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Agile Organisation – Methoden, Prozesse und Strukturen im digitalen VUCA-Zeitalter


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am Problem und Kunden dran sind – direkt selbst untereinander abstimmen und dabei ihre unterschiedlichen Kompetenzen und Perspektiven einbringen.110 Der kollektiven Intelligenz/Kompetenz des Teams an der Basis werden bessere Entscheidungen zugetraut als der individuellen Intelligenz/Kompetenz einer Führungskraft oder eines Vorgesetzten.

      Selbstorganisation ist aber nicht gleichbedeutend mit Hierarchiefreiheit. Stattdessen kann treffender von „hierarchiearm“ gesprochen werden.111 Eine gewisse Über- und Unterordnung gibt es meist auch in agilen Organisationen (vgl. Kapitel 8). Untergeordnete Organisationseinheiten (z. B. Subkreise, Squads) müssen sich natürlich irgendwie an den Entscheidungen in der übergeordneten Organisationseinheit (z. B. Kreis, Tribe) ausrichten – und alle am gemeinsamen Zweck (Purpose). Einzelne Rollen (z. B. Lead Link, Tribe Lead) können durchaus disziplinarische Macht ausüben.112 Und es gibt Rechtsvorschriften (z. B. § 76 AktG, § 35 GmbHG, § 26 BGB), die geschäftsführende Positionen einfordern. Darüber hinaus werden temporäre Hierarchien, in denen sich Führungsaufgaben auf mehrere bzw. wechselnde Personen verteilen, oft auch in agilen Strukturen akzeptiert. Schließlich bilden sich bei fehlenden formellen Hierarchien sehr häufig informelle Machtstrukturen bzw. Hierarchien. Von daher führt Selbstorganisation zu Hierarchiearmut, aber nicht Hierarchiefreiheit.

      In agilen Organisationen gilt deshalb das organisatorische Subsidiaritätsprinzip, das besagt, dass Entscheidungen möglichst weit „unten“ getroffen werden und „höhere“ Einheiten nur dann eingreifen sollten, wenn die Möglichkeiten des Einzelnen bzw. des Teams auf der niedrigeren Ebene allein nicht ausreichen, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Dabei kann sich die Entscheidungshoheit nicht nur auf die Art und Weise der Aufgabenverrichtung erstrecken, das Wie, sondern umfasst u. U. auch die Entscheidung darüber, welche Zielsetzung und welche Aufgaben überhaupt verfolgt werden, das Was. Das schließt beispielsweise die Entwicklung eigener Prinzipien zur Selbststeuerung und Selbstführung mit ein – Ausführungs-, Ergebnis-, Prozess- und Führungsverantwortung sind gebündelt und liegen in einer Hand. Dazu benötigen die Akteure weitreichende Kompetenzen bzw. Rechte. Zu große Freiräume bei Akteuren oder Teams können die Gesamtorganisation jedoch schnell überlasten.

      Welcher Grad an selbstorganisiertem und eigenverantwortlichem Handeln sinnvoll ist, hängt vom jeweiligen Kontext ab. In selbstorganisierten Systemen geht der Bedarf nach Regeln und Struktur idealtypisch von dem Rolleninhaber aus, bei dem dieser entsteht und wird nach Möglichkeit auch durch diesen gelöst. Nur wenn eine organisatorische Einheit den Regelungsbedarf nicht selbst lösen kann bzw. weitere Rollen oder Teams in die Entscheidung involviert oder von dieser betroffen sind, treten übergreifende Koordinationsmechanismen in Kraft (vgl. nächsten Punkt). Der Regelungsbedarf wird auf dafür geschaffene Plattformen bzw. Ebenen „gehoben“ und allen Beteiligten und Betroffenen transparent gemacht.

      Das Unternehmen W. L. GORE & ASSOCIATES zieht seine Agilität aus klaren Regeln, die sich aus vier verbindlichen Unternehmensprinzipien ableiten: Freiheit, Selbstverpflichtung, Fairness und Waterline. Das Waterline-Prinzip vergleicht das Unternehmen mit einem Schiff, das sich bereits auf hoher See befindet, an dem jedoch ständig weitergebaut wird. Hier ist es wichtig, dass Entscheidungen unterhalb der Wasserlinie, die das Schiff ins Wanken oder sogar in eine existenzielle Schieflage bringen könnten, konsultativ und verantwortungsvoll getroffen und getragen werden. Dabei gelten die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und Eigenverantwortung – die Akteure entscheiden eigenverantwortlich, ob sie sich mit ihren Entscheidungen und Handlungen über oder unter der Wasserlinie befinden.113 Ein Lernprozess, der jedem Mitarbeiter (Associate/Teilhaber) abverlangt wird und nach eigenen Aussagen zwei bis drei Jahre dauern kann, bis man dieses Prinzip verinnerlicht hat.114

      Ebenfalls inspirierend ist das Beispiel des US-amerikanischen Chemieunternehmens WD-40 COMPANY. Hier gilt für die Mitarbeiter bezogen auf ihren Verantwortungsbereich: “I am responsible for taking action, asking questions, getting answers, and making decisions. I won’t wait for someone to tell me. If I need to know, I’m responsible for asking. I have no right to be offended that I didn’t get this sooner. If I’m doing something others should know about, I’m responsible for telling them.”115 Diese Aussage, WD-40 spricht von „Maniac Pledge“ (verrücktes Versprechen), bringt sehr klar zum Ausdruck, welche Freiheiten, aber auch welche Verantwortung mit Selbstorganisation verbunden sind.

