Die Ergebnisse zeigen, dass eine dualistische, trennende Betrachtungsweise, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Umweltentwicklungen (vgl. Kapitel 1), nicht haltbar ist. „Organisieren ist diesen Überlegungen zur Folge kontinuierliches Oszillieren zwischen Verwandeln und Bewahren, zwischen Risiko und Sicherheit.“139 Es gilt, die Balance zwischen Stabilität und Dynamik immer wieder aufs Neue auszuloten.
Einseitige Extreme sind i. d. R. zu vermeiden. Die Bekämpfung jedweder Unsicherheit und Komplexität durch den Abruf vermeintlich bewährter Muster und das Abspulen reflexhafter, tradierter Routinen und Standards kann ebenso wenig funktionieren wie exzessiver Wandel und permanenter Umbau durch ein Zuviel an Agilität.140 In diesem Zusammenhang haben sich die Begriffe der „organisationalen Ambidextrie“ bzw. „Beidhändigkeit“ etabliert (engl. Ambidexterity, abgeleitet aus dem Lateinischen ambo „beide“ und dexter „rechte Hand“), die heute längst über die Grenzen der theoretischen Organisationslehre hinaus Anwendung finden und mittlerweile in den praktischen Sprachgebrauch von Organisationsentwicklern übergegangen sind.
Der Begriff basiert auf einem wegweisenden Aufsatz von MARCH aus dem Jahr 1991. Darin hat er Exploration und Exploitation als zwei Formen des organisationalen Lernens unterschieden.141 Während Exploration für Experimente, Alternativensuche, Varianzerhöhung und Risiko steht, repräsentiert Exploitation die Aspkete Regeleinhaltung, Standardisierung, Varianzreduktion und Risikovermeidung. Organisationale Ambidextrie beschreibt die Fähigkeit, einen organisatorischen Rahmen zu bieten, der es den Organisationsmitgliedern erlaubt, gleichzeitig effizient und flexibel zu agieren. Es beschreibt eine Organisation, in der sowohl bestehendes Wissen und bewährte Routinen auf effiziente und effektive Weise genutzt und optimiert werden können, um den operativen Geschäftsbetrieb am Laufen zu halten (Exploitation), als auch neues Wissen generiert und nach neuen Technologien geforscht wird, um Innovationen hervorzubringen und das Unternehmen zukunftsfähig auszurichten (Exploration) – und das zur gleichen Zeit (vgl. Abbildung 24).142 Untersuchungen zeigen, dass Unternehmen, die über einen längeren Zeitraum erfolgreich sind, es schaffen, sich kontinuierlich an neue Marktbedingungen anzupassen und zu verändern und gleichzeitig die eigene Identität zu bewahren, indem sie sich auf bestehende Strukturen und Kulturen stützen und diese bewusst reflektieren und weiterentwickeln.143
Vor diesem Hintergrund haben unterschiedliche organisatorische Ansätze unter einem „Dach“ also nach wie vor ihre Berechtigung. Trotz dieser Erkenntnisse wurden klassische Organisationsansätze in den letzten Jahrzehnten immer wieder abgeschrieben und stehen aktuell mehr denn je im Kreuzfeuer der Kritik.144 Tatsächlich werden aber viele der zentralen Kernaspekte klassischer Organisation nach wie vor angewendet – und auch agile Ansätze bedienen sich an diesen, wie in Kapitel 4.5 aufgezeigt wurde.
Abb. 24: Organisatorische Beidhändigkeit145
Die Hartnäckigkeit, mit der sich klassische Ansätze im aktuellen Kontext behaupten, liegt also nur zum Teil an der mentalen Starrheit und der fehlenden Veränderungsbereitschaft von Entscheidern. Es liegt eben auch daran, dass ein gesundes Maß an organisatorischen Regeln und Ordnung sinnvoll ist und sich auch für die Arbeitsteilung und Koordination in komplexen und unbeständigen Umfeldern bewährt. Es gilt: „There is nothing inherently virtuous in agility, or … nothing inherently evil in bureaucracy. They are only tools in the service of a strategy for achieving results.“146
Arten der Beidhändigkeit
Es werden meist zwei Ansätze der organisatorischen Beidhändigkeit unterschieden – und vor dem Hintergrund der Wirkungsweise sozialer Systeme wird unten noch ein dritter ergänzt. Bei der strukturellen Ambidextrie finden Exploitation und Exploration in organisatorisch getrennten Strukturen bzw. Organisationseinheiten/ -bereichen statt, was folglich die Herausforderung mit sich bringt, mit durchaus unterschiedlichen Arbeitsweisen, Führungsstilen und Kulturen unter einem Dach umzugehen. ARNDT/METTNER erläutern in ihrem Buchbeitrag am Beispiel der R+V, wie strukturelle Ambidextrie in der Praxis aussehen kann.
