Rudi Kost

Dillinger tritt ab


Скачать книгу

geht auch ohne. Kurze Zeit wenigstens. Dann geht das Geschrei los. Also, was ist?«

      »Dein jüngstes Kind?«, fragte ich.

      »Lina. Meine erste Enkelin. Heute ist Oma-Tag.«

      Ich war irritiert. In ihrem Alter bekamen die Frauen heutzutage ihr erstes Kind, wenn sie nicht ohnehin bis 67 warteten. Aber schon Oma? Dann wäre ich ja auch schon Opa, wenn …

      »Du denkst also, es war kein Unfall«, nahm ich den Faden wieder auf, bevor die Zwergin auf die Idee kam, tief Luft zu holen.

      »Ich weiß es nicht, aber es wäre möglich.«

      »Hast du einen Verdacht?«

      »Nein.«

      Hatte sie doch, so schnell, wie dieses »Nein« kam. Allmählich fing diese Geschichte an, mich zu interessieren.

      »Es muss doch einen Grund geben, warum du mich mit Nachforschungen beauftragen willst.«

      »Ich möchte einfach Gewissheit haben, nichts weiter. Es ist so ein Bauchgefühl.«

      Bauchgefühl! Damit hatte ich meine Erfahrungen. Und nicht die besten.

      »Wir sollten das in Ruhe bereden«, sagte sie. »Morgen. Bei einem Abendessen. Bei mir. Ich bin eine gute Köchin, sagt man. Und der Wein ist auch exzellent. Ich muss jetzt gehen, gleich geht es los, die Kleine hat Hunger.«

      Wie aufs Stichwort legte die Enkelin los, und Elisabeth verabschiedete sich schnell, ohne meine Antwort abzuwarten.

      Nachdenklich sah ich den beiden nach.

      Überrumpelt!

      Nachdem ich meinen, sagen wir, kleinen Unfall halbwegs überstanden hatte, kam ich in der langen Zeit des Nachdenkens zu dem Schluss, dass ich mein Leben ändern musste. Radikal ändern.

      Ich hatte mir vor allem zwei Dinge hoch und heilig geschworen. Das Wichtigste: Du ignorierst jedwede Leiche, die an dir vorüberhuscht.

      Wenn ich mich ernst nahm, hatte Elisabeth also schon mal schlechte Karten.

      Und zweitens, du ignorierst jedwede rätselhafte Frau, die vor dir mit dem Hintern wackelt.

      Und rätselhaft war Elisabeth auf alle Fälle. Hinter der Geschichte steckte mehr, als sie mir weismachen wollte. Sie hatte sich über mich erkundigt, bevor sie zu mir kam. Sie wusste über meine Vorlieben Bescheid, und dazu gehörten nach wie vor schönes Essen und guter Wein. Sie nahm ein völlig unbedeutendes Techtelmechtel aus der Vergangenheit als Aufhänger, um nostalgische Gefühle in mir zu wecken und mich zu überzeugen.

      Aber sie hatte nicht mit dem Hintern gewackelt.

      Und die Leiche hatte auch nicht, wie sonst immer, in natura vor mir gelegen, sie war schon Futter für die Würmer.

      Also war diesmal alles anders. Das war beruhigend. Oder?

      Aber sie hatte den Mantel schon abgelegt, bevor sie mein Büro betrat, und das dürfte einiger akrobatischer Verrenkungen bedurft haben, wenn man gleichzeitig ein Kleinkind auf dem Arm hatte. Und sie es trotzdem bewerkstelligt, damit ich unter einem kurzen Rock ein Paar wohlgeformte Beine betrachten konnte, die durch schwindelerregende High Heels ihren zauberhaften Schwung bekamen.

      Mal abgesehen davon, dass Stöckelschuhe auf dem alten Kopfsteinpflaster von Schwäbisch Hall sowieso eine besondere Herausforderung sind – welcher halbwegs vernunftbegabte Mensch geht mit solchen Dingern bei diesem Schmuddelwetter auf die Straße? Die Erklärung, dass bei Frauen und Schuhen jede Vernunft aussetzt, war mir jetzt doch zu billig.

      *

      Nachdem im Zimmer nebenan niemand war, der streng über mein Wohl und Wehe wachte (ein Lob den kleinen Auszeiten), gab ich mir für ein paar Stunden frei. Wenn die Hoffnung auch sehr gering war, dass sich während meiner Abwesenheit die Heinzelmännchen über den Papierstapel auf meinem Schreibtisch hermachen und ihn säuberlich abarbeiten würden, so setzte er doch weder Staub noch Schimmel an und würde geduldig der Dinge harren, die ich nach meiner Rückkehr mit ihm anstellen würde. Kein Grund also, im Büro zu versauern.

