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Agile Organisation – Methoden, Prozesse und Strukturen im digitalen VUCA-Zeitalter


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Überblick

      Als „Gegenmodell“ zu den am Ende von Kapitel 3.4 dargestellten Kernelementen klassisch-hierarchischer Organisation werden im Kapitel 4 die Charakteristika einer agilen Organisationsgestaltung vorgestellt. Basierend auf den in Kapitel 2 vorgestellten Entwicklungslinien und den zugrunde liegenden agilen Werten und Prinzipien, sowie als Extrakt der Kernelemente diverser agiler Ansätze, lassen sich die in Abbildung 16 („Agile Org Navigator“) dargestellten Charakterzüge agiler Organisation ableiten.69 Sie verdeutlichen, wie in agilen Unternehmen Prozesse (Prozessgestaltung) und Strukturen (Strukturgestaltung) gestaltet werden und wie sich die Akteure innerhalb dieses organisatorischen Rahmens koordinieren (Koordination).

      Diese Charakteristika bilden das Fundament der verschiedenen agilen Organisationsansätze, die in den Kapiteln 6 bis 8 vorgestellt werden. Wie die gestrichelten Linien in Abbildung 16 verdeutlichen, ist eine eindeutige und trennscharfe Kategorisierung der 15 Charakteristika kaum möglich und auch nicht gewollt. Die systematische Einordnung der Charakteristika in die 3 Kategorien zeigt jedoch deren primären Einflussbereich, zeigt Zusammenhänge auf und hilft bei der Analyse. Die einzelnen Elemente wie Selbstorganisation, Transparenz, iterativ-inkrementelles Vorgehen und cross-funktionale Teams lassen sich zwar losgelöst voneinander beschreiben, ihr volles Nutzenpotenzial erschließt sich jedoch erst durch eine integrierte Betrachtung und Kombination. Ebenfalls ist anzumerken, dass das Modell keine Anleitung liefert, was zu tun ist, es zeigt „lediglich“ die wesentlichen Elemente, die sich bei agilen Organisationsansätzen immer wieder finden lassen – wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Ausprägungen. Die Charakteristika liefern ein Orientierungsgerüst für Mitarbeiter und Führungskräfte sowie alle organisatorisch Tätigen – z. B. Organisatoren, Organisationsentwickler und Agile Coaches – und sind so etwas wie die Leitprinzipien agiler Organisationsgestaltung. Der „Agile Org Navigator“ hilft dabei, im Agilitäts-Kosmos zu manövrieren. Er liefert Orientierung im agilen Begriffs- und Methodenwirrwarr.

      Abb. 16: Agile Org Navigator

      Die einzelnen Elemente agiler Organisationsgestaltung werden im Folgenden jeweils kurz vorgestellt und dann in den Kapiteln 6 bis 10 – und auch in den sonstigen Beiträgen im Buch (wenn auch z. T. mit leicht unterschiedlichen Bezeichnungen) – immer wieder aufgegriffen. Dadurch wird der Charakter agiler Unternehmen, nach und nach „mit Leben gefüllt“, klarer und greifbarer.

      4.2 Agile Prozessgestaltung

      Getreu dem Primat der Prozesse (vgl. Kapitel 3.1) werden im Folgenden zunächst die typischen Charakteristika agiler Prozesse vorgestellt. Wie diese in konkreten Methoden und Frameworks angewendet bzw. umgesetzt werden, wird dann später in den Kapiteln 6 und 7 erläutert.

      Kundenzentrierung

      Da Geschäftsprozesse nur dann effektiv und effizient gestaltet werden können, wenn die Kundenerwartungen bekannt sind, ist es essenziell, die aktuellen Kundenbedürfnisse zu ermitteln. Dies ist natürlich in keinster Weise eine Besonderheit von agilen Unternehmen. Wie in Kapitel 3.1 vorgestellt, ist die Markt- und Kundenorientierung ein generelles Gestaltungsziel von Organisation. Es dürfte kaum ein Unternehmen geben, das nicht von sich behauptet, kundenorientiert zu sein bzw. sein zu wollen. Doch wird der Kundenfokus sowie die Geschwindigkeit, mit der individuelle und dynamische Kundenbedürfnisse antizipiert und in marktfähige Produkte und Leistungen umgesetzt werden, in der VUCA-Welt zum entscheidenden Erfolgsfaktor (vgl. Kapitel 1). Denn immer anspruchsvollere und volatilere Kundenanforderungen gehen einher mit kürzeren Innovations- und Produktlebenszyklen, die Flexibilität im Denken und Handeln der Organisationsmitglieder erfordern.

