Katharina Wesselmann

Die abgetrennte Zunge


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häufiger als umgekehrt. Unter diesen Darstellungen gibt es natürlich subtile Porträts, die alles andere als sexistisch sind, aber eben auch zahlreiche Beispiele, in denen sich ein bestimmter männlicher Blick durchsetzt und weibliche Figuren klischeehaft und flach gezeichnet sind. Eine typische Dichotomie ist die zwischen den Extremen der ‚tugendhaften Unschuld‘ und der Femme fatale, die traditionell eher Norm als Ausnahme darstellt – deutlich seltener sind Beispiele zu finden, wo Männer Frauen darstellen, die selbstbestimmt und glücklich ihre Sexualität leben, die glaubwürdige, eigenständige Persönlichkeiten haben oder interessanten Tätigkeiten nachgehen.

      Die antiken Paradigmen sind hier besonders relevant, weil die meisten griechischen und römischen Autoren ihre Figuren nicht selbst erfanden, sondern nur neu interpretierten. Viele Heldinnen antiker Texte entstammen der mythischen Tradition, und ihre Geschichten sind durch sehr unterschiedliche Texte, aber auch durch bildliche Darstellungen überliefert – oft in ganz verschiedenen Versionen. Daraus ergibt sich ein großer Facettenreichtum der Einzelfiguren, die unzählige verschiedene Biografen haben, und die Figuren hatten von Anfang an eine Art Eigenleben.

      Die wirkmächtigste Verarbeitung der Stoffe seit der Antike ist wohl die Homers, des Autors von Ilias und Odyssee. Auch Homer ist kein Erfinder fiktionaler Geschichten: Er berichtet zwei Episoden aus dem Mythos um den Trojanischen Krieg, den auch zahllose andere antike Texte und Bilder zum Thema haben. Aber Homers Epen sind die frühesten erhaltenen Texte Europas, und ‚seine‘ Figuren haben es in der griechisch-römischen Literatur zu besonderer Prominenz gebracht. Gleichzeitig gibt es gegen diese Darstellungen Widerstand – von modernen Stimmen und, der Legende zufolge, von den dargestellten Figuren selbst. Drei Beispiele für homerische Frauen sind die unterwürfige Sklavin Briseis, die treue Gattin Penelope und die schillernde (Halb-)Göttin Helena.

      Die Sklavin: Briseis

      Briseis ist eine eher kleine Figur in den homerischen Epen, eine Frau mit einem Schicksal, wie es Unzählige erlebten und erleben, die in Kriegen gefangen genommen und sexuell ausgebeutet werden. Kurz zusammengefasst: Der große Held Achilleus begibt sich während der Belagerung von Troja immer wieder auf Beutezüge in die umliegenden Gebiete. Dabei fällt ihm eines Tages Briseis in die Hände, was vermutlich wenig erwähnenswert wäre, wenn sie ihm dann nicht von seinem Vorgesetzten Agamemnon weggenommen würde. Dieses Ereignis setzt die Handlung der Ilias in Gang, denn Achilleus wird so zornig, dass er nicht mehr mitkämpft und die Griechen beinahe den Krieg verlieren. Briseis ist ein ‚Mac-Guffin‘: Der von Alfred Hitchcock geprägte Begriff steht für mehr oder weniger beliebige Objekte oder Personen, die in einem Film ausschließlich dazu dienen, die Handlung auszulösen oder voranzutreiben – sei dies ein Dokumentenkoffer, ein geheimnisvoller Datenträger, eine begehrte Frau.

      Die ausgelöste Geschichte wird bis heute wieder und wieder erzählt. In der 2018 erstmals ausgestrahlten Netflix-Serie Troy – Fall of a City (Troja – Untergang einer Stadt) kommt Briseis ebenfalls vor. Unter den vier Zuständigen für das Drehbuch sind immerhin zwei Frauen. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass Briseis in der Serie keine echte Sklavin ist. In der vierten Folge der ersten Staffel begegnet sie Achilleus sofort auf Augenhöhe: Während des Überfalls auf ihr Heimatdorf greift sie beherzt zur Waffe und stürzt sich ohne zu zögern auf den größten Griechenhelden. Dieser entwaffnet sie mit Leichtigkeit und hält ihr den blutigen Dolch unters Kinn – das sie stolz und mit entschlossenem Blick erhebt. Achilleus’ Gesichtsausdruck zeigt seine Anerkennung. Er schlägt Briseis nieder, lässt sie aber am Leben.

      In einer späteren Szene sehen wir Briseis deprimiert in Achilleus’ Zelt sitzen; er äußert Bedauern über das Schicksal ihrer Familie, aber Krieg sei eben Krieg. Er habe sie aber, so erklärt er ihr, nicht als Sklavin mitgenommen, sondern weil er der Meinung sei, sie verdiene zu leben. Achilleus’ bester Freund Patroklos betritt die Szene, verarztet Briseis’ Wunde und lässt sie wissen, dass sie sicher sei, da Achilleus sie für sich ausgewählt habe. Briseis bäumt sich ein letztes Mal auf, hält nun ihrerseits Patroklos einen Dolch an den Hals und befiehlt Achilleus, ihr die Handfesseln zu lösen. Dieser bringt sie mit bedrohlicher Dominanz dazu, den Dolch fallen zu lassen. Dennoch löst er ihr die Fesseln und bittet sie, keine Angst vor ihm zu haben. Das Eis ist gebrochen, und eine knappe halbe Stunde später haben die drei entspannten, konsensuellen Sex am Strand.

