Джо Диспенза

Werde übernatürlich


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Gartendüfte wehten herein. Anna saß, in hellem Sonnenlicht gebadet, bequem auf ihrem Sessel. Draußen zwitscherte ein Vogelchor, und Anna hörte in der Ferne das melodiöse Gelächter von Kindern und Geplätscher aus einem der Nachbargärten. Annas zwölfjähriger Sohn lag lesend auf dem Sofa, und sie hörte ihre elfjährige Tochter im Zimmer direkt darüber beim Spielen singen.

      Anna, eine Psychotherapeutin, arbeitete zu der Zeit als Managerin und Vorstandsmitglied für eine große psychiatrische Einrichtung in Amsterdam, die jährlich über 10 Millionen Euro Gewinn machte. Oft bildete sie sich an den Wochenenden mit Fachliteratur weiter; also saß sie an diesem Tag in ihrem roten Ledersessel und las einen Zeitschriftenartikel, ohne zu ahnen, dass sich diese für einen Außenstehenden scheinbar so perfekte Welt in wenigen Minuten in einen Albtraum verwandeln würde.

      Anna war ein bisschen abgelenkt und konzentrierte sich nicht wirklich auf ihre Lektüre; sie legte ihren Lesestoff beiseite, machte eine Pause und fragte sich auf einmal, wo eigentlich ihr Mann abgeblieben war. Er war frühmorgens, während sie gerade duschte, aus dem Haus gegangen. Ohne ihr zu sagen, wohin er gehen wollte, war er einfach verschwunden. Die Kinder hatten ihr erzählt, ihr Vater habe sich mit einer Umarmung von ihnen verabschiedet. Sie hatte wiederholt versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen, aber er rief nicht zurück. Noch einmal probierte sie es, erreichte ihn jedoch nicht. Irgendetwas fühlte sich wirklich seltsam an.

      Um halb vier klingelte es an der Tür. Anna öffnete und sah sich zwei Polizisten gegenüberstehen.

      »Sind Sie Frau Willems?«

      Anna bejahte, woraufhin die Polizisten um Einlass baten, um mit ihr zu reden. Anna war beunruhigt und ein bisschen verwirrt, ließ die beiden aber ins Haus. Und hier wurde ihr die schlimme Nachricht überbracht: Ihr Mann war am Vormittag von einem der höchsten Gebäude in der Stadtmitte gesprungen und ums Leben gekommen. Anna und ihre beiden Kinder saßen geschockt und fassungslos da.

      Annas Atem setzte für einen Moment aus, dann schnappte sie nach Luft und begann unkontrolliert zu zittern. Die Zeit schien stillzustehen. Ihre Kinder waren vor Schreck wie gelähmt; Anna versuchte, ihnen zuliebe ihr Leiden und ihren Stress zu verbergen. Plötzlich verspürte sie im Kopf einen intensiven Schmerz, gleichzeitig hatte sie dumpfes Bauchweh, ihr Nacken war steif, ihre Schultern verspannt, während ihr hektische Gedanken durch den Kopf rasten. Die Stresshormone hatten sie fest im Griff. Anna befand sich im Überlebensmodus.

      Wie die Stresshormone die Kontrolle übernehmen

      Aus wissenschaftlicher Sicht bedeutet Stress ein Leben im Überlebensmodus. Sobald wir etwas als stressig und irgendwie bedrohlich erleben (Umstände, deren Ausgang wir nicht vorhersehen bzw. kontrollieren können), tritt ein primitives Nervensystem, das sogenannte sympathische Nervensystem bzw. der Sympathikus, in Aktion und der Körper setzt in Reaktion auf den stressauslösenden Faktor bzw. Stressor ungeheure Energie frei. Physiologisch zapft der Körper nun automatisch die notwendigen Ressourcen an, um mit der aktuellen Gefahr fertigzuwerden.

      Die Pupillen weiten sich, damit wir besser sehen; das Herz schlägt rascher, auch die Atmung geht schneller, damit wir rennen, kämpfen oder uns verstecken können. Im Blut wird mehr Glukose freigesetzt, um den Zellen mehr Energie zur Verfügung zu stellen, und das Blut wird von den inneren Organen weg und in die Extremitäten gelenkt, damit wir bei Bedarf schnell laufen können. Adrenalin und Cortisol überschwemmen die Muskeln, das Immunsystem wird erst hoch- und dann wieder heruntergefahren, und die Muskeln erhalten einen Energieschub, damit wir entweder flüchten oder den Stressor abwehren können. Das Blut entweicht aus unserem rational denkenden Vorderhirn und wird stattdessen ins Hinterhirn gelenkt; dadurch wird unser kreatives Denken eingeschränkt und wir verlassen uns stattdessen mehr auf unser instinktives, schnelles Reaktionsvermögen.

