Katharina Wesselmann

Die abgetrennte Zunge


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als Gegnerin transsexueller Menschen positioniert – explizit auf Twitter, implizit im Porträt eines transsexuellen Killers in ihrem neuesten Roman Troubled Blood (Böses Blut), den sie unter dem Pseudonym Robert Galbraith publizierte. Diesen Namen trug ein Konversionstherapeut des 20. Jahrhunderts, also ein Psychiater, der Homosexualität ‚heilen‘ wollte. Die Generation der Millenials, die ihre Kindheit und Jugend in Harry Potters wundersamem Zauber-Universum verbracht hatte, sieht sich aus dem Paradies vertrieben. Bei einem erneuten Lesen der Harry Potter-Romane zeigt sich zwar keine explizite Transfeindlichkeit, dafür aber ein immenser Mangel an Diversität: Der Held, Harry Potter, ist männlich, seine viel klügere Freundin Hermine ist nur Nebendarstellerin, die erzählte Welt ist überwiegend weiß und heteronormativ.

      Was tun mit Harry Potter? Durch die sozialen Netzwerke geistern verschiedene Statements ehemaliger Fans: Die einen propagieren den ‚Tod des Autors‘. Sie wollen ihre Geschichten behalten und die problematische Figur Rowling ausblenden. Die anderen sind der Meinung, man dürfe die Harry Potter-Bücher nun nicht mehr lesen. Natürlich beschränkt sich diese Fragestellung nicht auf das Werk von J. K. Rowling. Sie erstreckt sich auf den größeren Teil dessen, was gemeinhin als ‚abendländische‘ Kultur bezeichnet wird: Was tun mit all den Büchern, Filmen, Songs und Opern, die männliche Helden feiern, männliche Probleme wälzen? Die nicht-männlichen Perspektiven ausblenden oder negieren, bis hin zur Normalisierung von sexueller Gewalt?

      Es ist weder möglich noch wünschenswert, die Tradition abzuschaffen. Auch wenn eine Öffnung der Gesellschaft zugunsten marginalisierter Stimmen nur positiv gewertet werden kann, bedeutet das nicht, dass wir uns von den vergangenen Jahrtausenden einfach so lösen werden. Auch im Jahr 2021 existiert keine egalitäre Gesellschaft. Warum das so ist, wird klar, sobald man einen Blick auf die Kulturgeschichte wirft. Unsere Welt war über Jahrtausende dominiert von männlichen Eliten, in den letzten Jahrhunderten von weißen männlichen Eliten. Dies betrifft alle Sphären des Öffentlichen und Privaten: Männer förderten, produzierten und kritisierten Kunst und Kultur, Männer forschten über Inhalte, die für sie selbst interessant waren, Männer studierten männliche Körper, ihre Krankheiten und Heilungen, Männer führten ein männliches Stimmvolk an und repräsentierten dessen Interessen.

      Sicherlich ist davon heute einiges obsolet. Der Feminismus ist nicht erst 2017 erfunden worden, ebenso wenig wie postkoloniale Strömungen, die anderen als europäischstämmigen Stimmen Gehör verleihen wollen. Aber die Fronten haben sich verhärtet. Der Ruf nach Diversität wird lauter und radikaler. Gleichzeitig erstehen auf der ganzen Welt neurechte Bewegungen.

      Dieses Buch will einen Bogen zu den oft beschworenen antiken Wurzeln unserer Kultur schlagen. Es ist kein versöhnlicher Bogen. Die Antike wird gern als Wiege vieler schöner Dinge gelobt: Die Griechen, so weiß man, erfanden die Demokratie, die Philosophie und das Theater, die Römer bauten Straßen, die wir heute noch befahren, hielten ein phänomenal organisiertes Weltreich am Laufen und beeinflussen Europa bis heute in allen möglichen Bereichen, sei es Sprache oder Rechtsprechung. Aber die Antike ist auch die Wiege des Patriarchats, der Misogynie und Gewalt. Hier zeigen sich bisweilen erstaunliche Parallelen zu heutigen Phänomenen. Gleichzeitig weist die frühe patriarchale Welt der Antike auch so manche Brüche auf.

      Das zeigt sich gleich in meinem ersten Kapitel: „Erzählte Frauen“. Einerseits ist die männliche Dominanz im antiken Erzählen ein offensichtliches Faktum: So sind die homerischen Figuren Briseis und Penelope praktisch ausschließlich über die Beziehungen zu ihren Männern definiert. Gleichzeitig setzen sich teilweise andere Stimmen durch, weil die Figuren eben nicht ausschließlich von Männern geschrieben sind, sondern auch Teil einer Mythenkultur, die sich fragmentarisch auch über Volkserzählungen oder bildliche Darstellungen konstituierte. Das 21. Jahrhundert muss nur zugreifen: Penelope und Briseis können auch ganz anders erzählt werden, wenn eine Margaret Atwood oder der Streaming-Service Netflix die Sache in die Hand nimmt. Aber auch in den antiken Bearbeitungen wird der männlichen Erzähler-Autorität bisweilen das Heft aus der Hand genommen. Die Figur der Helena entzieht sich ihren männlichen Biografen durch ihre kultische Stellung: Der Legende zufolge nimmt die Halbgöttin Einfluss auf die Erzählungen, die über sie kursieren.