      Achilleus ist bei Netflix eindeutiger Sympathieträger, wozu auch beiträgt, dass die Produktion die (in der Tat bahnbrechende) Entscheidung getroffen hat, den Helden und weitere zentrale Figuren mit People of Colour zu besetzen. Schon diese Tatsache macht seine Figur zu einem Helden, der nicht den gängigen Klischees entspricht. Die Beziehung zwischen Achilleus und Briseis wirkt gleichberechtigt, und die Umstände ihres Zustandekommens intensivieren die emotionale Komponente noch: Der Mann verzichtet auf seine Macht über die unterworfene Frau. Stattdessen empfindet er gleichberechtigte Erotik als anziehend.

      Bis zu dieser emanzipativen Version hatte Briseis einen langen Weg zurückzulegen. Das zeigt schon ein Blick in Paulys und Wissowas gute alte Real-Encyclopädie: Briseis wurde von Achilleus erbeutet, so steht da zu lesen, nachdem er ihren Mann und drei Brüder umgebracht hatte. Dies erfahren wir in Homers Ilias, aber bei Netflix wird dieser Hintergrund weitgehend ausgeblendet: Briseis berichtet sogar explizit, ihre Eltern seien an der Pest gestorben. Die Ilias-Stelle ist rasch nachgeschlagen: Sie malt ein Schicksal, das für die moderne Bearbeitung zu erschütternd ist. Briseis trauert um den toten Patroklos (Achilleusʼ Freund wurde von Hektor getötet) und rekapituliert dabei ihre eigene Geschichte: „Der Mann, dem mich mein Vater und meine verehrte Mutter gegeben haben, den hab ich vor der Stadt gesehen, zerfleischt von scharfem Erz, und drei Brüder, die mir die eine Mutter geboren hatte, geliebte, die folgten alle dem Tag des Verderbens. Aber du hast mich nicht, hast mich nicht – als der schnelle Achilleus meinen Mann tötete, als er die Stadt des göttlichen Mynes vernichtete – weinen lassen, sondern du sagtest, du werdest mich zur rechtmäßigen Ehefrau des göttlichen Achilleus machen, mich in den Schiffen nach Phthia bringen, Hochzeit feiern bei den Myrmidonen.“1 Man hört Briseis in ihrer atemlosen Wortwiederholung förmlich aufschluchzen: οὐδὲ μὲν οὐδέ μ’ ἔασκες […] κλαίειν (udé mḗn udé m’ éaskes […] klaíein).

      Nicht nur wird die Ermordung von Briseis’ Familie hier erwähnt, sondern auch ihre einzige Hoffnung, dem Sklavenschicksal zu entkommen: den Mörder ihrer Brüder und ihres Ehemannes zu heiraten und in seiner Heimat Phthia bei seinen Leuten, den Myrmidonen, zu leben. Patroklos hatte sie mit dieser Aussicht getröstet. Es ist Briseis’ alleinige Chance auf ein menschenwürdiges Leben. Sie ist mit diesem Schicksal nicht der einzige Fall in der antiken Literatur. Auch Klytaimestra, die treulose, mörderische Gattin des Agamemnon, ist ihre Ehe mit dem Atridenfürsten nicht freiwillig eingegangen. Nach einer wenig bekannten Variante des Mythos tötete Agamemnon ihren Mann, seinen Cousin Tantalos; ihrem kleinen Kind schlug er den Schädel ein, um sie anschließend selbst zu ehelichen.2

      Zurück zu Briseis. In der Ilias ist sie ganz klar als Sklavin, als Ware dargestellt. Dies kommt auch in Agamemnons berühmtem ‚Geschenke-Katalog‘ zum Ausdruck, also seiner Aufzählung aller Dinge, die er Achilleus verspricht, damit der wieder mitkämpfen will (denn nur mit Achilleusʼ Hilfe können die Griechen Troja besiegen): Dreifüße, Gold, Kessel, Rennpferde und Frauen will er Achilleus schenken, „und dabei wird die sein, die ich ihm damals weggenommen habe, die Tochter des Brises.“3

      Der römische Dichter Ovid teilt diese klare Sichtweise auf Briseis’ brutale Situation. In seinen Heroides, einer Reihe von Briefen mythischer Frauen an ihre Männer, lässt er Briseis einen Brief an Achilleus schreiben. Gleich zu Anfang finden sich Hinweise auf das hierarchische Spannungsverhältnis zwischen Sklavin und Herr: „Der Brief, den du liest, kommt von der geraubten Briseis, nicht besonders gut auf Griechisch geschrieben von meiner barbarischen Hand. Die Flecken, die du siehst, haben meine Tränen gemacht, aber auch meine Tränen haben das Gewicht einer Stimme. Wenn es mir erlaubt ist, mich ein wenig zu beklagen über dich, Herr, Mann, dann will ich ein wenig über den Herrn, den Mann klagen.“4 Briseis betont ihre kulturelle Fremdheit und dass sie ihrer vertrauten Welt entrissen worden ist. Wenn sie über ihren „Mann“ spricht, nennt sie ihn immer zuerst ihren „Herrn“. Falls Achilleus absegelt, so Briseis, will sie gerne