Katharina Wesselmann

Die abgetrennte Zunge


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heute auch reaktionäre Narrative, die sich überraschend deutlich in Traditionen einreihen, die seit der Antike kursieren. So hat die selbstmitleidige Perspektive der sogenannten Incels, unfreiwillig zölibatärer junger Männer, die sich von der Frauenwelt zurückgestoßen fühlen und darauf mit Hass und Aggression reagieren, viel mit den Haltungen zu tun, die sich in der antiken Liebeselegie manifestieren. Dies erstaunt vor allem deswegen, weil die Liebeselegie traditionell als Ausdruck einer eher sanften Männlichkeit wahrgenommen wurde, die in starkem Gegensatz zur antiken römischen Machokultur steht. Tatsächlich zeigt sich in den Liebesgedichten jedoch eine tiefe Misogynie, die viel mit männlichen Ansprüchen und sehr wenig mit weiblicher Selbstbestimmung zu tun hat. Gleichzeitig lassen sich Zusammenhänge mit gegenwärtigen Vorstellungen von Romantik erkennen: Die Liebe wird in Hollywood zum Teil bis heute als hart erkämpfte Trophäe des Tapferen inszeniert, oder gar als Siegespreis im Kampf der Geschlechter.

      Auffällige Konstanten zeigen sich auch in Texten, die ich in Ermangelung einer besseren Vokabel als ‚mackerhafte Selbstinszenierung‘ bezeichnen würde. Wenn der antike Dichter Catull seine Rivalen wüst beschimpft oder ihnen sexuelle Gewalt androht, wenn er Frauen, von denen er sich zurückgewiesen fühlt, auf groteske Art und Weise beleidigt, so spiegelt sich das in aktuellen Hip-Hop-Texten wider: Bis in den Wortlaut gleichen sich die Formulierungen antiker und zeitgenössischer Polemik, wobei die heutigen Texter die antiken Vorlagen vermutlich nicht einmal kennen. Die Klischees bleiben die gleichen, fern jeder bewussten Intertextualität.

      Ganz besonders virulent ist dies bei einem Sonderfall der Beleidigung, der Inhalt meines letzten Beitrags ist: Alte oder hässliche Frauen, die womöglich sogar sexuell aktiv sind, werden in der Antike als groteske Scheusale wahrgenommen und hemmungslos beschimpft, nicht anders als heute. Hier sind wir an einem Punkt, wo das Stereotyp von der grausamen Antike und der aufgeklärten Gegenwart nicht mehr greift. Gerade im Zeitalter der sozialen Medien dürfen wir uns von einem antiken Dichter wie Horaz einen Spiegel vorhalten lassen, was Grausamkeit und Hohn gegenüber äußerlich weniger Begünstigten angeht.

      Ein klarer Blick auf diese Beispiele lohnt sich: Der Satz von der Zukunft, die Herkunft braucht, kann sich eben nicht nur auf unsere zivilisatorischen Errungenschaften beziehen, sondern muss auch die Faktoren miteinbeziehen, die uns heute Bauchschmerzen bereiten. Eine Rezeptionshaltung, die nicht klassizistisch-idealisierend ist, hilft bei der Erkenntnis, dass männliche Dominanz unsere kulturelle DNA seit Jahrtausenden prägt, inklusive Sexismus, Misogynie und sexueller Gewalt. Sich dieser Tatsache zu stellen, kann zu einem realistischeren, auch zu einem kreativeren Umgang mit unseren Traditionen führen.

      Leider ist dies bisher zu wenig geschehen. Zwar haben die Gender Studies auch die Klassische Philologie längst erreicht und stellen innerhalb der Alten Sprachen mittlerweile ein ge- und beachtetes Forschungsfeld dar. Meist beschränkt sich die Diskussion aber auf rein akademische Kreise. Immerhin finden sich hier Auseinandersetzungen auch mit ganz zeitgenössischen Problemen. Melanie Möllers 2020 erschienener Sammelband Gegen / Gewalt / Schreiben. De-Konstruktionen von Geschlechts- und Rollenbildern in der Ovid-Rezeption beleuchtet den lateinischen Autor aus einer sehr gegenwärtigen Perspektive und thematisiert auch die Probleme eines heutigen Publikums mit den antiken Texten. Auch in den USA gibt es Beispiele für diese offene Konfrontation der antiken Traditionen mit modernen Problemen. Schon 2004 publizierte Madeleine Kahn, eine Dozentin für Vergleichende Literaturwissenschaft am Mills College in Oakland, Kalifornien, einen Lehrbericht, in dem sie offenlegte, wie schockiert sich ihre Studierenden über die sexuelle Gewalt in Ovids Metamorphosen zeigten – wie aber auch gerade dieser Schockeffekt eine äußerst produktive Diskussion anregte.4

