eine wesentliche Voraussetzung für die Beseitigung von Problemen. Nur bei einer ausgeprägten Transparenz ist eine kurzfristige Einflussnahme und Anpassung möglich. Daher benötigen die Akteure jederzeit Zugang zu empirischen Informationen über Kunden, Produkte, Preise, wirtschaftliche Indikatoren und Kennzahlen. In agilen Organisationen gilt die Grundregel „transparency by default“ bzw. „open by default“.118 D. h. im Normalfall sind alle Informationen für alle zugänglich. Geheimhaltung gibt es nur in begründeten bzw. zu begründenden Ausnahmefällen.
Etliche Beiträge in diesem Buch betonen die Bedeutung von Transparenz.119 Bei TELE HAASE beispielsweise wurden in den letzten Jahren vielfältige Informationsgrenzen – nach innen und auch außen – abgebaut und man hat sich ganz bewusst „in die Karten schauen“ lassen (vgl. STELZMANN/REININGER). Denn eine solche Offenheit wird als fruchtbarer Boden für neue Geschäftsmodelle in Zeiten der Digitalisierung betrachtet. Man hat erkannt, dass dann, wenn Menschen ins Gespräch kommen, anstatt sich hinter selbst gebauten Mauern zu verstecken, Dinge ins Rollen kommen und neue, innovative Ansätze entstehen. Auch bei HEILER (vgl. HEILER/BORCK) und IBO (vgl. FISCHERMANNS) wird eine ausgeprägte Transparenz verfolgt. Alle Mitarbeiter wissen über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens immer Bescheid. Gleiches gilt für die Performance und Wirtschaftlichkeit im eigenen Team und Verantwortungsbereich.
Zur Umsetzung von Transparenz wird bei agilen Organisationsansätzen gerne und intensiv mit für alle zugänglichen digitalen und physischen Kommunikations- und Informationsplattformen gearbeitet. Bei agilen Methoden, wie bspw. Kanban und Scrum (vgl. Kapitel 6), spielen transparente Backlogs und Task-Boards meist eine zentrale Rolle in der Koordination der arbeitsteiligen Arbeit. Es ist wichtig, dass alle wissen, wo man steht, was noch zu tun ist und wie sich die Performance verändert. Bei SIEMENS wird deshalb mit Obeyas (japanisch für „großer Raum“) gearbeitet, in denen alle zentralen Projektinfos visualisiert sind und die Projektmeetings stattfinden (vgl. den Beitrag von KALNIK). Dadurch sind immer alle zentralen Infos für alle transparent und greifbar. Auf diese Weise wird für schnelle Kommunikation und kurze Entscheidungswege gesorgt.120
Eine solche Transparenz bzw. Offenheit erfordert und fördert ein großes Vertrauen und Zutrauen in die Mitarbeiter (vgl. Kapitel 9). Dies sollte sich in einem hohen Engagement und verantwortungsvollen Mitentscheiden und Mitgestalten niederschlagen. Transparenz ersetzt so in agilen Systemen umfangreiche Kontrollsysteme.121
Purpose-Orientierung
In dynamischen und komplexen Umfeldern mit hoher Unsicherheit ist es nicht möglich bzw. nicht sinnvoll, sehr konkrete Ziele und ausgefeilte Pläne zu definieren. Im ungünstigsten Fall ist der Plan bereits obsolet, bevor er zu Papier gebracht worden ist. Da es aber auch in solchen Umfeldern einer Koordination der verschiedenen Aktivitäten bedarf, richten agile Unternehmen ihr Handeln meist an einem Purpose aus. Er ist zentraler Orientierungspunkt und Grundlage für alle Entscheidungen, die auf der Unternehmensebene, in Teams und von jedem einzelnen Organisationsmitglied getroffen werden. Er stellt die Existenz in den Mittelpunkt und beantwortet die einfache, jedoch grundsätzliche Frage, warum es ein Unternehmen gibt bzw. wofür es da ist. Aus individueller Sicht betrachtet könnte diese Frage auch lauten: „Warum tue ich das, was ich tue?“
Ein Purpose beschreibt damit aus unternehmerischer Sicht einen gemeinsamen, kohäsiven Sinn und Zweck, an dem sich alle Aktivitäten orientieren. Er soll sicherstellen, dass alle Organisationsmitglieder ihr Handeln auf die Erfüllung markt- und kundenorientierter Bedürfnisse ausrichten und gleichzeitig eigenverantwortlich und wertschöpfend zur Aufrechterhaltung und (Weiter-)Entwicklung des Ökosystems beitragen, indem sie als Individuen innerhalb und außerhalb des Unternehmens agieren. SIMON SINEK beschreibt mit dem sogenannten Golden Circle idealtypisch, wie Organisationen ausgehend von der Antwort auf das Warum/Why (Sinn und Zweck), das Wie/How (Strategien und Prinzipien) ableiten, um das Was/What (Produkte und Leistungen) zu beantworten (vgl. Abbildung 22).122
