oder sie als Kleinkind töten will, um selber am Leben oder an der Herrschaft zu bleiben. Tatsächlich existieren in der antiken Mythologie keine Geschichten, in denen Töchter im Kindesalter getötet werden. Dagegen ist das Motiv des Helden, der eigentlich nicht leben soll, sich dann aber auf wundersame Weise doch durchsetzt, ziemlich verbreitet, nicht nur im griechisch-römischen Mythos: Man denke an Moses und Jesus.
Margaret Atwood wagt sich auch an eine Reaktion auf eine der wohl misogynsten Stellen der antiken Literatur, die sich ebenfalls in der Odyssee findet. Als Odysseus zurückkehrt, rächt er sich an den Freiern, die seinen Hof belagern, und an deren Verbündeten. Darunter sind auch zwölf Mägde, die sich mit den Freiern eingelassen haben – aus Gründen, die in der Odyssee nicht näher ausgeführt werden; ob freiwillig oder gezwungen, erfährt man nicht. Diese Frauen können nicht am Leben bleiben, sie sind illoyal, befleckt von ihren Beziehungen zu den Feinden. Sie werden bestraft, während ihre Herrin Penelope noch schläft: Zunächst wird ihnen befohlen, den Saal vom Blut und den Leichnamen der bereits ermordeten Freier zu reinigen. Danach sollen sie selber sterben; Odysseus trägt seinem Sohn Telemachos und zwei loyalen Dienern auf, sie mit dem Schwert zu töten.
Klagend, weinend und unter Zwang machen sich die Frauen an die entsetzliche Arbeit. Danach werden sie in eine Ecke des Hofes gedrängt, aus der es kein Entkommen gibt. Telemachos erklärt ihnen, dass der Tod durch das Schwert noch zu gut für sie sei, spannt ein Seil über den Hof und hängt sie daran auf: „Und wie Drosseln mit weit gespannten Flügeln und Tauben in ein Netz hineinschlagen, das im Gebüsch aufgespannt ist – eigentlich wollten sie nach Hause, aber ein grässliches Lager hat sie empfangen –, so hielten die ihre Köpfe in einer Reihe, und um aller Hälse lagen Schlingen, sodass sie auf jämmerlichste Art und Weise sterben sollten. Ein bisschen zappelten sie mit den Füßen, aber nicht sehr lange.“11 Auf die Szene folgt noch die Bestrafung des illoyalen Hirten Melanthios: Ihm werden Nase, Ohren und Genitalien abgeschnitten und den Hunden vorgeworfen. Auch das ist grässlich, aber die Bestrafung der Frauen wirkt noch stärker, weil sie vor ihrem Tod noch zum Arbeiten gezwungen werden – zum Beseitigen der Leichen ihrer Liebhaber, mit denen sie sich eingelassen hatten, unter welchen Umständen auch immer.
Die Mägde haben in der Rezeption der Odyssee wenig Mitgefühl erfahren. So hat Emily Wilson – sie hat das Werk als erste Frau ins Englische übersetzt – auf einige drastische Formulierungen ihrer Vorgänger aufmerksam gemacht: Während die illoyalen Dienerinnen im homerischen Text neutral als „die Frauen, die mit den Freiern geschlafen haben“, bezeichnet werden,12 haben Generationen männlicher Übersetzer sie mit einem verstörenden Arsenal moderner misogyner Begriffe wie ‚sluts‘, ‚whores‘ und ‚creatures‘ charakterisiert, womit sie gravierend vom Originaltext abwichen.13
Auch die Erzählung um die Mägde hat Margaret Atwood in ihrer Penelopiade neu gedeutet. In ihrer Version des Mythos sind die zwölf jüngsten, hübschesten Mägde für die Freier ohnehin Objekte der Begierde. Da sie zu intimen Beziehungen mit den Männern gezwungen werden, stiftet ihre Herrin Penelope sie dazu an, für sie zu spionieren. Niemand außer Penelope weiß von der Übereinkunft, und deswegen werden die vermeintlich illoyalen Mägde von Odysseus und seinen Helfern getötet. Penelope schläft gerade, als ihre überaus loyalen Spioninnen ermordet werden. Verraten hat sie die alte Dienerin Eurykleia; die Erzählerin lässt offen, ob aus Loyalität zu ihrem Herrn oder aus Eifersucht auf die Jugend und Schönheit der Mägde.
Das Beispiel der Penelope zeigt, wie stark die Figur vom männlichen Blick geprägt worden ist. In der mythischen Tradition durchaus eine facettenreiche Figur mit ganz eigenen biografischen Zügen, wurde Penelope durch die Dominanz des odysseischen Narrativs im kollektiven Gedächtnis der literarischen Tradition zur Gattin des Odysseus reduziert. Margaret Atwood erobert etwas von Penelopes Facettenreichtum zurück und eröffnet der Welt Züge der sinnbildhaften Gattin, die seit Homer keine besondere Aufmerksamkeit mehr erhalten hatte.
