Джо Диспенза

Werde übernatürlich


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von Neuem, aktivierte dabei wiederholt dieselben Verschaltungen im Gehirn, erzeugte immer wieder dieselben Emotionen; damit konditionierte sie Gehirn und Körper mehr und mehr auf die Vergangenheit. Jeden Tag dachte, handelte und fühlte sie so, als wäre die Vergangenheit noch immer lebendig. Unser Denken, Handeln und Fühlen macht unsere Persönlichkeit aus; Annas Persönlichkeit war also komplett auf Basis der Vergangenheit entstanden. Anna erzählte die Geschichte vom Suizid ihres Mannes immer wieder und konnte dadurch das Geschehene nicht hinter sich lassen.

      Eine Abwärtsspirale setzt ein

      Anna konnte nicht mehr arbeiten und musste sich beurlauben lassen. Wie sie herausfand, hatte ihr Mann, obwohl er ein erfolgreicher Anwalt war, die Familie finanziell ruiniert. Sie musste erhebliche Schulden abzahlen, von denen sie vorher nichts gewusst hatte – und sie hatte nicht einmal genug Geld, um überhaupt damit anfangen zu können. Kein Wunder also, dass sich der emotionale, psychische und mentale Stress dadurch noch vergrößerte.

      Annas Gedanken drehten sich im Kreis; unzählige Male stürmten Fragen auf sie ein: »Wie soll ich mich bloß um unsere Kinder kümmern? Wie können wir künftig mit diesem Trauma umgehen und wie wird es sich auf unser Leben auswirken? Warum ist mein Mann weg, ohne sich von mir zu verabschieden? Wie konnte es mir entgehen, dass er so unglücklich war? Habe ich als Ehefrau versagt? Wie konnte er mich mit zwei Kindern im Stich lassen und wie schaffe ich es, sie alleine großzuziehen?«

      Dann begann sie zu werten und zu verurteilen: »Er hätte sich nicht umbringen und mich in diesem finanziellen Schlamassel sitzen lassen dürfen. Was für ein Feigling! Wie kann er nur seine Kinder vaterlos zurücklassen! Er hat mir und den Kindern nicht einmal einen Brief geschrieben. Ich hasse ihn, weil er mir nicht einmal eine Nachricht hinterlassen hat. Dieser Blödmann lässt mich einfach allein mit den Kindern zurück. Hatte er überhaupt eine Ahnung, was er uns damit antut?« All diese Gedanken waren emotional stark aufgeladen und beeinflussten ihren Körper.

      Neun Monate später, am 21. März 2008, wachte Anna auf und war von der Taille abwärts gelähmt. Nur wenige Stunden später lag sie in einem Krankhausbett, daneben ein Rollstuhl. »Neuritis«, so lautete die Diagnose: eine Entzündung des peripheren Nervensystems. Mehrere Tests ergaben keine strukturellen Ursachen für das Problem; man sagte Anna, es müsse sich um eine Autoimmun-erkrankung handeln. Ihr Immunsystem griff das Nervensystem im unteren Rücken an, zerstörte die Schutzschicht um die Nerven herum und war die Ursache für die Lähmung in beiden Beinen. Sie konnte den Urin nicht mehr halten, hatte Schwierigkeiten, ihren Stuhlgang zu kontrollieren, hatte kein Gefühl mehr in Beinen und Füßen und keine Kontrolle mehr über ihre Bewegungen.

      Wenn sich das Kampf-oder-Flucht-System, also das sympathische Nervensystem, einschaltet und wegen des chronischen Stresses eingeschaltet bleibt, nutzt der Körper sämtliche Energiereserven, um mit der beständigen Bedrohung fertigzuwerden, die er im Außen wahrnimmt. Damit ist keine Energie mehr für die innere Umgebung übrig, für Wachstum und Reparaturvorgänge, und das Immunsystem wird beeinträchtigt. Aufgrund des immer wieder auftretenden inneren Konflikts griff Annas Immunsystem ihren Körper an. Sie hatte die emotional im Kopf erlebten Schmerzen und Leiden physisch manifestiert. Anna konnte ihren Körper nicht mehr bewegen, weil sie sich im Leben nicht weiterbewegte – sie steckte in ihrer Vergangenheit fest.

      Im Lauf der nächsten sechs Wochen wurde Anna von ihren Ärzten mit Unmengen intravenös verabreichtem Dexamethason und anderen Kortikosteroiden zur Entzündungshemmung behandelt. Aufgrund des zusätzlichen Stresses und der Art dieser Medikamente, die das Immunsystem weiter schwächen, entwickelte sie zudem eine aggressive bakterielle Infektion; dagegen wurden ihr von den Ärzten Unmengen an Antibiotika verabreicht. Nach zwei Monaten wurde Anna aus dem Krankenhaus entlassen und konnte sich nur mithilfe eines Rollators und mit Krücken weiterbewegen. Nach wie vor hatte sie im linken Bein kein Gefühl, und Stehen war sehr schwierig für sie. Sie konnte nicht richtig gehen. Ihren Darm hatte sie wieder ein bisschen besser unter Kontrolle, aber nicht das Harnlassen. Und wie man sich denken kann, führte die neue Situation zu noch mehr Stress. Sie hatte ihren Mann durch Selbstmord verloren, sie konnte nicht viel arbeiten, um für sich und ihre Kinder Geld zu verdienen, sie hatte ernsthafte finanzielle Probleme und hatte über zwei Monate gelähmt in einem Krankenhaus gelegen. Ihre Mutter musste zu ihr ziehen, um ihr zu helfen.

