A. F. Morland

Extra Krimi Paket Sommer 2021


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jenen speziellen Humor, den nur Arzte im langjährigen Dienst bei der Polizei erwarben, und auch Rogge hatte sich ein Grienen abgezwungen. »Gute Handwerker hier, Jens, die Schulter wird nicht steif bleiben, aber deine Karriere als Gewichtheber ist hiermit beendet.«

      »Ich hatte schon auf Marathonlauf umgestellt. Was ist mit dem Jungen?«

      »Vor zwei Tagen Exitus.« Sein Mitleid sparte sich Leinbusch für die unschuldigen Opfer auf. Eine Rumänenbande, fünf Männer, wenn man Jugendliche zwischen sechzehn und zweiundzwanzig überhaupt schon so bezeichnen durfte. Der Bruch in das Warenlager war hervorragend ausbaldowert, aber der Zufall machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Der Nachtwächter hatte einen Freund mit gebracht und deswegen missglückte der Überfall. Wächter und Freund konnten noch schießen, ein Einbrecher wurde tödlich getroffen, einer schwer verletzt, die drei anderen Täter verschanzten sich in den Büros. Rogge wollte weiteres Blutvergießen vermeiden. Der MEK-Einsatzleiter hatte ihn gewarnt: »Die sind schon tot, entweder legen wir sie hier um oder die Auftraggeber zu Hause, weil sie den Bruch verpatzt haben. In diesem Geschäft duldet man keine Zeugen.«

      »Ich versuche trotzdem.«

      »Mensch, Herr Rogge, die haben nichts mehr zu verlieren, die haben mit dem Leben abgeschlossen, was immer Sie denen versprechen.«

      »Sorgen Sie bitte dafür, dass endlich der Dolmetscher kommt.«

      Der Bullige hatte Recht behalten. Nach sechs Stunden waren zwei endlich mit erhobenen Händen herausgekommen, als plötzlich der dritte, jüngste an ihnen vorbeistürmte, direkt auf Rogge zu, die Pistole im Anschlag, das Gesicht zu einer Fratze aus Hass, Wut und Todesangst verzerrt, den Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen. Zweimal konnte er noch schießen, bevor er unter dem Feuer der MEK-Leute zusammenbrach, und seine zweite Kugel durchschlug Rogges linke Schulter.

      Verheilt war die Wunde wohl, aber manchmal zuckte ein stechender Schmerz durch seinen Arm und die linke Seite, der ihm die Tränen in die Augen trieb, und dahinter tauchte das Gesicht des Schützen auf, verzweifelt, hilflos, hoffnungslos, wie eine überscharfe Momentaufnahme. Auf Killen dressiert, hatten die Zeitungen geschrieben, vielleicht stimmte es sogar, aber den Dresseur hatten sie nicht ermittelt. Die beiden Überlebenden schwiegen immer noch eisern; sie hatten nicht einmal ihre Namen preisgegeben. Sickert, der im Landeskriminalamt die Einsätze gegen die Balkanbanden organisierte, hatte Rogge im Krankenhaus besucht: »Die werden auch keinen Ton sagen, Herr Rogge, Lieber lebenslänglich in einem deutschen Knast als nach Rumänien abgeschoben zu werden,«

      »Womit müssten sie dort rechnen?«

      »Wenn sie bis dahin keine Silbe aus geplaudert haben — eine schnelle Kugel. Wenn sie auch nur einen Namen genannt haben - tja ...« Er hob beide Hände. »Es gibt sehr unangenehme Methoden, diese Erde zu verlassen. Und an die Familienmitglieder möchte ich gar nicht denken.«

      »Vermuten Sie das oder wissen Sie das?«

      Sickert hatte unbehaglich gelächelt: »Ich weiß es, Herr Rogge. Aber ich werde Ihnen nicht verraten, woher.« Nach einer Pause hatte er widerwillig hinzugefügt: »Um Ihr Wohlwollen restlos zu verscherzen, will ich Ihnen gestehen, dass ich über Ihre Verletzung nicht unglücklich bin. Die MEK-Kollegen haben in Nothilfe geballert, das akzeptiert die Öffentlichkeit. Andernfalls würde es heißen, wir duldeten schießwütige Killer in unseren Reihen und so gefährlich und so brutal seien diese Banden doch gar nicht, das sei nur die Propaganda rechter Hardliner in der Polizei.«

      »Und in der Politik«, hatte Rogge spöttisch ergänzt. »Ihre Fähigkeit, Trost zu spenden, überwältigt mich.«

      »Dann hat sich mein Besuch ja gelohnt«, gab Sickert gemütlich zurück. »Übrigens schöne Grüße und gute Besserung auch von Peter Reineke.«

      Nachdem Jödel geschildert hatte, wo und wie er die Frau aufgelesen hatte, informierte die Autobahnpolizei sofort die Kollegen in der Stadt. So heiße Kartoffeln schob man am besten gleich einen Teller weiter, zollte Rogge in Gedanken Beifall. Immerhin war die Routine angelaufen und - was immer man Grem vorwerfen konnte - er hatte nichts übersehen und nichts versäumt. Beim ersten Tageslicht hatten zwei Züge Bereitschaftspolizei das Gelände rings um den Parkplatz Feltenwiese abgesucht. Ohne Ergebnis, keine Spur von der fehlenden Oberbekleidung und den Schuhen der Frau. Und leider auch keine Spur von einer Handtasche mit Ausweispapieren.

