Volkmar Jesch

Ein Quantum Zeit


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ist schwer verletzt?« Sie war bestürzt. Sie hatte überhaupt nicht gedacht, dass jemand beim Unfall verletzt worden sein könnte. Ihre Stimmung ging gerade granatenmäßig in den Keller. »Ja, er ist am Brustkorb verletzt. Nach der ersten Diagnose möglicherweise eine Lungenquetschung oder sogar eine Wirbelsäulenverletzung«, führte der Polizist weiter aus. »Wir haben nur kurz mit ihm sprechen können. Die endgültige Diagnose stehen noch aus. Seine Aussage zum Unfallhergang ist allerdings eindeutig.«

      Sie wurde blass. »Auch meine Aussage zum Unfallgeschehen ist eindeutig«, betonte sie. »Schließlich ist er auf mich aufgefahren. Nach deutschem Recht gilt: Wer auffährt, ist schuld an einem Unfall.«

      »Der Unfall passierte aber nicht in Deutschland«, war die Antwort. »Näheres zur Schuldfrage werden wir erst beantworten können, wenn das Unfallgutachten vorliegt. Die Erstellung eines Gutachtens hat die Staatsanwaltschaft angeordnet«, sagte einer der Polizisten. »Der Fall hat hohe Priorität, weil Ihr Unfallgegner nicht nur möglicherweise schwer verletzt, sondern auch ein hochrangiger Politiker ist.«

      Ihr blieb ja nichts erspart, dachte sie.

      »Das Gutachten könnte schon im Laufe der Woche vorliegen. Wir schicken es Ihrer Versicherung, oder haben Sie bereits einen Rechtsanwalt konsultiert?«

      »Nein, bei Gott, nein, warum sollte ich?«, antwortet sie. Die Beamten schwiegen.

      Zum Glück hatte sie ihre Handtasche zum Frühstück mitgenommen, in der auch die Versicherungskarte war. Sie händigte die Karte einem der Beamten aus. Er notierte die Daten. Auf ihre Bitte wurde zugesagt, das Gutachten an ihre private E-Mail zu senden. Die Adresse wurde notiert.

      »Kann ich auch die Daten meines Unfallgegners haben?«, bat sie. Sie erhielt einen Bogen mit den entsprechenden Informationen. Allerdings fehlte die Angabe seines derzeitigen Aufenthaltsortes. »Können Sie mir bitte noch sagen, in welches Krankenhaus man ihn gebracht hat?«, war daher ihre Anschlussfrage.

      Die Beamten wurden misstrauisch. »Warum wollen Sie das wissen«, fragte der eine, »Ihr Unfallgegner ist ein wichtiger Politiker, der bestimmt nicht von Ihnen gestört werden möchte.«

      »Ich möchte ihn besuchen, weil es mir leid tut, dass er verletzt wurde, auch wenn ich keine Schuld an dem Unfall trage. Das macht man in Deutschland so. Außerdem kann er vielleicht selbst entscheiden, ob er mich sehen möchte.«

      Nach kurzer Diskussion der beiden Polizisten untereinander, erhielt sie eine Telefonnummer. »Das ist die Nummer der Krankenstation, auf der er liegt«, sagte einer der Beamten. »Wenn er mit Ihnen reden will, wird Sie die Stationsschwester bestimmt verbinden.«

      »Waren noch Fahrzeuge an dem Unfall beteiligt, oder sind andere Personen verletzt?«, wollte sie weiter wissen.

      »Nein«, war die Antwort. »Es gibt leider auch keine verwertbaren Zeugenaussagen.« Sie wurde abschließend um Mitteilung gebeten, ob sie Verletzungen erlitten habe. »Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber ich habe nur leichte Schmerzen in der Schulter«, antwortete sie.

      »Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie für weitere Fragen zur Verfügung stehen könnten und uns informieren würden, wenn Sie abreisen wollen«, wurde ihr beschieden. Sie nickte stumm. Die Polizisten gingen wieder.

      Was für ein beschissener Tag, dachte sie. Er hatte so hervorragend begonnen, und nun das. Möglicherweise war sie auch noch schuld daran, dass jemand anderes schwer verletzt war. Und der Verletzte war nicht nur ein »hohes Tier« in der Politik, das Ganze war auch noch in einem fremden Land passiert. Na, prost Mahlzeit. Der Appetit war ihr vergangen. Ein Kaffee wäre jetzt das Richtige. Sie ging zurück in den Frühstücksraum. Von der Sonne war nichts mehr zu sehen. Die Wolken hatten ihr den Weg versperrt. Passt, dachte sie. Auf einmal hatte sich das Universum gegen sie verschworen. Von dem Brötchen nahm sie nur einen kleinen Bissen. Den frischen Espresso, den ihr die aufmerksame Kellnerin gebracht hatte, trank sie. Er tat ihr gut.

