Matthias Dhammavaro Jordan

Erfahre dein wahres Selbst


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      Ohne Erinnerungen gibt es keine Erwartungen. Erwartungen erhoffen ein Wiedererleben einer gleichen oder ähnlichen Situation aus der Vergangenheit, in einem neuen Moment, oder entstehen aufgrund von Vorstellungen, wie etwas zu sein hat.

      Das echte, neue Erleben kann dann aber nicht empfangen werden, weil der Stuhl schon von der Erwartung besetzt ist. Und so rauschen die neuen Erlebnisse direkt an einem vorbei und können einfach nicht empfangen werden, weil die Erwartung das Empfangen verhindert.

      So ist man auch nicht mehr in dem erlebten Moment. Auch hier die Einladung, sich auf diesen Moment zu besinnen, ins Hiersein zu kommen, egal, welches Erleben dieses Hiersein einem anbietet. Denn das ist alles, was es gerade gibt, das, was das momentane Erleben einem anbietet.

      Erwartungen führen bei Nichterfüllung immer zur Enttäuschung, es sei denn, sie werden durchschaut und als das gesehen, was sie sind.

      Werden sie nicht durchschaut, bleiben die Enttäuschung und die damit einhergehenden Gefühle, wie Verlust, Ärger, Trauer oder die Angst, etwas versäumt zu haben, oder man macht sich selbst, anderen und dem Leben Vorwürfe.

      Der Satz, schon oft gehört, schon oft zitiert: „Akzeptieren, was ist“, ist leicht gesagt, und bei genauerer Betrachtung eröffnet sich eine sehr tiefe Bedeutung dieser Einladung: das Jasagen zu dem ‚Hier‘, egal, welche Farbe es trägt. Egal, ob angenehm oder unangenehm, aber es wird in diesem Moment erlebt, in diesem Jetzt. Das ist alles, was es gerade gibt. Alles andere entspringt der Fantasie, der Vorstellung oder den Erwartungen.

      Wie oft nehmen die Gedanken einen mit in die Zeit, und Zeit ist nie jetzt! Zeit ist immer messbar und vergleichbar, der reine gegenwärtige Moment ist nicht messbar. Womit auch?

      Aber gegenwärtiges Erleben ist vergleichbar, nämlich gedanklich mit vergangenem Erlebtem.

      Gedanken sind immer alt, so sagt Krishnamurti, denn sie schöpfen aus einem Fundus akkumulierter Erinnerungen, und die sich darauf aufbauenden Vorstellungen können wieder eine Fantasie über die Zukunft zusammenbrauen.

      Wenn ich akzeptiere, was ist, ohne es anders haben zu wollen, mache ich den Weg frei für neues Erleben. Es sind die Situationen gemeint, wo ich nicht eingreifen kann.

      Es gibt Ausnahmen: Ich muss nicht akzeptieren, dass mich jemand schlecht behandelt oder dass mein Kühlschrank leer ist oder dass die Bäume im Garten vertrocknen.

      Hier gibt es dann etwas zu tun, aber dafür sorgen meine innere Weisheit und meine Fähigkeit zu wissen, was zu tun ist, welche Aufgaben zu erfüllen sind.

      Dem Leben ist es egal, welche Haltung ich den unausweichlichen Ereignissen gegenüber einnehme. Ich kann mich sträuben, dagegen kämpfen, nicht einverstanden sein, mich ärgern. Trotzdem werde ich manchmal krank, verliere meinen Job, der Partner verlässt mich, das Wetter ist anders, als ich es mir wünsche, der Urlaub ganz anders als letztes Jahr, und überhaupt, nichts ist so, wie ich es erwartet habe, und irgendwann klopft der Tod an meine Tür. Welche Haltung werde ich dann einnehmen?

      Nieselregen auf dem Berge LU und wilde Wellen auf dem Che-chiang.

      Solange Du nicht dort gewesen,

      wirst Du Dich darum grämen.

      Warst Du erst dort

      und wendest wieder heim den Schritt,

      wie nüchtern sehen dann die Dinge aus:

      Nieselregen auf dem Berge LU

      und wilde Wellen auf dem Che-chiang.

