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Agile Organisation – Methoden, Prozesse und Strukturen im digitalen VUCA-Zeitalter


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nicht einmalig vorab analysiert und dann in einem großen „Wurf“ umgesetzt werden, sondern dass iterativ und inkrementell vorgegangen wird. Denn Studien belegen, dass durchschnittlich 50 % der Anforderungen während eines Projekts geändert werden.74 Besonders in komplexen und dynamischen Situationen ist es gar nicht möglich, die Kundenbedürfnisse vorab komplett und konkret zu ermitteln. Dies liegt u. a. daran, dass die Kunden selbst gar nicht genau wissen, was möglich ist. Auch sind die zu bewältigenden Aufgaben nicht immer eindeutig, und logische Zusammenhänge und Folgebeziehungen unbekannt oder existieren nicht. Anforderungen und die für die Zielerreichung notwendigen Technologien und Verfahrensweisen sind unklar oder ändern sich im Zeitverlauf (vgl. Kapitel 2.4). Intensive Vorabanalysen und langfristige Planung bringen unter solchen Bedingungen nur sehr geringen Nutzen, vielmehr wiegen sie die Entscheider in trügerischer Sicherheit und sind kontraproduktiv. Es gilt: „The trouble is, once that the beautifully elegant plan meets reality, it falls apart.”75 bzw. in den Worten des ehemaligen Boxweltmeisters MIKE TYSON: “Everyone has a plan‚ till they get punched in the mouth.”76

      Unter dynamischen und komplexen Rahmenbedingungen ist daher ein iterativ-inkrementelles Vorgehen die bessere Wahl. Gerade, wenn die gewünschte Lösung noch nicht auf der Hand liegt, plant man besser auf Sicht und konzentriert sich auf solche Anforderungen (bzw. User Stories, vgl. Kapitel 6.3), die wichtig und dringlich sind. Iterativ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich in überschaubaren Intervallen, meist sogenannten Sprints, der gewünschten Zielvorstellung schrittweise angenähert wird. Frühe Ergebnisse werden in kurzen Zyklen verändert und verfeinert, bis das gewünschte Ziel erreicht ist. Gemäß den Erläuterungen in Kapitel 2.4 gilt der Ansatz „probiere, erkenne, reagiere“. Und selbst das angestrebte Ziel bzw. die angedachte Lösung kann sich mit wachsender Erfahrung im Zeitverlauf immer wieder ändern.

      Abb. 17: Iterativ-inkrementelles Vorgehen77

      Das in Abbildung 17 dargestellte inkrementelle Vorgehen zielt darauf, dass am Ende jeder Iteration ein vorzeigbares und überprüfbares Teilergebnis (Inkrement) vorliegt. Ein (Produkt-)Inkrement ist für sich genommen eigenständig, es verfügt über alle notwendigen Funktionalitäten und ist auslieferbar bzw. nutzbar. Gerade in den frühen Phasen einer Entwicklung ist dieses Vorgehen sehr wertvoll, da Kunden und Stakeholder von Beginn an in den Gestaltungsprozess eingebunden werden können und sehr schnell erste Lösungen erhalten, die Erkenntnisse über die weiteren Entwicklungsschritte liefern. Jede weitere Iteration und jedes weitere Inkrement reduziert schrittweise die Unsicherheit und führt letztlich – durch kontinuierliche Optimierung und Weiterentwicklung – zur tatsächlich die Kundenbedürfnisse erfüllenden Lösung.78 Die durch das iterative Vorgehen und regelmäßiges Feedback (vgl. folgender Punkt) realisierte Lösung entspricht typischerweise nicht der ursprünglich einmal geplanten bzw. angedachten Lösung – sondern sollte besser geeignet sein, die tatsächlichen Kundenbedürfnisse und die Unternehmensziele zu erfüllen.

      Ein solches iterativ-inkrementelles Vorgehen (bzw. kleinschrittiges, erprobendes Herantasten79) ist unter VUCA-Bedingungen wirtschaftlich, denn Ergebnisse werden nicht nur schneller geliefert, sondern das Vorgehen selbst, der Prozess, wird permanent angepasst und verbessert. Die iterative Überprüfung des gewünschten Ziels verhindert, dass man sich verzettelt, und die frühe Einbindung der Kunden und deren Feedback ermöglicht es, dass Aufträge und Projekte schneller zum Erfolg führen, da nur solche Funktionen umgesetzt werden, für die der Kunde auch bereit ist zu zahlen (vgl. Lean Startup in Kapitel 6.4).80 Oder um es mit den Worten von STEVE DENNING zu sagen: „Agile is about working smarter, rather than harder. It’s not about doing more work in less time: it’s about generating more value with less work.“81