Abb. 22: Elemente eines Purpose123
Ein guter Purpose integriert die Bedürfnisse jedes einzelnen Organisationsmitglieds in einem übergreifenden Statement, erzeugt dadurch eine persönliche und emotionale Verbundenheit und sorgt auf diese Weise für die notwendige Abstimmung und Ausrichtung der Gesamtorganisation. Dem Purpose-Statement geht daher häufig ein intensiver Findungsprozess voraus, in den die Organisationsmitglieder (repräsentativ) eingebunden werden sollten, damit sie sich an dessen Formulierung und Ausgestaltung beteiligen können.124 Er reicht somit weiter, als die bei vielen Unternehmen bisher oft übliche Ausprägung bzw. Verankerung von Vision oder Mission. Prinzipiell ist es unerheblich, wie das Kind am Ende heißt, im agilen Kontext hat sich aber der Purpose-Begriff durchgesetzt (vgl. Exkurs-Box).125 Die sogenannten Purpose Driven Organizations sind aktuell populärer Untersuchungsgegenstand zahlreicher Studien.126
„Wir gestalten Lebensräume für zukünftige Generationen – We create living spaces for generations to come.“ So lautet der Purpose des 1917 gegründeten und international tätigen Familienunternehmens VIESSMANN (Warum/Why). Der Hersteller und Anbieter von Energie- und Klimalösungen ist sich seiner Verantwortung bewusst. Die rund 12.300 Familienmitglieder leisten Tag für Tag ihren Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele. Sie setzen dabei konsequent auf Digitalisierung als unabdingbare Voraussetzung für die Energiewende und sorgen so für ein gesundes Zuhause, eine emissionsfreie Stadt und einen lebenswerten Planten. Untrennbar damit verbunden ist der Wandel der eigenen Unternehmenskultur, in den alle aktiv eingebunden sind. Verantwortlich, teamorientiert und unternehmerisch – das sind die Werte und Wesenszüge, die jedes Familienmitglied tagtäglich in seinem Handeln prägen (Wie/How) und u. a. in den intelligenten und nachhaltigen Energiesystemen und Kühllösungen für die Bereiche Wohnen, Industrie und Gewerbe zum Ausdruck kommen (Was/What).127
Die Kernbotschaft von VIESSMANN „ist sehr stark durch den Klimawandel getrieben. Wir überlegen, wie wir die Menschen unterstützen können CO2 einzusparen. Damit wir diesen Planeten nicht verlassen müssen, sondern dableiben können. Von da aus kann man den Rest leicht runterbrechen: Unternehmensziele, Strategie, Vision. Und daran die Einzelaufgaben für jeden ableiten“, sagt MARKUS PFUHL, Chief of Staff & Strategy, VIESSMANN FAMILY HOLDING.128
Ein Purpose ist kein Ersatz für Strategien oder Ziele. Vielmehr bildet er den zentralen Gravitationspunkt für die Unternehmenssteuerung und ermöglicht insbesondere in unsicheren Zeiten Flexibilität bei der operativen Entscheidungsfindung im Tagesgeschäft als auch zur übergreifenden (Re-)Priorisierung umfangreicherer Projekte und Themen. Vielleicht war es gerade deshalb auch dem „Heizungsbauer“ VIESSMANN möglich, während der Corona-Krise innerhalb kürzester Zeit einen Teil seiner Produktion auf Beatmungsgeräte umzustellen (vgl. Kapitel 1). In einem Workshop kamen u. a. Intensivmediziner und VIESSMANN-Entwickler zusammen – nach drei Tagen lag der erste Prototyp vor, nach drei Wochen das entwickelte Beatmungsgerät, das ausschließlich Teile enthält, die VIESSMANN in seinen Heizungsgeräten und Wärmepumpen verbaut. Dabei stammen sämtliche Ideen von eigenen Mitarbeitern und Partnern.129
In agilen Organisationen kennen idealerweise alle Organisationsmitglieder auf allen Ebenen ihren eigenen Purpose – vom Individuum und einzelnen Rollen (vgl. Rollendefinition bei Holacracy in Kapitel 8.3), über die Ebene der einzelnen agilen Teams bzw. Module und ggf. weiterer Substrukturen (z. B. Purpose für Subkreise, Squads o. ä., vgl. Kapitel 8), bis zur Unternehmensebene (vgl. VIESSMANN-Beispiel). Das folgende Beispiel eines Medienhauses zeigt, wie ein Purpose über verschiedene Ebenen formuliert und ineinandergreifen kann.