Katharina Wesselmann

Die abgetrennte Zunge


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Helena als Ehebrecherin nach Troja geht und damit den Krieg auslöst, vollkommen auf den Kopf gestellt: Helena war nie in Troja, sie hat die Ehe nicht gebrochen, sie hat keine Schuld am Krieg. Das plakativste Beispiel für diese Tradition ist die Legende über den frühgriechischen Dichter Stesichoros, der sich gezwungen sah, seine Schmähung der Helena zu widerrufen. Seine eigenen Gedichte, in denen er Helena beleidigt hatte, sind nicht erhalten; wir hören durch andere Texte von ihnen, zum Beispiel durch Platons Phaidros. Darin heißt es, Stesichoros habe Helena mit der Ehebruch-Geschichte beleidigt und sei daraufhin blind geworden. Zum Glück wusste er, was zu tun war – anders als Homer: „Er war nicht unwissend wie Homer, sondern da er musisch war, erkannte er die Ursache, und sofort dichtete er Folgendes: ‚Diese Geschichte ist nicht wahr. / Du bist nicht in gutverdeckten Schiffen weggefahren, / Du bist nicht ins trojanische Pergamon gekommen.‘ Und als er die ganze sogenannte Palinodie gedichtet hatte, konnte er sofort wieder sehen.“20 Stesichoros behauptet also einfach das Gegenteil von seiner ersten Erzählung: In einem Gegengedicht, einer Palinodie, bestreitet er jede Schuld der Helena. Seine Strafe wird dadurch aufgehoben.

      Die Variante, nach der Helena nie in Troja gewesen war, wurde von anderen antiken Dichtern fortgesponnen und ausgeschmückt. Euripides geht in seiner gleichnamigen Tragödie davon aus, dass Helena von den Göttern nach Ägypten gebracht wurde. In Troja wurde nur ein Luftbild umkämpft, ein eídolon. Auch der griechische Geschichtsschreiber Herodot neigt zu dieser Ansicht: Natürlich war Helena in Ägypten. Wäre sie tatsächlich in Troja gewesen, hätten die Stadtbewohner sie doch wohl ausgeliefert.21

      In dem Dichterstreit um die ägyptische oder eben die trojanische Helena kommt der Heldin selbst eine entscheidende Rolle zu. Stesichoros verstand, mit wem er sich angelegt hatte, und schrieb seine Palinodien, in denen er Helena von aller Schuld freisprach. Damit steht er im Gegensatz zu Homer, dem das Augenlicht dauerhaft genommen wurde. Aber selbst bei Homer hat Helena auktoriale Gewalt über ihre Geschichte. In der Ilias heißt es, dass sie „an einem großen Webstuhl doppelt gefalteten Purpur webte; und sie fügte die vielen Kämpfe ein, die der pferdezähmenden Troer und der erzgepanzerten Griechen, die sie ihretwegen erlitten unter den Händen des [Kriegsgottes] Ares“.22 Das Weben ist eine verbreitete Metapher für Dichtung; entsprechend ist an dieser Stelle die Analogisierung des Ilias-Dichters mit der Figur der Helena seit der Antike aufgefallen. Eine alte Anmerkung vermeldet gar, Helenas Tuch sei überhaupt der Ursprung der Geschichte und Homer habe seine Erzählung davon abgeschrieben.23 Diese Behauptung ist wahrscheinlich nicht mehr als ein pointierter literarischer Witz. Klar ist aber, dass Helena in der Webesituation eigenmächtig genau diejenigen Ereignisse darstellt, von denen die Ilias erzählt. Aber ihre Erzählerinnen-Rolle in Homers Epen geht noch weiter: Als Helena im dritten Gesang auf den Zinnen Trojas steht, König Priamos die griechischen Helden zeigt und ihre Geschichten erzählt, wird sie erneut zur Autorin. Ähnliches gilt für den vierten Gesang der Odyssee, in dem Helena dem Telemachos ihre eigene Version der Ereignisse schildert und dabei ein Bild von sich kolportiert, das deutlich positiv von dem ihres Gatten Menelaos abweicht. Helena ist also auch bei Homer häufig Co-Autorin ihrer eigenen Geschichte und greift wie keine andere Figur in ihre Tradition ein. Auch Achilleus arbeitet aktiv und bewusst an seinem kléos mit, seinem Nachruhm, und ebenso erfindet Odysseus sich in immer neuen, lügnerischen Autobiografien ständig selbst neu. Aber Helena blendet den Dichter, der sie schmäht, und stickt die Geschichte, die Homer als Vorbild dient – sie überschreitet also klar die Fiktionsgrenze von der Erzählung zur Erzählenden.