Atwood ist nicht die einzige moderne Autorin, die derartige Neuinterpretationen unternimmt. Mit Penelope and the Geese wurde 2019 eine Oper der Komponistin Milica Paranosic und der Librettistin Cheri Madig uraufgeführt, in der Penelope das Gegenteil einer keuschen Gattin ist: Sie webt kein Leichentuch für ihren Schwiegervater, um die Freier in Schach zu halten, sondern eine Bettdecke aus den Locken ihrer unzähligen Liebhaber.
Die Göttin: Helena
Neben Penelope haben auch andere Figuren des antiken Mythos neue Biografinnen: Christa Wolf hat Kassandra und Medea in ihren gleichnamigen Romanen schon vor einigen Jahrzehnten aus weiblicher Perspektive erzählt. 2020 hat Sabine Scholl eine weibliche Figur namens O. auf eine Odyssee geschickt – O. lautet auch der Titel ihres Romans –, und Madeline Miller hat 2018 die Perspektive der Zauberin Kirke eingenommen. Natalie Haynes erzählt in ihrem Roman A Thousand Ships konsequent die Geschichten der trojanischen Frauen, Pat Barker in The Silence of the Girls die der griechischen Beutefrauen. Beide Romane stammen aus dem Jahr 2019. Traditionell aber mangelt es an solchen Perspektiven empfindlich, mit der Folge, dass weibliche Protagonisten in ihren Möglichkeiten konsequent vernachlässigt worden sind.
Ein besonders drastisches Beispiel dafür stellt Christopher Marlowes 1592 erschienene Tragödie Doctor Faustus dar. Hier wird die schöne Helena vom Titelhelden aus der Unterwelt heraufbeschworen; sie ist es, die Faustus am Ende ins Verderben zieht und ihm die Seele aussaugt. Helenas Rolle ist also eigentlich nicht unwichtig; in einer Verfilmung von Marlowes Stück von 1967 wird sie denn auch von dem damaligen Superstar Elizabeth Taylor verkörpert. Trotzdem hat Helena keine einzige Textzeile. Sie ist gleichermaßen Trophäe, satanische Präsenz und Inspiration zu Heldentaten. Jedenfalls ist sie keine Figur mit eigenen Emotionen, deren Perspektive irgendjemanden interessiert.
In den antiken Darstellungen der Helena verhält sich dies erstaunlich anders. Zwar ist Helena in ihrer Geschichte eigentlich der ultimative ‚MacGuffin‘ – immerhin löst sie den Trojanischen Krieg aus, vielleicht das prominenteste Ereignis der griechisch-römischen Mythologie. Helena, Gattin des Menelaos, ist die schönste Frau der Welt, und die Göttin Venus / Aphrodite hat sie dem trojanischen Thronfolger Paris als Belohnung zugedacht, ein erstrebenswertes Gut, das er noch nie gesehen hat und dennoch heiß begehrt. Nachdem Paris Helena nach Troja entführt hat, bricht Krieg aus: Alle griechischen Fürsten ziehen gegen Troja, um die Ehre von Helenas Ehemann Menelaos zu retten, was mit Helena als Person wiederum wenig zu tun hat. Wer ist diese Frau? Welche Persönlichkeit steckt hinter ihrer schönen Gestalt? Es überrascht, wie differenziert sich die antiken Darstellungen hier zeigen und wie wenig davon sich in der Rezeption erhalten hat – man denke an ihre dämonische Präsenz ohne Persönlichkeit bei Marlowe.
Über die Figur der Helena ist viel geschrieben worden.14 Tatsächlich kommt sie auch in der antiken Literatur sehr oft vor, öfter und prominenter als Briseis und Penelope. Homer porträtiert sie in beiden Epen als überdurchschnittlich intelligente, findige und selbstreflektierte Frau; sie spielt in der griechischen Lyrik eine Rolle, wo sie von dem Kriegerpoeten Alkaios als Ursache für viele Heldentode geschmäht und von der Dichterin Sappho als Identifikationsfigur besungen wird – einer der ganz seltenen Fälle einer antiken weiblichen Perspektive.15 Helena schreitet durch die griechische Tragödie16 und dient den sophistischen Rednern als Exemplum;17 der hellenistische Dichter Theokrit schreibt ihr ein Hochzeitslied.18 Auch die lateinische Literatur arbeitet sich an Helena ab: Bei Vergil ist sie die monströse Rachegottheit, die den Krieg gebracht hat, bei Ovid eine geschickt kalkulierende, kokette Gesellschaftsdame, bei Seneca leidende Sklavin von Göttern und Männern.19
Alle diese Stimmen entwerfen die Figur immer wieder neu. Viele fragen, ob sie freiwillig nach Troja gegangen ist oder zu welchem Grad sie am Ausbruch des Krieges schuld ist. Die erstaunlichste Situation des Erzählens jedoch ist nicht die eines männlichen Autors oder einer weiblichen Dichterin: Es ist die von Helena selbst. Helena, so zeigt sich in einer antiken Legende, hat selbst ‚agency‘, ‚Selbstbestimmung‘: Sie ist in der Lage, ihr Narrativ bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren. Das liegt daran, dass sie in der Antike nicht nur als literarische Figur gesehen wurde, sondern auch als Halbgöttin mit übernatürlicher Präsenz. Dadurch ist Helena nicht nur eine fiktive Figur, sondern sie übt auch selbst Einfluss auf das Handeln von Menschen