

      Was sehen wir unter der Lupe? Teilchen flitzen ständig hin und her, wechseln die Richtung und stoßen aneinander. Halten wir jetzt einmal ihre Bewegung gedanklich an, stellen uns quasi einen atomaren Schnappschuss mit sehr kurzer Belichtungszeit vor, dann sehen wir einen Zustand in der atomaren Welt. In der nächsten Millisekunde beziehungsweise in einem noch viel kürzeren Zeitraum gibt es bereits den nächsten Zustand, weil sich dann die Teilchen schon wieder woanders hinbewegt haben. Wir nennen diese einzelnen Zustände Mikrozustände. Für einen neuen Mikrozustand würde es sogar ausreichen, dass nur ein Teilchen seine Position geändert hat.

      Jetzt können wir versuchen, die Gegebenheiten in der für uns wahrnehmbaren Welt unter Berücksichtigung der vielen kleinen Teilchen zu erklären. Wenn wir zum Beispiel davon reden, dass das Wasser eine bestimmte Temperatur hat, ist damit in Wahrheit die Bewegungsenergie der Teilchen im Wasser gemeint. Je schneller sich die Teilchen bewegen, desto höher ist die Temperatur und umgekehrt. Im warmen Wasser bewegen sich die Teilchen also schneller als im kalten Wasser. Bei dieser Sichtweise ist der Druck ein Maß dafür, wie intensiv die Teilchen an das Glas der Wasserflasche oder deren Verschluss drücken. Mit dieser sehr allgemeinen mechanischen22 Vorstellung haben wir ein ungefähres Bild von dem, was auf der atomaren oder molekularen Ebene passiert.«

      Ihr gefiel es, wie er die Alltagsgrößen aus ihrer Umwelt, wie Temperatur und Druck, mit der für sie neuen Sichtweise so anschaulich und nachvollziehbar beschreiben konnte. Es ging ihr nicht mehr nur um die Zeit. Jetzt ging man den Dingen wirklich auf den Grund. Sie hatte das Gefühl, der atomare Blickwinkel könnte auch ihr Verständnis von der Welt runderneuern.

      Momentan war man aber noch beim Zustand des vor ihr stehenden Getränkes. »Die Welt besteht aber nicht nur aus Wasser«, stellte sie lapidar fest.

      »Ja«, sagte er, »es gibt auch Cola und Red Bull …«

      Sie lächelte milde und präzisierte ihre Frage: »Mir ging es um etwas Anderes. Wofür hilft uns diese atomare Sichtweise?«

      »Sie gibt uns einen Zugang zum tieferen Verständnis allen Seins.«

      Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht.

      »Verlassen wir jetzt kurzzeitig die Getränke«, sagte er. »Stellen wir uns zur Illustration ein Behältnis vor, das mit idealem Gas gefüllt werden soll. Das Behältnis ist in der Mitte durch eine Zwischenwand getrennt. Die Zwischenwand hat einen Spalt, der aber zu Beginn unseres kleinen Experiments geschlossen ist. Wir füllen das Gas in den linken Teil des Behältnisses ein und öffnen dann den Spalt. Was passiert?«

      »Nun, ich denke, einige Teilchen werden den Spalt treffen und auf die rechte Seite wechseln, wieder andere werden zurück von der rechten auf die linke Seite wechseln.«

      »Völlig zutreffend. Irgendwann werden die Teilchen einigermaßen verteilt in der linken und in der rechten Seite des Behältnisses aufzufinden sein.

      Im Rahmen einer statistischen Betrachtung …«, (sie triumphierte wieder einmal innerlich), »kann man nun der Frage nachgehen, wie viele Möglichkeiten es für die Anordnung der Teilchen in den beiden Hälften gibt, unter der Annahme, dass die Teilchen sich frei bewegen können, also keinen sonstigen Kräften unterworfen sind.23

      Bei einem Teilchen gibt es nur eine Möglichkeit, da gibt es nur einen Mikrozustand. Üblicherweise gibt es aber viele, sehr viele Teilchen. In unserer Welt würde ich mir nun die Gesamtzahl der Teilchen anschauen, die sich in der linken oder in der rechten Seite des Behältnisses befinden, und mich nicht darum kümmern, welche Teilchen wo sind. Anders bei der Betrachtung auf der Mikroebene. Dort bestimme ich jede Kombination für die Verteilung der Teilchen und suche nach der Zahl der für die Teilchen zugänglichen Zustände.

      Man kann nun ausrechnen, wie viele verschiedene Mikrozustände, also wie viele verschiedene Anordnungen der Teilchen, zu einem Makrozustand gehören24, zu dem Zustand, den wir anhand von Messungen der uns bekannten Kenngrößen, wie Temperatur und Druck, als einen Zustand ansehen würden. Nein«, sagte er und machte eine längere Pause.

      »Ausrechnen trifft es nicht ganz. Um die Eigenschaften eines ganzen Komplexes sehr vieler Systeme zu berechnen, wurde eine extra Wissenschaft entwickelt, die statistische Mechanik«, und er hielt kurz inne, »denn die Berechnung nur eines einzigen Koordinatensatzes würde so viele Bücher füllen, wie in 1014, also in 100 Billionen Universitätsbibliotheken passen.«

      Kosmische Größenordnungen

       Anschaulich ist, woran man sich gewöhnt hat.

       Ludwig Boltzmann,

       Physiker

      Hatte sie richtig gehört? Er sprach von 100 Billionen Universitäts-Bibliotheken?25 Die Größe der Zahl verblüffte sie.

      »Wobei helfen so viele Mikrozustände?«, wollte sie wissen.

      »Unter dem Blickwinkel der unglaublich vielen Mikrozustände haben wir die Möglichkeit, einen Zustand in unserer Welt sehr viel genauer zu beschreiben«, antwortete er. »Wenn wir jetzt die detaillierte Beschreibung von einem Zustand mit der eines anderen Zustandes vergleichen, können wir die Wahrscheinlichkeit des Wechsels von einem Zustand in einen anderen bestimmen. Die Tiefenanalyse der verschiedenen Zustände und ein Vergleich der Zustände untereinander gibt uns den Schlüssel für die wahrscheinliche Entwicklung der Welt.«

      Sie war fasziniert, wie er von den verschiedenen Mikrozuständen die mögliche Zukunftsentwicklung ableiten wollte, und bat ihn: »Können Sie das mit einem Beispiel verdeutlichen?«

      »Ja, gerne. Sie werden so den Vorgang des Eisschmelzens besser verstehen.

      Nehmen wir an, Sie haben zwei Gefäße jeweils mit einem Liter Wasser gefüllt. In dem einen Gefäß beträgt die Wassertemperatur 10,5 Grad Celsius und in dem anderen 9,5 Grad Celsius.26 Wenn Sie jetzt die beiden in Verbindung bringen, was passiert dann?«

      »Ich nehme an, das Wasser in den beiden Gefäßen wird nach einiger Zeit eine Temperatur von zehn Grad Celsius haben. Unterschiedliche Temperaturen gleichen sich an. Eigentlich ist nicht viel passiert, aber …« Sie war vorsichtig geworden. Ihr Gefühl täuschte sie nicht.

      »Absolut richtig. Aus unserer Sicht ist nicht viel passiert. Die Temperatur des Wassers in dem einen Gefäß