Die Angst ging nicht ganz, sondern setzte sich in einiger Entfernung auf einen Ast, um sie daran zu erinnern, auf ihrem Weg der Selbstbeachtung zu bleiben.
Ängste entstehen aus verschiedenen Gründen.
Es gibt eine Angst, die warnend darauf hinweist, dass irgendetwas nicht mehr stimmt, dass die Lebensenergie nicht fließt, wenn die Anpassung an bestimmte Systeme keine mögliche Entfaltung und Äußerung der Lebensenergie und der persönlichen Potentiale mehr gewährt.
Angst ist auch eine Reaktion unserer inneren Größe und Weite, wenn wir im Laufe des Lebens auf einen oder mehrerer kleine Teile reduziert werden.
Es wäre interessant, an dieser Stelle Menschen zu beleuchten, die sich das Leben nahmen und so aus Familiensystemen entschwanden. Vielleicht hatten sie nie einen Platz bekommen oder einnehmen können, oder einen Platz eingenommen, der zu bedrückend war und auf den viel abgeladen wurde.
Weihnachten ist auch eine interessante Zeit, denn es kommen Menschen zusammen, die einmal in diesem festen Familiensystem gelebt haben. Mittlerweile haben sie eine eigene Familie, leben in neuen Systemen, haben neue Rollen eingenommen und sind mit den alten eigentlich nicht mehr identifiziert. Jetzt treffen sich die einzelnen Familienmitglieder wieder in diesem System und spüren, dass sie energetisch wieder in die Rolle hineingedrängt werden, die sie damals innehatten. Dann wird der erwachsene Mann, der selbst schon zwei Kinder hat, einen verantwortungsvollen Beruf ausübt, wieder zu dem kleinen Jungen von vielleicht drei oder fünf Jahren. Man wird wieder zum kleinen Bruder, zur kleinen oder großen Schwester und beginnt langsam das zu fühlen, was man glaubte schon lange abgelegt zu haben.
Und wenn Mama dem vierzigjährigen Sohn auch noch ein paar warme Socken schenkt, kommen alte Gefühle hoch und Geschichten, die einfach nicht mehr zu einem passen.
Dann fühlt dieser Mann vielleicht etwas Altes, Bekanntes, aber irgendwie doch Fremdes und bekommt das Gefühl, kleiner zu werden, zu schrumpfen, und sieht die Welt plötzlich mit den Augen eines Vierjährigen.
Auch Klassentreffen, zu denen man nach 20 Jahren eingeladen wird, zeigen dieses Phänomen. Sehr schnell werden die Rollen wieder eingenommen, die man in dem Klassenverband innehatte, oder diese Rollen werden einem von den anderen einfach zugewiesen.
Der Klassenclown wird wieder zum Klassenclown, der Streber zum Streber und der Außenseiter zum Außenseiter.
Es ist leichter, ein altes, gewohntes und somit sicheres System wieder aufleben zu lassen, als neue unbekannte Begegnungen zuzulassen, wo ich noch nicht einmal weiß, welchen Platz ich da einnehmen werde.
Alle ‚Einzelteile‘ dieses Universums bewegen sich in Systemen: die Tierwelt, die Pflanzenwelt, die Welt der organischen und anorganischen Erscheinungen.
Es gibt die Planetensysteme, wo jeder kleinste Mond und jeder Stern eine wichtige Rolle spielt. Hier organisieren sich die Einzelteile nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten und haben keine eigenen Wahlmöglichkeiten.
Menschliches Zusammenleben spielt sich immer in Systemen ab und man kann nicht unabhängig davon sein. Es geht darum, zu erkennen, welche Rollen ich da einnehme und spiele, welche Rollen mir manchmal zugewiesen werden, ob sie mir guttun oder nicht, ob sie sich angenehm oder unangenehm anfühlen.
Und immer wieder sollte überprüft werden, ob ich in die Rolle überhaupt noch hineinpasse.
Der Baum am Rande des Dorfes
„Am Rande eines afrikanischen Dorfes stand ein sehr alter Baum. In diesem Dorf lebte ein alter, hochgeachteter Schamane, zu dem die Kranken kamen, um nach Beratung und Heilung zu fragen. Eines Tages kam ein Mann zu ihm, der sich vom Bösen besessen fühlte. Er hatte große Angst, war von Sorgen gebeutelt und fühlte starken Ärger, Wut und Hilflosigkeit. Sie kamen unerwartet, waren unberechenbar und lähmend. Der Schamane hörte sich das in aller Ruhe an und sagte ihm dann: ‚Am Rande des Dorfes steht dieser alte Baum. Ich habe das Böse in diesen Baum verbannt. Du darfst dich diesem Baum nicht mehr als 50 Meter nähern. Wenn du dich daran hältst, kannst du dich überall frei bewegen‘.