      Wenn Frauen nicht nur erzählt werden, sondern auch klassifiziert und eingeordnet, zeigt sich eine klarere männliche Zielsetzung – aber auch diese wird, je nachdem, durchbrochen. Wagen sich Frauen in die Politik, also in eine klar männlich konnotierte Sphäre, endet das nicht gut. Hier gibt es aber verschiedene Möglichkeiten: Der mythischen Figur der Antigone wird ihr Ausflug in die Männerwelt des Staates zwar zum Verhängnis. Ihr Gegner Kreon jedoch endet ebenso elend: Auch sein Versuch, weibliche und männliche Sphären gewaltsam zu trennen, kann nicht funktionieren. Einseitiger ist die Darstellung einer nicht-fiktiven weiblichen Figur, die in männliche Dominanzsphären eindringt: Die ägyptische Königin Kleopatra wird vom Chor der antiken Geschichtsschreiber ziemlich konsequent und verächtlich als unnatürlich porträtiert. An dieser Zeichnung politisch aktiver Frauen hat sich leider bis heute nicht viel geändert.

      Frauen gehören in der Vorstellungswelt antiker Texte nicht in die Öffentlichkeit. Aber auch im Privaten können sie Fehler begehen. Verlieren sie ihren pudor, also ihre weibliche Ehre, so haben sie damit auch ihr Existenzrecht verwirkt. Es gibt einige Figuren in antiken Erzählungen, die nicht abwarten, bis ihre Familie ihnen eine standesgemäße Ehe arrangiert, und sich stattdessen ihren Angebeteten nähern. Diese Figuren werden fast ausnahmslos ins Elend gestoßen. Im Kapitel über das Schicksal der Verlassenen zeichne ich das an den Beispielen Dido und Medea nach. Es gäbe genügend andere, etwa Ariadne, die von ihrem Geliebten Theseus auf einer einsamen Insel ausgesetzt wird, oder Skylla, die Minos hilft, ihren Vater Ninos zu besiegen, und die daraufhin von dem jungen Helden ertränkt wird. Dido und Medea haben aber gemeinsam, dass sie von ihren männlichen Biografen beeindruckend empathisch dargestellt werden: Vergil und Euripides referieren das Unglück der verlassenen Frauen voller Mitleid – ohne diese Realitäten des Frauenlebens jedoch infrage zu stellen.

      Ähnlich empathisch erzählt und gleichzeitig enorm schockierend sind die Geschichten von Frauen, die nach einer Vergewaltigung zum Schweigen gebracht werden, von denen wir etwa bei Ovid lesen. Gerade angesichts heutiger Dunkelziffern im Bereich von Sexualstraftaten wirken die antiken Erzählungen besonders frustrierend: Herausgeschnittene Zungen oder veränderte Gestalten hindern die Opfer am Sprechen. Das sind Bilder, die nach wie vor sehr berühren: Die Unfähigkeit, über das erlebte Leid zu sprechen, ist bis heute Thema, auch wenn die #metoo-Bewegung diesbezüglich einiges erreicht hat. Die Tradition dieses Schweigens, symbolisiert von Philomelas abgetrennter Zunge, gibt diesem Buch seinen Titel.

      Ein Meilenstein, der an sich schon Geschichte ist, besteht in der Kriminalisierung der Vergewaltigung in der Ehe, die der deutsche Bundestag im Jahr 1997 beschloss. Es ist heute kaum mehr begreiflich, dass eine Gewalttat durch die Legalisierung eines Liebesverhältnisses entschuldigt werden konnte. Aber auch hier ist es zu einfach, sich auf dem erreichten Status quo auszuruhen. Die Ehe als Besitzverhältnis mit der Frau als Objekt ist nicht einfach eine heutzutage eliminierte, altertümliche Auffassung, sondern die eigentliche, Jahrtausende alte Definition der Institution Ehe. Ein Blick in die römische Komödie zeigt, wie tief verwurzelt diese Perspektive in unserer Kultur ist: Hat eine Vergewaltigung stattgefunden, kann das Unrecht durch Legalisierung des Verhältnisses wiedergutgemacht werden, so die Pointe fast aller erhaltenen Komödien des Dichters Terenz. Juristische Faktoren eliminieren emotionale: Wo Recht herrscht, kann es keine Opfer geben. Wir sind heute weiter als 1997, aber das quantitative Verhältnis zwischen dem kurzen Zeitraum der letzten 23 Jahre und den vorangegangenen Jahrtausenden ist aussagekräftig genug. Das Erreichte darf auch heute nicht als selbstverständlich gelten, zu tief ist die Prägung durch eine uralte Tradition.

      In der zweiten Hälfte dieses Buches wende ich mich der männlichen Perspektive zu, beginnend mit der Frage nach männlichen Opfern. Die griechische Päderastie ist nach wie vor ein Dauerbrenner in vielen populären und wissenschaftlichen Diskursen über die Antike. Waren die alten Griechen tatsächlich alle pädophil? Wie gehen wir heute damit um? Auch diese Fragen sind heute brisanter geworden, als sie es noch vor einigen Jahren waren. Konnten die Übergriffe an der berüchtigten Odenwaldschule noch bis Ende des letzten Jahrtausends über einen diffus antikisierenden ‚pädagogischen Eros‘ legitimiert werden, so haben im heutigen Klima Forschende, die antike päderastische