Volkmar Jesch

Ein Quantum Zeit


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daher 0,001 Meter oder ein Millimeter. Aber auch hier bedeutet jede Vergrößerung des Exponenten um eins die Verringerung der vorherigen Zahl um das Zehnfache, mag diese auch noch so klein sein.

      Man muss sich daher bei der Verwendung von Exponentialfunktionen immer den allergrößten Respekt vor großen Zahlen bewahren. Oftmals kann man sich die Dimension der Zahl mit einem Vergleich klarmachen, der sich an den uns einigermaßen gebräuchlichen Größenordnungen orientiert. Aber das ist nur ein Hilfsmittel.

      Man kann es nicht oft genug wiederholen: Wir gehen bei großen Zahlen nicht in Millionen, Milliarden oder sonstigen Schritten voran, sondern jede weitere Null am Ende einer Zahl verzehnfacht nicht die Ausgangszahl oder irgendeine Zahl, sondern die vorherige Zahl.

      Wenn Sie morgen Zeit haben und Interesse verspüren, diese für mich sehr unterhaltsame Diskussion fortzuführen, dann können wir uns dem grundlegenden Phänomen der Zeit intensiver widmen und der Frage zuwenden, warum geschichtliche Ereignisse einmalig und unwiderruflich sind.«

      Er resümierte nachdenklich: »Es ist und bleibt ein seltsames Phänomen. Ständig nimmt die Unordnung in der Welt zu. Also hatte die Welt früher einen höheren Ordnungszustand. Doch der Ablauf der Dinge bis zum heutigen Zustand selbst ist nicht zwingend ein ungeordneter Vorgang. Blickt man von heute zurück in die Vergangenheit ist der Ablauf der Dinge vielmehr ein höchst geordneter. Als ob die Zeit der Faktor wäre, der die Kausalität ordnet. Das gilt selbst dann, wenn wir bestimmte Ereignisse als eher zufällig, vielleicht sogar chaotisch erlebt haben, sodass auch wir den subjektiven Eindruck einer Zunahme der Unordnung haben.

      Im Nachhinein ist alles logisch. Es ist klar, warum das alles passiert ist und wir uns hier und jetzt befinden. Schauen wir zurück in vergangene Zeiten, können wir Schritt für Schritt analysieren, wie die Geschichte bis heute abgelaufen ist, welche Kausalkette uns bis zum momentanen Zeitpunkt gebracht hat. Und doch hilft uns diese auf dem Kausalprinzip beruhende Erkenntnis bei der Frage nach einem Weg zurück in der Zeit nur bedingt weiter, weil sich die Natur nicht so einfach umdrehen lässt.«

      Natürlich hatte sie großes Interesse und Zeit – Zeit hatte sie sowieso.

      »Jetzt sollten wir aber wirklich Schluss machen für heute. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Er stand auf und ließ eine faszinierte, aber auch sprachlose Person zurück.

      Als er gegangen war, fiel ihr ein, dass sie eigentlich mehr von ihm hatte erfahren wollen. Scheibenkleister, dachte sie, ich habe immer noch nichts über ihn persönlich herausbekommen. Vielleicht ist er Statistiker, wahrscheinlich ist er es sogar. Aber sicher war sie sich nicht. Er war auch so unvermittelt aufgestanden, als ob er das Gespräch schnell beenden und gar nicht mehr auf persönliche Dinge zu sprechen kommen wollte.

      Achselzuckend ging sie allein zum Abendessen.

      ***

      In diesem Moment schauten die Techniker Freddy Steinberger und Jean Maraux sowie weitere Mitarbeiter und eine Assistentin gebannt auf einen großen Bildschirm, der verbunden war mit einem Netz von Computern und anderen technischen Geräten.

      Die Computer werteten die letzten Experimente aus.

      Die Visualisierung des Ablaufs eines Experiments lief immer nach einem ähnlichen Schema ab, als ob auf einer Bühne immer das gleiche Stück gespielt würde. An der linken unteren Ecke des Computerscreens startete ein grüner Punkt aus einer kleinen schwarzen Box, bildete eine gestrichelte Linie diagonal über den Bildschirm in Richtung einer weiteren Box an der oberen rechten Ecke des Bildschirms, kam aber nicht so weit. In der Mitte des Weges, irgendwo im Raum zwischen den Boxen, verlor sich der Punkt. Genauer: Der grüne Punkt erlosch, und an der gleichen Stelle öffnete sich ein rotes Feld, in dem eine Reihe von Daten ausgeworfen wurden, darunter die genaue Zeitangabe über die Dauer des Versuchs, die Angabe von bestimmter Koordinaten und dergleichen mehr. Die rote Farbe signalisierte, dass der Versuch fehlgeschlagen war.