      Natürlich gab ich mir nicht wirklich frei. Ich gab meiner Lebenszeit nur einen anderen Inhalt.

      Während meiner langen Rekonvaleszenz hatte ich gelernt, den Analysen, Befürchtungen und Ratschlägen der Ärzte zutiefst zu misstrauen. In einigen Punkten freilich musste ich ihnen recht geben.

      Zuallererst gelte es, auf ein gesundes Leben zu achten: keine Zigaretten (ich rauchte nicht), kein Alkohol (trank ich nicht, nur Wein, und der zählt bekanntermaßen zu den Grundnahrungsmitteln), bekömmliches Essen (sowieso, was denn sonst).

      Soweit waren wir uns also einig. Und außerdem sollte ich auf ausreichend Bewegung achten.

      Aha.

      Dieser Ratschlag, ach was, dieser Befehl der Autoritäten in Weiß war gar nicht mal so schlecht, wie ich feststellen musste. Eine Sache war es, von Termin zu Termin zu hetzen, von einem Kunden zum nächsten, immer die nächsten Verträge, die nächsten Beschwichtigungen, die nächsten Ausreden im Kopf. Doch wenn man einfach ohne Ziel durch die Stadt flaniert, sich treiben, sich überraschen lässt, wohin die Füße einen tragen – das war etwas anderes.

      Und wenn man einmal mit dem Großen Gleichmacher siegreich die Klingen gekreuzt hat, dann hat das Leben sowieso eine andere Dimension bekommen. Man sieht nicht nur dieses Leben ganz anders, sondern auch die Stadt, die zur Heimat geworden ist und in der man jeden Stein zu kennen glaubte.

      Das waren Binsenweisheiten, zugegeben. Aber man ist nie zu alt, um auch Binsenweisheiten für sich zu entdecken.

      Wohin diesmal? Egal, einfach aus dem Haus hinaus und die Gelbinger Gasse vor Richtung Friedhofsdreieck. Wohin die Füße tragen.

      Sie trugen mich am Friedhof vorbei hinein in die Wettbachklinge.

      Diese Klingen sind typisch für unsere Region, und sie haben ihren Ursprung in der letzten Eiszeit. Damals nämlich, so hatte man es uns in der Schule beigebracht, war Hohenlohe nicht von den Eismassen bedeckt und deshalb nicht eingeebnet worden. Deshalb konnten sich die Bäche, die im Normalzustand nur harmlose Rinnsale waren, bei Dauerregen aber zu reißenden Fluten anschwollen, tief in die Muschelkalkfelsen graben und die schroffen, tiefen Klingen erschaffen. Legendär war die Schmerachklinge bei Oberscheffach, Herrin der Klingen genannt, in der man sich schon auch mal nasse Füße holen konnte.

      Nun aber die Wettbachklinge in Schwäbisch Hall.

      Zunächst ging es unter einem alten Aquädukt hindurch, dann keuchte ich auf dem asphaltierten Weg den Berg hinauf. Meine Kondition besserte sich allmählich, wenn sie auch noch nicht optimal war.

      Aber nicht deshalb blieb ich des Öfteren stehen, sondern natürlich nur, um die feuchte Luft tief einzuatmen und die wilde Romantik der Bäume und der moosbewachsenen alten Mauern auf mich wirken zu lassen. Waldbaden nannte man das heute, und das war ja so gesund.

      Der Wettbach gurgelte trotz des vielen Regens der letzten Zeit gemächlich vor sich hin, hüpfte über Steine und sprang kühn über Felsplatten einen halben Meter bergab. Umgestürzte Bäume lagen über dem Flussbett, manche schon seit langer Zeit und moosbewachsen, andere neueren Datums. Von den Haller Klingen war die des Wettbachs eine der zivilisierteren.

      Wann war ich zum letzten Mal hier gewesen? Wahrscheinlich bei einem Schulausflug, eine Ewigkeit her also.

      Und dann fiel mir ein, dass ich mir von den vielen Klingen, die es hier in der Umgebung gab, als Nächstes die Badersklinge vornehmen könnte. Die, so ein Zufall aber auch, hinauf zur Ruine Limpurg führte.

      Es war wohl unvermeidlich, dass mir immer wieder Elisabeth in den Sinn kam. Lizzy.

      An unser kurzes Techtelmechtel seinerzeit hatte ich nur noch verschwommene Erinnerungen. Es hatte nichts zu bedeuten gehabt, es war nur eine kurzzeitige Aufwallung von Hormonen gewesen. Lange her. Und das sah sie wohl genauso. Oder doch nicht? Kenn sich einer aus mit den Frauen! Man konnte es nur falsch machen. Insofern war es egal, was man tat.

      Sonja