      Anna war ein emotionales, mentales und körperliches Wrack, und obwohl sich die besten Ärzte eines angesehenen Krankenhauses um sie kümmerten und sie mit den neuesten Medikamenten behandelten, verbesserte sich ihr Zustand nicht.

      2009, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, wurde bei ihr eine klinische Depression diagnostiziert, und sie nahm noch mehr Medikamente ein. Daraufhin begann sie unter Stimmungstiefs zu leiden – von Kummer über Schmerz zu Leiden, von Hoffnungslosigkeit über Frust zu Furcht und zu Hass. Diese Emotionen wirkten sich auf ihr Verhalten aus, sie wurde irgendwie irrational. Zunächst fing sie mit praktisch allen außer ihren Kindern Streit an. Doch bald geriet sie auch in Konflikt mit ihrer jüngsten Tochter.

      Die dunkle Nacht der Seele

      Inzwischen waren jede Menge anderer körperlicher Probleme dazugekommen, und Annas Reise wurde noch schmerzhafter. An den Schleimhäuten im Mund entwickelten sich große Geschwüre, die sich bis die obere Speiseröhre ausbreiteten; die Ursache dafür war eine weitere Autoimmunerkrankung, ein sogenannter »erosiver Lichen planus«. Dagegen musste sie kortikosteroidhaltige Salben im Mund anwenden und noch mehr Pillen schlucken; durch diese neuen Medikamente wurde die Speichelproduktion gestört. Sie konnte keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen und verlor den Appetit. Anna lebte mit allen drei Arten von Stress: körperlichem, chemischem und emotionalem Stress.

      2010 hatte Anna eine gestörte Beziehung zu einem Mann, der sie und ihre Kinder mit Beschimpfungen, Machtspielchen und ständigen Drohungen traumatisierte. Sie verlor ihr ganzes Geld, ihre Arbeit und ihr Sicherheitsgefühl. Nachdem sie ihr Haus verloren hatte, musste sie bei ihrem übergriffigen Freund einziehen, und der Stresspegel stieg noch mehr an. Die Geschwüre breiteten sich auf andere Schleimhäute aus, unter anderem die Vagina, den Anus und weitere Teile der Speiseröhre. Ihr Immunsystem war komplett zusammengebrochen; sie litt nun auch an allen möglichen Hautirritationen, Nahrungsmittelallergien und Gewichtsproblemen. Hin-zu kamen schließlich noch Schluckbeschwerden und Sodbrennen; dagegen wurden ihr noch mehr Medikamente verschrieben.

      Im Oktober begann Anna von zu Hause aus als Psychotherapeutin zu arbeiten. Sie konnte nur an drei Tagen die Woche jeweils zwei Sitzungen abhalten, während die Kinder morgens in der Schule waren. Nachmittags war sie so müde und fühlte sich so schlecht, dass sie im Bett liegen blieb, bis die Kinder heimkamen. Sie versuchte, so viel wie möglich für sie da zu sein, hatte aber keine Energie, und es ging ihr nicht gut genug, um das Haus verlassen zu können. Sie sah praktisch niemanden, hatte kein soziales Leben mehr.

      Alles im Leben und ihr ganzer Körper erinnerten sie ständig daran, wie schlimm es stand. Sie reagierte auf alles und jedes automatisch. Ihre Gedanken waren chaotisch, sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie hatte keine Lebensenergie mehr. Bei körperlicher Anstrengung stieg ihre Herzfrequenz auf über 200 Schläge pro Minute an. Sie war ständig am Schwitzen und am Luftholen und litt regelmäßig unter starken Schmerzen in der Brust.

      Anna durchlebte die dunkelste Nacht der Seele. Plötzlich verstand sie, warum ihr Mann sich umgebracht hatte. Sie war sich unsicher, ob sie weitermachen konnte, hegte selbst Suizidgedanken und dachte: »Noch schlimmer kann es nicht werden …«

      Doch es wurde noch schlimmer. Im Januar entdeckten Annas Ärzte einen Tumor am Mageneingang und diagnostizierten Speiseröhrenkrebs. Und natürlich stieg der Stresspegel dadurch noch weiter an. Die Ärzte empfahlen eine strenge Chemotherapie. Der emotionale und mentale Stress kam nicht zur Sprache, es wurden nur die körperlichen Symptome behandelt. Doch Annas Stressreaktion lief auf Hochtouren und konnte nicht abgeschaltet werden.

      Es ist erstaunlich, wie vielen Menschen etwas dergleichen passiert. Wegen eines Schocks oder Traumas im Leben können sie nie über die damit zusammenhängenden Emotionen hinauswachsen, und ihre Gesundheit und ihr Leben brechen zusammen. Wenn eine Sucht etwas ist, das wir nach unserem Ermessen nicht mehr aufgeben können, sieht es objektiv