      Auf diese Weise kann auch die Arbeit am System, die Struktur- und Prozessgestaltung, betrieben werden. So dient beispielsweise das iterativ-inkrementelle Vorgehen seit jeher als Grundlage für das Konzept der kontinuierlichen Prozessverbesserung (KVP) und ist fester Bestandteil der Kaizen-Philosophie (vgl. Kapitel 2.3).82

      „[N]iemand sollte [jedoch] kleinschrittige Entwicklungsprozesse mit kleinteiligem Denken verwechseln. Das von ELON MUSK gegründete Raumfahrtunternehmen SPACEX will mit agilen Innovationen so weit kommen, ab 2024 Menschen zum Mars transportieren zu können, um dort eine autarke Kolonie zu gründen.“83 Zwar weiß keiner bei SPACEX, wie das genau funktionieren soll, aber es gibt ein gemeinsames Verständnis, was die zentralen Hebel sind, an denen man ansetzen will. „Das ist agiles Arbeiten in der Praxis: große Ambitionen und schrittweiser Fortschritt.“84

      Integrierte Feedback- und Lernschleifen

      Das beschriebene iterativ-inkrementelle Vorgehen ist eng verbunden mit dem kontinuierlichen Lernen als weiteres wesentliches Charakteristikum agiler Organisation. Die Qualität und mithin die Überlebensfähigkeit einer lernenden Organisation85 ist abhängig von den Möglichkeiten und den Fähigkeiten ihrer Organisationsmitglieder, sich selbstorganisiert und eigenverantwortlich zu entwickeln (vgl. auch den Beitrag von HARTMANN). Es gilt: „The purpose of an organization is to enable ordinary human beings to do extraordinary things.”86

      In einem dynamischen und komplexen Umfeld erfolgt die Entwicklung bewusst empirisch in kleinen Schritten. Versuch und Irrtum, Feedback und Reflexion sind fest in der agilen Philosophie verankert und folglich auch Teil agiler Organisation. Auf diese Weise kann sich ein Unternehmen schnell und flexibel auf neue Situationen einstellen. Agile Ansätze wie Scrum, Lean Startup oder OKR (vgl. Kapitel 6) haben daher auch immer integrierte Feedback- und Lernschleifen, die die Akteure dazu anhalten, ihre Annahmen über Kundenbedürfnisse, Produkterfordernisse, Prozessaktivitäten und die eigene Zusammenarbeit in kurzzyklischen Iterationen zu reflektieren und ggf. anzupassen (z. B. Reviews und Retrospektiven).

      Da es in sozialen Systemen oft an kausalen Ursache-Wirkungszusammenhängen mangelt, empfiehlt sich eine ergebnisoffene, hypothesengeleitete Herangehensweise. Dies erfordert die Bereitschaft, in Alternativen zu denken und (nur) vorläufige Annahmen zu treffen (Hypothesen) über das, was ist oder was (zukünftig) sein könnte. Hypothesen konstruieren eine Wirklichkeit, die als Grundlage für Entscheidungen dient. Sie sind regelmäßig zu überprüfen und im Bedarfsfall umzuformulieren, zu ergänzen, zu erweitern oder auch wieder aufzuheben (iterativ und inkrementell). Das gemeinsame Bilden von Hypothesen eröffnet neue Perspektiven („Mehrbrillenprinzip“) und unterstützt somit die Objektivität im Prozess.87 Durch das Überprüfen von Hypothesen wird sich schrittweise an eine Problemlösung herangetastet. Ausprobieren und experimentieren ist ausdrücklich erlaubt – getreu der agilen Philosophie: Fail early, fail fast, fail often, fail better!88

      Agilität impliziert somit eine konstruktive Fehler- bzw. Lernkultur. Wenn in diesem Zusammenhang von Fehlern die Rede ist, dann sind damit nicht solche gemeint, von denen man zum Zeitpunkt einer Entscheidung bereits hätte wissen müssen, die also vermeidbar gewesen wären. Der Irrtum als Synonym für den hier benutzten Fehlerbegriff scheint daher geeigneter. Denn ein Irrtum liegt vor, wenn sich eine Annahme oder Hypothese zum Zeitpunkt einer Entscheidung später als Fehleinschätzung herausstellt. Agile Unternehmen lernen also vielmehr aus Irrtümern als aus Fehlern, denn letztere sind im engeren Sinne Verschwendung, und die gilt es bekanntlich zu vermeiden. Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder Fehler zu sanktionieren ist oder diejenigen, die ihn begangen haben, abgestraft werden sollten. Mit vermeidbaren Fehlern umzugehen hat etwas mit einem wertschätzenden Umgang zu tun, unabhängig von Methode oder Organisationsform. Ebenso geht es nicht darum, die eine richtige Hypothese zu finden oder zu bestätigen, sondern durch eine Vielfalt