      Das ging alles sehr schnell vonstatten, obwohl die grafische Darstellung den eigentlichen experimentellen Vorgang stark verlangsamte. Tatsächlich wurden blitzschnell ablaufende Vorgänge analysiert und visualisiert.

      Über einen weiteren Bildschirm konnten die Daten der gescheiterten Versuche im Einzelnen betrachtet und verschiedenen weiteren Analysetools unterworfen werden. »Verflucht«, sagte einer der Techniker, »jetzt haben wir schon wieder alle Objekte verloren. Das ist ja zum Verrücktwerden.«

      Obwohl hier eines der spektakulärsten, aber wohl auch kuriosesten Experimente, das jemals auf diesem Planeten stattfand, ausgewertet wurde, gehörte der Raum, in dem sich alle befanden, eher zu einer Wohnung, denn zu einem Büro oder zu einem Versuchslabor. Eingerichtet war der Raum wie ein großzügiges Wohnzimmer, mit einladender Couchgarnitur und separater Essecke. Von hier aus hatte man einen hervorragenden Blick auf die umliegende Landschaft. An einem weiteren Tisch, waren die verschiedenen technischen Geräte, Computer und Bildschirme aufgebaut. Neben diesem Raum gab es noch drei weitere Zimmer, in denen Betten standen. In einer Küche konnte man Speisen zubereiten.

      Doch zum Essen hatten die Techniker keine Zeit. Vielmehr lief die Espressomaschine im Dauereinsatz. Das Koffein half den Anwesenden, neben seiner belebenden Wirkung, einen kühlen Kopf zu bewahren. Den brauchten sie auch, denn ihre Experimente scheiterten mit einer beständigen Gleichmäßigkeit.

      Parallele Zeitlinien

       Zukunft ist etwas, das meistens schon da ist,

       bevor wir damit rechnen.

       Anonym

      Sie schlief lange und ging spät zum Frühstücken. Das Buffet war gut sortiert. Die moderne und farbenfrohe Ausstattung des Speisesaals tat ein Übriges, um ihre Laune zu verbessern, war sie doch ein Morgenmuffel. Die gut aufeinander abgestimmten Pastelltöne standen in angenehmem Kontrast zu der gezuckerten Winterwelt draußen vor dem Fenster. Alles lud zu einem längeren Verweilen ein. Sie freute sich auf ein gemütliches und ausgedehntes Frühstück. Gerade war ein Tisch am Fenster frei geworden. Sie nahm ihn sofort in Beschlag.

      Vom Frühstücksraum hatte man einen grandiosen Blick über die Täler bis zu einer massiven Bergkette. Die Sonne schien und ließ sich auch von vereinzelten Wolken nicht davon abhalten. Fast wie in einem James-Bond-Film, der in den Bergen spielt, dachte sie, als sie auf die schneebedeckten Gipfel schaute, die in der Morgensonne glitzerten. Ihre Stimmung war angesichts des grandiosen Panoramas sogar ausgesprochen euphorisch, fühlte sie sich doch fast wie im Urlaub.

      Das änderte sich schlagartig, als die Kellnerin sie informierte, dass zwei Carabinieri auf sie warteten. »Auf mich«, staunte sie ungläubig.

      »Ja«, sagte die Kellnerin.

      »Na klasse«, sagte sie, ließ das von ihr mit englischer Zitronenmarmelade liebevoll bestrichene Brötchen liegen und verließ den Raum, ohne einen Bissen zu sich genommen zu haben.

      Die beiden Polizisten, die im Nebenraum saßen, waren höflich. Sie sprachen leidlich deutsch, stellten sich vor und befragten sie zum Unfallhergang. Sie schilderte, so gut es ging, die in ihrem Gedächtnis vorhandenen Fragmente des Unfallgeschehens, erzählte von dem starken Regen und von allem, was ihr noch in Erinnerung war. Sie beendete ihre Darstellung mit den Worten: »Das hinter mir befindliche Fahrzeug ist plötzlich und unerwartet auf mich aufgefahren und hat mich gegen die Leitplanke gedrückt. Ich hatte keine Chance, den Unfall zu verhindern, und bin auch nicht schuld daran.«

      »Das sieht Ihr Unfallgegner anders«, sagte der eine Polizist. Er hatte eigentlich auf den ersten Blick den netteren Eindruck gemacht. Dieser Eindruck war jetzt verflogen. »Er meint, Sie hätten abrupt und unerwartet gebremst. Nur deswegen sei er auf Sie aufgefahren. Er habe selbst noch scharf gebremst, aber keine Chance gehabt.«

      »Das stimmt nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich bin gleichmäßig in einer Kolonne geradeaus gefahren. Etwas anderes war wegen des starken Regens auch gar nicht möglich.«

      »Möglich wäre es schon gewesen«, sagte der andere Polizist. Auf einmal machten beide Carabinieri einen unfreundlichen Eindruck auf sie. »Das heißt nicht, dass es so war. Der Unfallgegner