      Gefragt sind schnelle Reaktion, kreatives, flexibles kundenorientiertes Agieren, ohne die operationale Exzellenz aus den Augen zu verlieren. Dementsprechend spielen die Analyse von Kundenbedürfnissen, das regelmäßige Einholen von Kundenfeedback und die kontinuierliche Anpassung an neue Erkenntnisse über die Kundenwünsche eine sehr große Rolle in agilen Projekt- und Prozessmanagementansätzen (vgl. Kapitel 6). Anforderungen werden in User Stories formuliert, es werden Customer Journeys analysiert und optimiert und in manchen Unternehmen (z. B. AMAZON) steht gar in jedem Meeting ein freier Stuhl als Erinnerung dafür, sich jede Entscheidung auch aus der Perspektive des Kunden zu betrachten. Eine besonders exponierte Stellung kommt der Kundenzentrierung dabei im Rahmen von Design Thinking zu. Das Besondere in agilen Organisationen ist also nicht die Kundenausrichtung an sich, sondern das Maß der Kundenfokussierung.

      Gerade auch in agilen Unternehmen wird gerne mit einfachen Instrumenten zur Messung der Kundenzufriedenheit, wie z. B. dem NPS (Net Promoter Score), gearbeitet. Untersuchungen zeigen, dass die Umsätze bei Unternehmen mit einem vergleichsweise hohen NPS rund 2,5-mal schneller steigen als bei ihren Wettbewerbern.70 Voraussetzung für diesen Erfolg ist jedoch, dass die zugrunde liegenden Wertströme und Unternehmensprozesse auf die Kundenerwartungen ausgerichtet sind und permanent an diese angepasst werden können. Denn all das Messen „nützt nichts, wenn dieses Ergebnis dann im Vorstandsschreibtisch verschwindet.“71

      In agilen Prozessen liefern validierte Informationen über die wirklichen Kundenbedürfnisse die Entscheidungsgrundlage dafür, welche Aufgaben wertschöpfend sind und auf welche Aktivitäten verzichtet werden kann. Hier zeigt sich wiederum die Nähe zu Lean (vgl. Kapitel 2.3), dessen Grundhaltung es ist, kundenorientierte Wertschöpfung ohne Verschwendung zu schaffen. Es gilt der klassische Spruch von PETER DRUCKER: „Nichts ist weniger effizient, als etwas effizienter zu machen, was überhaupt nicht gemacht werden sollte.“

      Organisatorisch gliedern sich die Prozesse folglich meist nach dem sogenannten Kunde-zu-Kunde- bzw. End-to-end-Prinzip, mit einer ganzheitlichen und idealerweise „fallabschließenden“ Vorgangsbearbeitung (vgl. Kapitel 3.2). Die Prozess- und Ergebnisverantwortung wird durch cross-funktional zusammengesetzte Teams möglichst eigenständig wahrgenommen (vgl. Kapitel 4.3). Prozessverantwortliche bzw. Process Owner sind dadurch – ähnlich der Rolle eines Product Owner (vgl. Kapitel 6.3) – in der Lage, die Sicht des Kunden einzunehmen und für die Kundeninteressen einzustehen. Sie können, falls nötig, gegenüber den Prozessbeteiligten als „Anwalt des Kunden“ auftreten und argumentieren – eine mächtige Stimme, für deren Durchsetzung es idealerweise keine hierarchische Macht braucht. Schließlich bestimmt der Kunde über den Prozesserfolg.72 Das ermöglicht einerseits, dass Kundenerwartungen und -feedbacks schnell und flexibel aufgegriffen werden können, erfordert aber andererseits Standards im Sinne eines stabilen Rahmens, damit die Effizienz nicht auf der Strecke bleibt (vgl. Kapitel 4.4).73

      Iterativ-inkrementelles