      Auch die ärztliche Untersuchung hatte ihnen nicht weitergeholfen. Die Frau war nicht vergewaltigt worden, es gab keine Anzeichen eines Notzucht-Versuchs, überhaupt keine Wunde oder Verletzung, die ihre Amnesie erklären konnte, nicht einmal Hämatome, die auf eine körperliche Auseinandersetzung hindeuten würden. Unter ihren Fingernägeln keine Hautpartikel, wie sie bei Abwehrreaktionen typisch waren. Eine Blutuntersuchung ergab eine Alkoholkonzentration von 0,6 Promille für den Zeitpunkt 1.00 Uhr am 16. September, aber sie konnte nicht sagen, wann und wo sie zuletzt etwas getrunken hatte. Auch nicht, ob und wann sie die Beruhigungspillen geschluckt hatte; die ermittelte Diazepam-Konzentration legte die Vermutung nahe, dass sie etwa 0,75 Milligramm sechs Stunden vor der Blutprobe eingenommen hatte. Ob und wie weit die Kombination von Alkohol und Valium die Amnesie ausgelöst haben konnte, blieb reine Spekulation, solange nichts über die Mengen und Umstände zu erfahren war. Ansonsten war die Frau organisch völlig gesund, Seh- und Hörstärke normal, ihre Zähne in einem beneidenswert guten Zustand.

      Fingerabdrücke - nirgendwo registriert.

      Der Abgleich der Vermisstenanzeigen mit den Merkmalen der Unbekannten füllte eine eigene Nebenakte. In zwei Fällen hatte Grem eine Gegenüberstellung arrangiert, beide Male negativ. Niemand schien die Frau zu vermissen.

      Die zweite Nebenakte überflog Rogge nur. Wenn man alle gelehrten Spekulationen und unverständlichen Fachausdrücke wegließ, musste auch die Weißkittelriege bestätigen, was die Unbekannte plastisch so formuliert hatte: »Ich bin aufgewacht und saß neben einem netten Mann im Auto. Was früher war, ist ein graues Loch voller Nebel.« Grems Vermutung, sie sei eine hervorragende Simulantin, wollte kein Psychiater unterstützen, im Gegenteil, alle unterstrichen, dass sie ernsthaft mitarbeitete, um ihre wahre Identität herauszufinden. Doch selbst Hypnose führte keinen Schritt weiter und irgendwann im März musste Inge Weber, wie sie in den amtlichen Unterlagen jetzt genannt wurde - jeder Mensch brauchte einen Namen -, eine Krise durchlebt haben. An der Fixierung auf die vergeblichen Bemühungen, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren, drohte sie zu verzweifeln. Scheinbar aus heiterem Himmel erklärte sie dem Psychologen, der Mensch sei nicht dazu geschaffen, immer den Kopf nach hinten zu drehen, sie wolle jetzt nach vorne schauen, irgendwas unternehmen, tun, arbeiten.

      Als Grem davon erfuhr, blühte er auf: Das war’s, sie hatte Angst, man werde ihr auf die Schliche kommen; jetzt noch einmal kräftig durch den Fleischwolf gedreht und er konnte diesen verdammten Fall abschließen. Die Sachverständigen waren anderer Meinung oder, wie Rogge stirnrunzelnd las, verschiedener Meinungen mit annähernd demselben Ergebnis.

      Ihren Versuch, die Identitätskrise aus eigener Kraft zu meistern, konnten sie nicht missbilligen, allerdings auch nicht uneingeschränkt gutheißen. Wie auch immer, seit April ging sie nur noch unregelmäßig zu einem Psychologen, der sich Grems pausenlose Anrufe zum Schluss verbeten hatte: Nein, sie simuliere nicht, das graue Loch existiere immer noch und der Herr Kriminalhauptkommissar möge sich gefälligst gedulden und sich in Zukunft aller beleidigenden Äußerungen enthalten.

      Diese Abfuhr - Durchschlag: an den Polizeipräsidenten - hatte Grem keine Ruhe gelassen und deswegen enthielt die dünne Beiakte Sprengstoff: Grem hatte Inge Weber überwachen lassen. Ohne den Betreuer zu informieren, den das Vormundschaftsgericht bestellt hatte, und gegen die Anweisung Simons. Doch die Mühe hatte nicht gelohnt. Inge Weber war in eine kleine Wohnung in einem scheußlichen Hochhaus eingezogen, in der Wilhelmstraße, und arbeitete als Halbtagsverkäuferin in der Bäckerei und Konditorei Krone, Semperstraße 144. Diesen Job hatte ihr der Betreuer besorgt. Inge Weber lief sehr viel zu Fuß, schien sich ausgesprochen gern zu bewegen, besuchte Symphoniekonzerte und Museen. Die Nachbarn und Kolleginnen schilderten sie als offen, energisch, humorvoll und zuverlässig; aus ihrer ungewöhnlichen Lage machte sie kein Geheimnis: »Guten Tag, ich werde Inge Weber genannt, meinen wahren Namen weiß ich nicht, weil ich mein Gedächtnis verloren