      SU TUNG-P’O

      Puh Ruh, das Wissende

      Ein Meditationsmeister aus Nordostthailand wurde einst

      gefragt: „Wenn es aus buddhistischer Sicht kein ‚Selbst‘

      und kein ‚Ich‘ gibt, wer oder was ist es dann, das diese

      Erfahrungen macht und darüber Kenntnis hat?“

      Seine Antwort war: „Puh Ruh, es ist die Qualität in uns,

      die weiß!“

      Ganz egal, in welchen geistigen oder gefühlsmäßigen Zuständen Sie sind, es gibt immer etwas in Ihnen, das diese Zustände kennt. Egal, welches Gefühl, welcher Gedanke, es gibt immer eine gewisse Bewusstheit oder ein Gewahrsein über dieses Gefühl oder jenen Gedanken.

      Sie wissen, dass Sie jetzt gerade dasitzen und das hier lesen. Das wissen Sie einfach.

      Vielleicht wissen Sie ein Sekunde später, dass eine Tür zuschlägt.

      Die Erfahrung ist eine andere, das Wissen an sich ist immer gleich.

      Was auch immer Sie erleben oder erfahren, es gibt immer ein Wissen über das, was Sie gerade erleben. Egal, ob es angenehme oder unangenehme Empfindungen sind, Sie wissen was Sie gerade fühlen. Das Wissen ist wie ein Raum und das Erlebte und Gefühlte ist wie die Einrichtung des Raumes. Das trifft auch auf alle anderen geistigen Zustände zu.

      Es gibt jemand, der weiß oder Kenntnis über etwas hat: Es ist das, was weiß.

      Also, egal in welchem Zustand Sie sich befinden, es gibt immer einen Wissenden, einen Kenner dieses Zustandes. Das Wissen an sich oder die Wissensfähigkeit ändert sich überhaupt nicht. Ein Raum ändert sich auch nicht, nur weil Sie andere Möbel reinstellen. Der Raum an sich bleibt.

      Egal, welche Erfahrungen gemacht werden, es gibt immer ein Wissen über diese Erfahrung. Das Wissen an sich ist niemals durch die Erfahrung bedingt, es ist einfach nur ein Wissen, eine Kenntnis einer Erfahrung. Andere Worte dafür sind Gewahrsein, Bewusstheit, Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit. Das reine, klare Wissen, das bei jeder Erfahrung anwesend ist, ist nicht verursacht durch diese Erfahrung!

      Wissensfähigkeit wird weder verändert noch zurechtgerückt, weder zerstört noch durch irgendeine Erfahrung verbessert. Die reine Kenntnis einer Wahrnehmung wird nicht durch die Wahrnehmung verändert. Die Wissensfähigkeit, egal, in welcher Situation, ist immer anwesend, ist aber niemals bedingt. Das reine Wissen ist immer da.

      Wenn Sie erkennen, dass Sie der Wissende sind, erkennen Sie, dass sich der Wissende nie verändert. Es sind die Dinge, die der Wissende erlebt und wahrnimmt, die sich verändern.

      Dieses Wissen an sich hat keine Substanz und keine Form. Es ist einfach nur bewusstes Wissen.

      „Das ist das, was du bist. Das ist deine letztendliche Essenz“, behaupten manche Weisen.

      Wenn Sie sich bewusst sind, dass Sie immer dieser Wissende sind, dann ist das perfekte Achtsamkeit, die irgendwann in Weisheit mündet und die Dinge sieht, wie sie wirklich sind.

      Raum und Geist

      Ich vergleiche Raum mit unserem Geist, was mit der Betrachtung über den Puh Ruh korrespondiert. Raum bewegt sich nie irgendwohin! Raum ist einfach nur. (Das Wissende ist auch einfach nur.) Raum hat die Qualität von Räumlichkeit, ist empfangsbereit. Nie bewegt sich Raum an sich.

      Aber Dinge bewegen sich durch den Raum. Menschen, Tiere, Gegenstände bewegen sich durch den Raum. Der Wind bläst durch den Raum. Manchmal trägt er Blätter herein, Licht und Schatten, Helligkeit und Dunkelheit. Für all das stellt der Raum seine Räumlichkeit zur Verfügung, aber der Raum an sich bleibt immer unbewegt.

      Wir haben diese Redensart, dass wir unseren Geist, den geistigen Raum, ruhig und still machen wollen. Aber wie kann ich etwas ruhig machen, was eigentlich schon ruhig ist?

      Es sind die Bewegungen, die da stattfinden und einen meinen lassen, der Geist sei nicht ruhig.

      Wenn im Geist viel Bewegung ist, habe ich das Gefühl, der Raum sei stark bewegt.

      Aber es sind nur diese verschiedenen Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Meinungen, die sich da bewegen.