Im Gegensatz zu dieser Form der beidhändigen Organisation, findet bei der kontextuellen Ambidextrie keine strukturelle Trennung von Exploitation und Exploration statt, sondern es wird je nach Kontext bzw. konkreter Aufgabe situativ aus unterschiedlichen Organisationsprinzipien gewählt und nach diesen agiert, was die Beidhändigkeit im Denken und Handeln von jedem einzelnen Organisationsmitglied erfordert. Die Beiträge von STELZMANN/REININGER (TELE HAASE) und FISCHERMANNS (IBO) zeigen, wie kontextuelle Beidhändigkeit in der Praxis funktionieren kann.
Exploitation und Exploration stehen also nicht im Widerspruch. Wie Stabilität und Wandel bedingen sie sogar einander. Sie befinden sich wie zwei Pole in einem permanenten Spannungsfeld, das es immer wieder neu auszutarieren gilt. Wenn einer von beiden wegfällt, dann gerät die dynamische Balance aus der kontinuierlichen Optimierung des Bestehenden sowie der Innovation in und am System ins Wanken – und das Unternehmen in eine gefährliche Schieflage. Dieses Verständnis ermöglicht es, dass in ein und demselben Unternehmen der Fokus auf der effizienzgetriebenen Vermeidung von Verschwendung, dem fehlerfreien Ablauf standardisierter Prozesse und der kontinuierlichen Optimierung von Prozessen liegt (Exploitation), während zur gleichen Zeit in Experimente und neue Geschäftsmodelle mit ungewissem Ausgang investiert wird und Recruiting betrieben wird, um neue Talente und Kompetenzen zu gewinnen. Diese vermeintliche Paradoxie bzw. diesen Widerspruch gilt es im unternehmerischen Alltag mitzudenken und auszuhalten.147 Denn zum einen ist die Investition in Exploration im engeren Sinne nur möglich durch eine effiziente und wertschöpfende Exploitation. Zum anderen hängt die zukünftige Exploitation und damit die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs maßgeblich von der erfolgreichen Exploration ab, die in der Gegenwart betrieben wird.
So befindet sich der gesamte Bankensektor aktuell in einem schwierigen Spannungsfeld. Gerade traditionelle Banken, dazu zählen z. B. Privathäuser sowie Sparkassen und Volksbanken, haben mit der andauernden Niedrigzinsphase und den damit verbundenen Margenrückgängen zu kämpfen. Um diese Entwicklungen zu kompensieren, werden beispielsweise Aufgaben und Zuständigkeiten gebündelt, in Beratungs- und Kundencentern zentralisiert und das Filialnetz verschlankt. Damit einher gehen umfangreiche Vorhaben zur Prozessautomatisierung und Standardisierung. Gleichzeitig müssen sich die Banken aber auch neu erfinden und den aufstrebenden Fintechs Paroli bieten, wenn sie weiterhin für Kunden attraktiv bleiben wollen. So hat z. B. die SPARKASSE DÜSSELDORF die sogenannte „netzwerkstatt“ gegründet. In eigens dafür geschaffenen Räumen wird in cross-funktionalen Teams und mithilfe agiler Arbeitsmethoden offen und kreativ an innovativen Produktlösungen und Vertriebsansätzen gearbeitet.148
Eine eindeutige und trennscharfe Unterscheidung der beiden Ambidextrieformen in der Praxis fällt oft nicht leicht. Das gilt insbesondere, wenn sich Unternehmen gerade in einer Transformation befinden. So lassen sich aktuell unzählige Organisationsvarianten und Spielarten beobachten, die auch als hybride Formen der Ambidextrie bezeichnet werden können, z. B. ausgeprägte agile Einheiten neben Einheiten mit klassisch-hierarchischen Rahmenstrukturen, innerhalb derer die Organisationsmitglieder mithilfe agiler Prozess- und Projektmanagementmethoden netzwerkartig interagieren (vgl. Kapitel 8.6). Es ist aber in den kommenden Jahren zu erwarten, dass der Anteil agiler Organisationselemente weiter zunehmen wird.149
Für die BMW-Group-IT gilt seit November 2016 das Motto „100 % agile“. Zu diesem konsequenten Schritt hat sich die IT-Führung um CIO KLAUS STRAUB entschieden, nachdem er den Versuch des sogenannten bimodalen Modells der zwei Geschwindigkeiten – das Nebeneinander klassischer und agiler Ansätze – für gescheitert erklärt hatte. Das Ziel war es, bis Ende 2019 alle IT-Projekte auf agil umgestellt zu haben. Eine echte Herausforderung, bedeutete es doch, dass auch die Fachbereichsseite ihre Arbeitsweise ändern musste. Die klassische