Der Mann hielt sich an diese Anweisung und das ‚Böse‘ war aus seinem Geist verschwunden und an diesen Baum angebunden.“
In Beziehungssystemen gibt es Menschen, denen die Rolle und Funktion dieses Baumes zugeschoben werden. In unserem Kulturkreis haben wir dafür den Begriff Sündenbock.
Ein Beispiel:
Auf Grund der Erfahrungen in ihrer Kindheit hatte eine Frau ein bestimmtes Männerbild entwickelt. Das kam folgendermaßen zustande: Ihren Vater hatte sie in ihrer Kindheit nur zweimal gesehen, sie fühlte sich später von ihm verlassen, und die Sichtweise auf Männer durch Mutter und Oma bestätigten ihr Gefühl, dass man sich auf Männer nicht verlassen kann und sie einen eines Tages sowieso verlassen werden.
Dieses Verlassenwordensein ließ sie nicht nur einen ‚Unwert‘ in sich fühlen, sondern auch eine große Wut auf Männer, mit den dazugehörigen Sichtweisen.
Das machte es ihr nicht leichter, Beziehungen mit ihnen einzugehen, denn das grundsätzliche Misstrauen war ein immer wiederkehrender Begleiter. Männer, die in ihr Leben kamen, mussten irgendwann als Stellvertreter für ihren Vater herhalten, und nachdem sie sie dann abgewertet hatte, blieb nichts ‚Gutes‘ mehr an ihnen übrig, sondern nur noch das ‚Böse‘.
Und so scheiterte eine Beziehung nach der anderen.
Die Ehe mit einem Mann, mit dem sie zwei Kinder hatte, die Beziehung zum nächsten, mit dem sie einen Sohn hatte, und die darauffolgenden Beziehungen scheiterten auch.
Mit dem Vater ihres gemeinsamen Sohnes, der mittlerweile bei ihm lebte, traf sie organisatorische Regelungen, und durch den Abstand kamen auch immer wieder sehr freundliche Begegnungen zustande: gemeinsames Kaffeetrinken, Austausch über Ereignisse des Lebens, alles mit einem gewissen, für sie sicheren Abstand, aber in freundlicher Atmosphäre.
Dann kam ein neuer Mann in ihr Leben, mit dem sie eine vorsichtige Beziehung anfing.
Sie sah das als eine große Chance, ihren Traum von Familie und Beziehung doch noch zu erfüllen. Und das veränderte schlagartig die Beziehung zu diesem zweiten Vater. Er erlebte von ihr nun diese plötzlichen Wutausbrüche, Anfeindungen, Abwertungen und Anschuldigungen aus der Vergangenheit.
Was passierte hier? Ihr war es wichtig (und das alles geschah natürlich ganz unbewusst), diesen neuen Mann ‚rein‘ zu halten von all den Abwertungen und negativen Sichtweisen, die wieder diese Beziehung und somit ihren Traum hätten zerstörten können. Sie musste also diese Abwertungen irgendwo unterkriegen und das geschah dadurch, dass sie nun den Vater ihres Sohnes abwertete. So konnte sie all das ‚Böse‘ an ihn anbinden und den neuen Mann davon frei und rein halten. Den ersten Mann, mit dem sie zwei Kinder hatte, hatte sie schon lange als ‚Arschloch‘ abgewertet, nun kam noch der zweite dazu.
So hatte sie nicht nur einen, sondern zwei Bäume am Rande des Dorfes, die sie von nun an mied.
Selbstwertschätzung
und Beziehungssysteme
Es bedarf einer klaren Entscheidung, aus unheilsamen und krankmachenden Beziehungssytemen auszusteigen, wenn sie nicht verändert werden können. Wenn gemeinsam keine zufriedenstellende Lösung gefunden werden kann und keiner das Gefühl hat, es bewege sich etwas, müssen gewisse Schritte gegangen werden.
Menschen, die uns gegenüberstehen, haben alle ihre Selbstbilder und Egostrukturen, ihre Gewohnheiten, Ängste und Bedürfnisse entwickelt, genau wie wir.
Manchmal kommt es in Beziehungen zu Konflikten und auch zu körperlichen und seelischen Bosheiten. Dafür entschuldigt sich der eine oder andere später und sagt: „Ich mache das auch nie mehr wieder, es tut mir leid“. Aber die Bosheiten passieren schon seit vielen Jahren, immer wieder. Ja, es stimmt, er oder sie wird es auch nicht wieder tun, nicht die Person, die da gerade spricht. Diese Bosheiten werden von einzelnen Persönlichkeitsanteilen ausgeführt, die in bestimmten Situationen die Führung übernehmen.
Die betroffene Person muss entscheiden, wann was zu tun