      Dass Helena zu dieser Grenzüberschreitung fähig ist, ist in der klassisch-philologischen Forschung vielfach festgestellt worden. Vielleicht erklärt sich Helenas literarische Schwellenexistenz durch ihren religiösen Status. Helena ist keine rein literarische Figur, sondern eine kultisch verehrte Heroin mit Heiligtümern in Sparta und an anderen Orten; folglich ist ihre Stellung gegenüber den Texten nicht mit derjenigen einer modernen Romanprotagonistin zu vergleichen, sondern eher mit Situationen göttlicher Aufträge, man denke etwa an die Aufforderung der Jungfrau Maria an den Evangelisten Lukas, sie zu porträtieren, oder an die Offenbarung des Johannes, der von Gott persönlich zur Berichterstattung aufgefordert wird.

      Die Vergleiche erscheinen vielleicht etwas gesucht, sind aber nicht abwegig innerhalb des antiken Literaturkosmos, wo Kunstproduktion immer von der Gunst inspirierender Gottheiten abhängt. Gerade die Verbindung der Helena zu den Musen ist immer wieder konstatiert worden; gemeinsam ist den Zeus-Töchtern ihr überlegenes Wissen und die Verantwortung für kléos, „Nachruhm“.24

      Auch sonst zeigt der Helena-Kult Hinweise auf eine ungewöhnliche Flexibilität der Figur: Sie zeichnet sich durch die Gleichzeitigkeit verschiedener, sich eigentlich gegenseitig ausschließender Identitäten aus. Von Anfang an ist Helena eine Wanderin zwischen Welten, ein Doppelwesen: Sie hat zwei Identitäten, eine rein göttliche als Tochter von Zeus und Nemesis, eine halb menschliche, wenn ihre Mutter die sterbliche Leda ist. Die Heroin Helena hat verschiedene kultische Funktionen, vor allem aber scheint sie in Sparta als Patronin der Initiation junger Mädchen angesehen worden zu sein: In verschiedenen Texten wird Helena dargestellt, wie sie Chöre junger Spartanerinnen anführt.25 Eine antike Anekdote berichtet auch, wie ein hässliches kleines Mädchen durch einen Besuch in Helenas spartanischem Heiligtum von seiner Unansehnlichkeit geheilt wird und zur schönsten Frau in Sparta heranwächst: Helena hat ihr zu dieser Verwandlung verholfen.26 Die Heroin ist zuständig für den Übergang; sie ist immer gleichzeitig Mädchen und Frau, sie steht Aphrodite nahe, wird aber von Homer auch mit der jungfräulichen Artemis verglichen. Helena ist zutiefst ambivalent; sie lässt sich nicht festnageln, sondern entwickelt Handlungsmacht.

      Die Macht der Erzählung

      Alle erzählten Figuren sind Projektionen der Erzählenden. Dadurch, dass die Narrative jahrtausendelang überwiegend von männlichen Autoren geprägt waren, haben sich gewisse Traditionalitäten ergeben, die derzeit neu verhandelt werden. Aktuelle Diskussionen fordern mehr Diversität, mehr Zentralität auch für nicht-männliche Figuren. Häufig zitiert wird in diesen Kontexten der sogenannte Bechdel-Test, eine Reihe von Fragen, die die Autorin Alison Bechdel bereits 1985 an Erzählungen stellte: Gibt es darin mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen die Frauen miteinander? Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann? – Es ist nach wie vor beeindruckend, dass diese Fragen in den meisten traditionellen Produkten mit Nein beantwortet werden, während die Antwort, fragt man umgekehrt nach Männern, fast immer Ja lautet.

      Die antiken Texte leisten zu dieser Debatte einen wichtigen Beitrag – eben dadurch, dass die Figuren häufig kollektiv von verschiedenen Stimmen geschaffen sind, in Erzählungen, die sich bis heute fortsetzen. Dadurch entstehen konträre Narrative, und dadurch zeigen sich erstaunliche Wandlungen im Blick auf weibliche Figuren.

      Im Fall der Briseis sehen wir bei Homer und Ovid einen vergleichsweise ehrlichen Blick auf das elende Schicksal einer Kriegsgefangenen, die in einem modernen Narrativ nicht mehr existieren kann, ohne gleichzeitig den Fokus auf den Haupthelden Achilleus zu verändern. Netflix opfert lieber das Leid der Briseis, als auf Achilleus zu verzichten – andererseits wird Briseis nun zu einer selbstbestimmten Handelnden und bleibt nicht mehr nur bemitleidenswertes Opfer.

      Bei Penelope sehen wir, wie sich die homerische Sicht auf die ‚Gattin des Odysseus‘ dauerhaft durchgesetzt und andere Perspektiven überlagert hat, die uns nur aus Fetzen der Überlieferung antiker Gelehrter bekannt sind. Es brauchte Margaret Atwood und vermutlich ein mythologisches Lexikon, um eine andere Geschichte der Penelope zu erzählen. Helena schließlich gelingt es, die männlich dominierten Narrative zu torpedieren. Sie nimmt vor allem bei den griechischen Autoren eine Sonderstellung ein, die ihrer kultischen persona entspricht: Kein Mann erzählt Helena, Helena erzählt sich selbst.

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