      Auch die klassische Philologin Rosanna Lauriola von der Universität Idaho schilderte bereits 2013 eine fruchtbare Unterrichtseinheit, ebenfalls in Auseinandersetzung mit dem schwierigen Thema Vergewaltigung.5 Sie widmete sich der Geschichte der Lucretia in den Versionen verschiedener antiker Autoren. Diese Geschichte bietet viel Zündstoff für Diskussionen heutiger Studierender: Lucretia wird vergewaltigt und begeht Selbstmord, um ihre Ehre zu bewahren. Im ersten Teil des Kurses las Lauriola die lateinischen Texte mit einer Gruppe Studierender der klassischen Philologie und man recherchierte antike Vorstellungen von sexueller Gewalt im ethischen, sozialen und juristischen Bereich. Den zweiten Teil öffnete Lauriola für Studierende anderer Fachrichtungen zu einer Art Podiumsdiskussion: Die Studierenden der klassischen Philologie berichteten von den gelesenen Texten und den Diskussionen innerhalb ihrer Gruppe; andere Studierende fragten nach und ergänzten. Die Lektüre wurde so zu einer Art Debattierforum: Die antike Erzählung wurde aktualisiert und einem breiten Publikum vermittelt. Zeitgenössische Perspektiven auf das Thema der Vergewaltigung konnten so in eine Diskurstradition eingeordnet werden, die sich bereits in jahrtausendealten Texten findet.

      Positiv ist auch das Fazit von Sara Hale und Arum Park, klassischen Philologinnen an der Universität Arizona.6 Sie haben sich mit dem Raub der Sabinerinnen auseinandergesetzt, der mythischen Erzählung über die ebenso pragmatische wie gewaltvolle Lösung der Ur-Römer für ihr Problem des Frauenmangels.

      In einer allzu distanzierten Haltung gegenüber den antiken Texten sieht Sara Hale zu Recht ein Problem: Beim Umgang mit problematischen Inhalten antiker Texte beruft man sich gern auf seine kulturelle Überlegenheit und ignoriert problematische Faktoren in der heutigen Welt. „Wir gehen davon aus, dass wir ‚besser‘ sind, aufgeklärter als die alten Römer“, so Hale. „Diese Auffassung trübt unser Verständnis dieser Texte. Folglich werden die mythologisierten Akte sexueller Gewalt und der darin enthaltene wahre Kern der Erfahrungen römischer Frauen als unglücklicher Nebeneffekt einer Kultur vermittelt, die Frauen als Besitz ansah. Wir sagen uns, dass Frauen in der Antike sexuelle Gewalt leider regelmäßig erleben mussten und dass das einfach eine Realität ist, die wir anerkennen müssen. […] Aber ich bin es müde, diese Version der Geschichte zu erzählen. Ich bin nicht länger in der Lage, diese Geschichte zu erzählen, mitten in einer kulturellen Abrechnung, die den Vorhang vor unserer kollektiven Schande beiseitezieht, die zeigt, dass wir gar nicht so viel aufgeklärter als die Römer sind, wie wir dachten.“7

      Dass Sara Hale der Position der moralischen Überlegenheit gegenüber ‚der Antike‘ überdrüssig ist, ist nachvollziehbar. In einer Zeit, in der sexuelle Gewalt in unserer eigenen Gesellschaft als mediales Thema derart präsent ist, funktioniert diese Abgrenzung von einer ‚primitiven Vorzeit‘ nicht mehr. Hale entscheidet sich, die Geschichte der Sabinerinnen einmal anders zu lesen und den Fokus auf die Stärke der sabinischen Frauen zu richten, die ihr schreckliches Schicksal schließlich überwinden und Frieden zwischen Römern und Sabinern stiften.

      Als Lehrerin für Latein und Griechisch habe ich jahrelang immer wieder ein spannendes Experiment beobachten dürfen: Was passiert, wenn man zeitgenössische Pubertierende ohne großes Vorwissen an antike Inhalte heranführt? Erst einmal nicht viel; zu beschäftigt sind die Jugendlichen mit dem Entziffern der lateinischen und griechischen Texte. Das macht es übrigens sehr leicht, unbequeme Inhalte einfach zu ignorieren: Sie gehen beim Übersetzen verloren, verschwinden im Nebel des Unverständnisses. Ich selbst habe als Schülerin jahrelang lateinische Texte übersetzt, ohne den leisesten Schimmer von deren Inhalten zu haben, und viele berichten aus ihrem altsprachlichen Unterricht Ähnliches. Ist diese Hürde jedoch einmal überwunden, sei es durch genügend Zeit im Unterricht, sei es durch die Zuhilfenahme von Übersetzungen, zeigt sich bei den Lernenden oft blankes Erstaunen: Steht in diesem Text wirklich das, was ich glaube?

      Die #metoo-Bewegung muss nicht zu Zensur und Prüderie führen. Stattdessen kann sie neue Lesarten ermöglichen, die antiken Texten auf neue und ehrliche Art gerecht werden. Ich habe mich hier auf dieses Abenteuer eingelassen. Ausgewählt habe ich die Texte, die gesellschaftlich am breitesten gewirkt haben und wirken.8 Sicherlich fehlen einige wichtige Beispiele – meine Versäumnisse dürfen gerne als Einladung begriffen werden, Lücken zu füllen und zusätzliche Texte und Phänomene mit einzubeziehen. Bitte verstehen Sie das Buch in diesem Sinne: als Einladung, zeitgenössische Erscheinungen in ihre Traditionen einzuordnen.

      Erzählte Frauen

       Sklavin, Gattin, Göttin

      Im Jahr 2018 trendete auf Twitter die Aufforderung: „Describe yourself like