      Auch Annas Gehirn und Körper wurden durch den Stress, den die Nachricht vom Suizid ihres Mannes auslöste, in einen solchen Überlebensmodus katapultiert. Kurzzeitig können alle Organismen mit widrigen Umständen umgehen, indem sie den bedrohlichen Stressfaktor bekämpfen, sich verstecken oder die Flucht antreten. Wir alle sind darauf ausgelegt, mit kurzzeitigen Stressausbrüchen entsprechend fertigzuwerden. Wenn alles vorbei ist, gelangt der Körper normalerweise innerhalb von Stunden erneut ins Gleichgewicht und füllt seine lebenswichtigen Energieressourcen wieder auf. Doch wenn der Stress länger als ein paar Stunden andauert, kann der Körper dieses Gleichgewicht nicht wiederherstellen. Kein natürlicher Organismus ist fähig, über längere Zeit diesen Notfallmodus auszuhalten.

      Wegen unseres großen Gehirns können wir Menschen über unsere Probleme nachdenken, Vergangenes im Kopf erneut erleben und sogar schlimmstmögliche Zukunftsszenarien vorwegnehmen, wodurch die Flut der Stresshormone allein durch Gedanken in Gang gesetzt wird. Indem wir über eine allzu vertraute Vergangenheit nachgrübeln oder versuchen, eine nicht vorhersehbare Zukunft zu kontrollieren, können wir unser Gehirn und unseren Körper aus dem normalen physiologischen Gleichgewicht bringen.

      Tag für Tag erlebte Anna x-mal diesen Vorfall im Kopf. Etwas Wesentliches war ihr dabei nicht klar: Ihr Körper konnte nicht zwischen dem ursprünglichen Ereignis, das die Stressreaktion auslöste, und der Erinnerung daran unterscheiden, sodass wiederholt die Emotionen hochkamen, die mit dem Ereignis im wirklichen Leben zusammenhingen. Anna produzierte in Gehirn und Körper dieselben chemischen Substanzen, als würde das alles tatsächlich immer wieder passieren. Ihr Gehirn vernetzte den Vorfall dadurch ständig im Gedächtnisspeicher; ihr Körper wurde mindestens hundert Mal am Tag mit den entsprechenden Hormonen überschwemmt und erlebte die damit zusammenhängenden Emotionen immer wieder. Ganz unabsichtlich verankerte sie durch das Erinnern ihr Gehirn und ihren Körper in der Vergangenheit.

      Emotionen sind die chemischen Konsequenzen (bzw. das Feedback) früherer Erfahrungen. Unsere Sinne zeichnen eingehende Informationen aus der Außenwelt auf, und Neuronencluster vernetzen sie. Wenn sie zu einem Muster einfrieren, erzeugt das Gehirn eine chemische Substanz – wir nennen das eine Emotion – und schickt sie durch den Körper. Erfahrungen werden besser erinnert, wenn wir uns auch an das dazugehörige Gefühl erinnern können. Je stärker der emotionale Quotient eines beliebigen Ereignisses – sei es nun gut oder schlecht – ist, desto stärker verändert sich unsere innere Chemie. Bemerken wir eine signifikante innerliche Veränderung, achtet das Gehirn darauf, wer oder was diese Veränderung im Außen bewirkt, und macht sozusagen einen Schnappschuss dieser äußeren Erfahrung; das nennen wir eine Erinnerung.

      Die Erinnerung an einen Vorfall kann also neurologisch dem Gehirn eingebrannt werden; die Szene wird in unserer grauen Substanz eingefroren, wie wenn die Zeit stillstünde, so wie es auch bei Anna der Fall war. All die Menschen und Objekte zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort, die an einer stressgeladenen Erfahrung beteiligt waren, werden unserer neuronalen Architektur als holografisches Abbild eingraviert. So erzeugen wir Langzeiterinnerungen. Die Erfahrung wird also dem neuronalen Schaltkreis eingeprägt, und die Emotion wird im Körper gespeichert – so wird unsere Vergangenheit zu unserer Biologie. Anders ausgedrückt: Erleben wir etwas Traumatisches, denken wir auf neurologischer Ebene leicht im Schaltkreis dieser Erfahrung und fühlen uns auf chemischer Ebene an die damit zusammenhängenden Emotionen gebunden; unsere gesamte Verfassung bzw. unser Seinszustand – wie wir denken und fühlen – steckt biologisch in der Vergangenheit fest.

      Auf Anna stürmten natürlich jede Menge negative Emotionen ein: ungeheure Traurigkeit, Schmerz, Opferrolle, Kummer, Schuld, Scham, Verzweiflung, Wut, Hass, Frust, Groll, Schock, Furcht, Angst, Sorge, Überforderung, Qual, Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht, Isolation, fassungsloser Unglaube und Verrat. Und nichts davon löste sich schnell wieder auf. Anna analysierte ihr Leben auf Basis der Emotionen der Vergangenheit, sie litt immer mehr. Da sie nicht über ihre ständigen Gefühle hinausdenken konnte und weil Emotionen eine Aufzeichnung der Vergangenheit sind, dachte sie in der Vergangenheit – und es ging ihr immer schlechter. Als Psychotherapeutin konnte sie rational und intellektuell verstehen, was mit ihr passierte, doch trotz aller Einsichten konnte sie nicht über das Leid hinauswachsen.

      Die Menschen, mit denen sie zu tun hatte, fingen an, sie als die Frau zu behandeln, die ihren Mann verloren hatte; das wurde zu ihrer neuen Identität. Den Grund für ihre derzeitige Verfassung sah sie in ihren Erinnerungen und Gefühlen. Fragte