      Das gibt es doch gar nicht, dachte sie. Ich bin wirklich vom …, nein, sie war nicht vom Pech verfolgt. Sie musste sich eingestehen, dass es durchaus im Rahmen des Wahrscheinlichen gelegen hatte, dass jemand bei diesem Unfall verletzt worden sein konnte, möglicherweise sogar schwer. Sie hatte an diese Möglichkeit nur nicht gedacht. Christophers Weltbild stimmte immer noch, obwohl, musste es auch noch ein bekannter Politiker sein? Auch die fuhren gelegentlich Auto und hatten Unfälle. Hatten die nicht alle einen Fahrer? Dienstlich wohl, aber nicht auf der privaten Reise in den Urlaub. Irgendjemand musste ja ihr Unfallgegner sein. Zwar weniger wahrscheinlich, das alles, aber durchaus im Bereich des Möglichen.

      Jetzt war sie wirklich auf dem Berg gefangen. Über den ärztlichen Rat hätte sie sich noch hinwegsetzen können, aber für die Polizei musste sie sich zur Verfügung halten. Schöne Sch…

      Auf der anderen Seite stand nicht fest, dass der Unfallgegner wirklich schwer verletzt und, vor allen Dingen, sie schuld an dem Unfall gewesen war. In einem war sie sich sicher: Sie hatte nicht abrupt gebremst. Daran würde sie sich erinnern. Es war alles ganz normal gewesen, eine ganz gewöhnliche Fahrt, wenn man von dem starken Regen einmal absah, bis sie aufgrund des rückwärtigen Aufpralls ins Schleudern gekommen und ihr geliebtes Auto auf die Leitplanke gedonnert war. Sie war vorsichtig gefahren, wie alle anderen Fahrzeuge in der Kolonne, vermutlich auch ihr Unfallgegner bis zum Aufprall. Nicht zuletzt war ihr Vater mit dem Auto bei einem Wolkenbruch ins Schleudern geraten und … Sie wollte nicht auch noch daran denken.

      Sie ging nach dem Frühstück auf ihr Zimmer und rief einen ihrer Freunde an, der gerade sein Jura-Examen bestanden und eine Anstellung als Anwalt in einer internationalen Anwaltssozietät angetreten hatte. Ihm erzählte sie alles. Er versprach ihr, zu helfen und, für den Fall der Fälle, auch einen ausländischen Rechtsanwalt zu besorgen. Seine Kanzlei hatte entsprechende Verbindungen. Er würde aber nichts veranlassen, bevor nicht die Ergebnisse des Unfallgutachters vorlägen, meinte er. Sie sollte nur ihrer Versicherung die Daten des Unfallgegners mitteilen, was sie unmittelbar nach dem Telefonat auch tat. Und sie solle sich überhaupt keine Sorgen machen. Wer auf ein anderes Auto auffahre, trage auch nach anderen Rechtsordnungen die Schuld am Unfall. Die Aussage stimmte zwar nicht so ganz, er wollte sie aber beruhigen, und genau das erreichte er auch.

      Nachdenklich blieb sie doch. Sie überlegte nochmals hin und her, ob sie vielleicht unvermittelt gebremst haben könnte. Doch obwohl sie in den letzten Winkeln ihres Gedächtnisses kramte, konnte sie sich an einen Bremsvorgang nicht erinnern.

      Sie musste ihre trüben Gedanken schnellstmöglich loswerden. Sie wollte doch sowieso nicht weg und hatte sich auf eine weitere Diskussion mit ihrer neuen Bekanntschaft gefreut. Jetzt, wo jemand verletzt worden war, hatte die Frage nach dem Zurückdrehen der Zeit auf einmal an Bedeutung gewonnen. Ach was, das war doch sowieso nicht möglich. Aber warum nicht, das interessierte sie dann doch brennend.

      Er konnte es ihr bestimmt erklären, auch wenn er manchmal weit ausholte. Vielleicht musste das aber so sein.

      Sie telefonierte lange mit ihrer besten Freundin und erzählte ihr alles. Das tat ihr gut. Dann ging sie in die Bibliothek. Sie wollte schauen, ob sie vielleicht doch ein Buch finden würde, vielleicht ein Buch in englischer Sprache. Da konnte sie auch gleich ihre Sprachkenntnisse vertiefen. Insgeheim hoffte sie, dass er vielleicht auch schon da sein würde, war er aber nicht. Sie hatten sich auch für später verabredet. Bei der freundlichen Bedienung bestellte sie sich ein Mineralwasser mit Eis und setzte sich in einen der bequemem Bibliothekssessel. Es war ein brauner Ledersessel, so richtig gemütlich, um darin zu versinken. Ihr Blick schweifte durch die Bibliothek, die ihr jetzt so vorkam, als wäre sie einem Kriminalroman von Agatha Christie oder Edgar Wallace entliehen. Massive Bibliotheksregale, umrahmt von edler Holzvertäfelung an der Wand. Die Einrichtung versprach allerdings mehr als die Auswahl der Bücher. Bei näherer Betrachtung war nichts Richtiges für sie dabei.

      Sie dachte über ihre Situation nach.

      Durch einen äußerst unglücklichen, nein, durch einen unwahrscheinlichen Umstand war sie in dieses luxuriöse Sanatorium oder in dieses exzellente Hotel der oberen Kategorie geraten. Doch offenbar war das nicht zu ihrem Nachteil geschehen. Zwar hätte sie jetzt eigentlich die Pisten unsicher machen müssen, aber irgendwie konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren,