Hochsensible Frauen
INTERVIEW MIT CHRISTINA (58 JAHRE)
Woran bemerkst du deine Hochsensibilität im Alltag?
Ich ertrage die Gesellschaft von mehr als zwei Menschen nicht – und auch die zwei schon nur schwer. Ich bin sehr lärmempfindlich. Ich kann nicht in Supermärkten einkaufen oder samstags in der Stadt sein oder Urlaub machen in einem Hotel. Wenn ich in der Straßenbahn fahre oder einen öffentlichen Raum betrete, nehme ich die Gesamtstimmung wahr und auch die Befindlichkeiten der Einzelnen – das ist sehr „laut“. Manchmal ist es, als werde ich angebrüllt. Ich höre die Menschen mit meinen inneren Ohren und kann mich nicht dagegen schützen.
In welchen Lebensbereichen empfindest du deine Hochsensibilität als Bereicherung? Wo eher als Last?
Im Kontakt mit meiner Familie und mit Freunden, mit Menschen, denen ich vertraue und die mir nah sind, ist es eine große Bereicherung, dass ich den anderen Menschen so differenziert und deutlich wahrnehmen kann. Haben diese Menschen Probleme, die sie mit mir besprechen, hilft es, weil ich die Untertöne hören kann. Ich sehe die Aura eines Menschen und die vorherrschende Farbe, das mag ich sehr gern, und es hilft, den anderen zu verstehen. Eine Last ist die Hochsensibilität, weil die Welt für mich zu laut und zu voll ist. Schwierig wird es, wenn ich Kontakt auf einer sachlichen Ebene habe, weil ich den anderen Menschen in all seinen Farben sehe und das Unausgesprochene wahrnehme. Wenn die Eindrücke stark sind, fällt es mir schwer, sachlich zu bleiben, ich gerate leicht auf eine andere Ebene. Ich sehe die Aura, spüre viel, und der Mensch scheint mir vertraut, er kennt mich aber nicht und will natürlich in einer solchen Situation nicht über Privates sprechen, und vermutlich will er auch nicht, dass ich davon weiß.
Wo siehst du deine Stärken?
Ich kann Menschen dabei helfen, klarer zu werden, zu erkennen, was sie quält und behindert. Ich kann leicht vermitteln, dass ich den anderen Menschen akzeptiere und nicht beurteile. Ich kann durch meine Anwesenheit schlichtend und ausgleichend wirken.
Wie würdest du deine Hochsensibilität gern in die Gesellschaft einbringen?
Ich würde gern als Mediatorin arbeiten. Mein größter Wunsch ist, die Geschichten aufzuschreiben, die ich um mich herum „höre“, die um mich herumschweben, und damit mehr Farbe in die Welt zu bringen.
Was bedeuten Gefühle für dich?
Ich lerne gerade, dass ich fühlen muss, will ich weiter wachsen, will ich meinen eigenen Raum finden. Das ist ein großes Abenteuer für mich und macht mir Angst …
Umfrage mit hochsensiblen Frauen
Ähnlich wie bei den HSP-Männern habe ich mit hochsensiblen Frauen eine Umfrage im Internet gestartet. Die Anzahl der Teilnehmenden war bei beiden Umfragen gleich. Ob sich die Ergebnisse als repräsentativ für die Gesamtgruppe der Hochsensiblen auswerten lassen, ließe sich nur durch zukünftige Umfragen klären. Dennoch sind die Trends eindeutig.
Partnerschaftsthemen von hochsensiblen Frauen
Im Vergleich zu den hochsensiblen Männern gibt es unter den HSP-Frauen weniger Singles. Während jeder zweite hochsensible Mann in der Umfrage Single war, betraf dies bei den Frauen nur 30 %. Ob es sich dabei um Alleinstehende oder um Geschiedene handelt, wurde nicht näher beleuchtet. Bei dieser Umfrage gaben 65 % der Frauen an, dass ihr Partner nicht hochsensibel sei, und 35 % hatten einen hochsensiblen Partner. Ca. 35 % hatten Kinder. über 60 % der Singles wünschten sich eine neue Beziehung. (Weitere Informationen zu Partnerschaftsthemen können Sie in Kapitel 3 vertiefen.)
Berufsbilder hochsensibler Frauen
Innerhalb meiner Umfrage kristallisierte sich ein klarer Trend heraus, was die Berufstätigkeit hochsensibler Frauen betrifft. Die beiden großen Felder, in denen sich diese Frauen am stärksten bewegen, sind: das Gesundheits- und Sozialwesen sowie künstlerische Berufe. 26 % sind angestellt und 30 % freiberuflich tätig. 13 % sind Hausfrau und 12 % gaben an, wegen Burnout derzeit berufsunfähig zu sein. 8 % sind Wissenschaftlerinnen.
Stärken hochsensibler Frauen
•Intuition
•Empathie
•Kreativität
•Spiritualität
•Therapeutische Fähigkeiten
•Besondere Verbindung zu Tieren
•Hilfsbereitschaft und soziales Engagement
•Sinn für Schönheit und Harmonie
•Gute Beobachtungsgabe
•Sozialkompetenz
Mutter-Tochter-Beziehung
Überraschend bei dieser Umfrage waren die Aussagen zu den Müttern der hochsensiblen Frauen. 48 % gaben an, dass sie ihre eigene Mutter nicht als hochsensibel erlebt haben. Sogar 60 % gaben an, ihre Mutter sei emotional kühl und distanziert. 42 % beschrieben ihre Mutter als depressiv und 21 % als „häufig strafend“. Es gab bei den Kommentaren auffällig viele Bemerkungen zu narzisstischen Müttern. Wenn wir bedenken, dass 65 % der Teilnehmerinnen zwischen 30 und 50 Jahre alt waren, gehörten ihre Mütter wahrscheinlich zu den 60er, 50er, 40er und 30er Jahrgängen. Aufgrund der historisch schwierigen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges sind alle diese Elterngenerationen direkt oder indirekt durch die Traumatisierungen jener Zeit psychisch belastet gewesen, was die recht hohen Werte in den negativen Eigenschaften dieser Mütter wohl erklärbar macht. Möglicherweise war ein Teil dieser Mütter trotzdem hochsensibel und konnte diese Veranlagung aufgrund der meist widrigen Lebensumstände nicht konstruktiv ausdrücken.
38 % beschrieben ihre Mütter als hochsensibel, 43 % beschrieben sie als liebevoll und 30 % als emotional warm. Die kreative Veranlagung konnten 35 % der Befragten bei der eigenen Mutter beobachten. 47 % beschrieben sie als kommunikativ und ebenso viele als beschützend.
Aufgrund der vielen negativen Erfahrungen hochsensibler Frauen mit ihrem weiblichen Muttervorbild ist sehr viel Heilungs- und Versöhnungsarbeit notwendig. Dafür gibt es bereits eine Vielzahl von Gruppierungen. Im folgenden Abschnitt möchte ich Ihnen eine davon stellvertretend vorstellen.
Frauengruppen
Die Räume, in denen es um weibliche Themen geht, beginnen seit einigen Jahren wieder zu wachsen. Eine sehr kraftvolle Bewegung aus den USA nennt sich die Red-Tent-Bewegung, zu der es bereits einen gleichnamigen Dokumentarfilm der amerikanischen Psychologin Isadora Gabrielle Leidenfrost gibt. Nach dem Vorbild der amerikanischen Ureinwohner, wonach sich die Frauen zu Zeiten ihrer Menstruation in ihre Moonlodge zurückzogen, versammeln sich Frauengruppen auf der ganzen Welt in roten Zelten oder Räumen, um miteinander auf eine sehr intime und persönliche Art über alles zu sprechen. Die starke Kraft der Verbindung unter den Frauen, Mädchen und Großmüttern erschafft einen Heilungsraum, der therapeutisch enorm wirksam ist. Im Internet können Sie Filmausschnitte des bereits erwähnten Dokumentarfilms sehen und sich berühren lassen.
Verletzlichkeit als natürlicher Zustand
Verletzlichkeit ist ein Zustand, mit dem wir auf die Welt kommen. Schauen Sie sich ein neugeborenes Baby an – wie empfindlich ist seine Haut? Wie sensibel reagiert es auf Berührung und andere Außenreize? Im Zustand von Verletzlichkeit sind wir emotional offen und reaktionsfähig. Es ist eine Fähigkeit, mit dem Leben mitzuschwingen, und eine Art von Reinheit. Wenn Kinder weinen, weil sie einen traurigen Film gesehen haben, oder wenn Ihr Kind Ihnen sagt, dass es Sie liebt, dann erleben Sie diese Offenheit, dieses weiche Herz. Auch bei Säugetieren, die den Kontakt mit Menschen gewohnt sind, können Sie dieses Vertrauen erfahren. Der Hund, der sich mit dem Bauch nach oben hinlegt, damit Sie ihn dort streicheln können, demonstriert maximales Vertrauen und maximale Verletzlichkeit. Denn im Bauchraum liegen unsere inneren Organe, die bei einem Kampf oder Angriff lebensbedrohlich verletzt werden können. Mit Verletzlichkeit meine ich den natürlichen Zustand von Menschen und Tieren, die vollkommen authentisch und im Vertrauen sind. Es ist nicht die leichte Kränkbarkeit gemeint, mit der Menschen auf Kritik oder Ablehnung überreagieren.