      Viele agile Initiativen kranken an einer Überdosis verordneter Selbstorganisation und missverstandener Delegation. Agiles Management bedeutet aber nicht „laissez faire“, Verantwortung einfach zu delegieren und auf Mitarbeiter oder Teams zu übertragen, eine „Open Door Policy“ auszurufen oder ab „jetzt sofort“ auf Dress-Codes zu verzichten. So gesehen ist auch die Selbstorganisation zu organisieren.

      Definierte Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse

      Wenn die Organisation durch die operativen Mitarbeiter (Rolleninhaber) selbst bzw. durch die Mitglieder der agilen Teams – und nicht durch Fremdorganisation einer „höheren“ Instanz – erfolgt, dann ist es für ein effizientes Vorgehen wichtig, dass genau festgelegt ist, wer welche Entscheidungen treffen darf bzw. wie Entscheidungen getroffen werden. Lange Diskussionen mit unklaren Verantwortungen sind weder effektiv noch effizient. Aus diesem Grund gibt es auch in agilen Organisationen definierte Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse.

      Es gibt eine Vielzahl an konkreten Entscheidungsverfahren bzw. -werkzeugen. Einige der Beiträge in diesem Buch gehen auf diese Thematik ein und erläutern die im jeweiligen Unternehmen angewendeten Verfahren (vgl. bspw. HEILER/BORCK, FISCHERMANNS, SCHULLER/FUCKER und TILLMANNS-ESTORF et al.).116 Etwas vereinfacht lassen sich die verschiedenen Entscheidungsverfahren in dem Kontinuum von Abbildung 21 verorten. Auf der einen Seite gibt es Themen und damit Entscheidungen, für die eine Rolle verantwortlich ist und eigenständig und autonom entscheiden kann. Dies ist insbesondere bei operativen Aufgaben sinnvoll, die vielzahlig auftreten, keine weitere Kompetenz benötigen, keinen wesentlichen Einfluss auf andere Rollen haben und vor allem kein Risiko für das Gesamtsystem darstellen. Auf der anderen Seite des Kontinuums stehen Entscheidungen von strategischer Bedeutung für das Gesamtsystem (vgl. auch GORE-Beispiel weiter oben). Hier sind Gruppenentscheidungen im Konsens (alle stimmen zu), im Konsent (keiner hat einen begründeten, schwerwiegenden Einwand) oder nach Mehrheitsregeln möglich. In agilen Teams wird dabei häufig dem Konsentverfahren gefolgt. Wenn keiner einen schwerwiegenden Einwand hat, dann ist es „safe enough to try“, was übersetzt so viel heißt wie: „Wenn es momentan keine nachgewiesenen Einwände gegen diesen Vorschlag gibt, dann hindert uns nichts daran, ihn auszuprobieren.“ Ebenfalls sehr beliebt ist der konsultative Einzelentscheid, bei dem die verantwortliche Rolle oder eine gemeinschaftlich bestimmte Person verpflichtet ist, relevante Stakeholder bzw. Experten zum Thema zu konsultieren und deren Meinung einzuholen.

      Abb. 21: Kontinuum von Entscheidungsverfahren117

      Die konkreten, in agilen Organisationen vorzufindenden Entscheidungsverfahren, lassen sich prinzipiell in diesem Kontinuum einordnen. Entscheidend ist vor allem, dass es definierte Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse gibt und die Entscheidungen dort getroffen werden, wo das dafür notwendige Wissen am größten ist.

      Transparenz

      Eine Grundvoraussetzung für Agilität – für obsessive Kundenausrichtung, ein funktionierendes Pull-Prinzip, autonome Teams, Selbstorganisation usw. – ist es, dass die Rolleninhaber und agile Teams über alle notwendigen Informationen verfügen. Agilität benötigt Transparenz. Transparenz bzw. Offenheit ist die Voraussetzung für Freiheit und Verantwortung in agilen Prozessen und Strukturen.

      Damit Mitarbeiter die Bedeutung und Konsequenzen von Aufgaben und Entscheidungen einschätzen und im Sinne des Gesamtunternehmens sinnvoll eigenständig bearbeiten und entscheiden können, brauchen sie z. B. Transparenz über die strategische Ausrichtung, Priorisierungskriterien, Unternehmens-, Finanz-