ja noch nicht wirklich hoch. Ich hatte nichts gegen schöne Aussichten, wenn ich auf festem Boden stand statt auf einem wackligen Baugerüst, das, wie ich mir einbildete, jeden Moment zusammenbrechen konnte. Ich hatte es lieber, wenn ich von einer Glasfront umgeben war und vor mir ein wohlgefüllter Teller duftete wie seinerzeit im Eiffelturmrestaurant.
Stefan Kubitz hatte mein Unbehagen bemerkt.
»Höhenangst?«, fragte er.
Ich nickte und sagte: »Wie ihr das aushaltet jeden Tag!«
»Schwindelfrei solltest du schon sein in diesem Job. Und der Rest ist Routine. Wenn du tagaus, tagein hier herumkletterst und arbeitest, machst du dir keine Gedanken mehr. Du fühlst dich auf sicherem Boden.«
»Umso unbegreiflicher ist für mich, dass jemand mit dieser Routine doch abstürzen kann.«
Er lehnte sich lässig an das Geländer, an dem ich mich so krampfhaft festhielt, dass meine Fingerknöchel weiß wurden, und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Vielleicht gerade deswegen«, sagte er. »Was ich unseren Stiften immer predige: Auch wenn das für dich normal ist, auch wenn du dich so sicher fühlst wie in Abrahams Schoß, sei trotzdem vorsichtig. Übervorsichtig. Warum sägt sich ein Schreiner die Finger ab? Warum zerquetscht sich ein Schlosser die Hand? Warum stürzt ein Dachdecker vom Dach oder ein gelernter Maurer vom Gerüst? Einen Moment unachtsam, und das war’s dann. Die ganzen Sicherheitsmaßnahmen sind gut und schön, aber wenn du eine Sekunde mit den Gedanken woanders bist, dann hast du vielleicht ein Problem.«
»Hatte es an jenem Tag auch geregnet?«, fragte ich.
»Wann hat es mal nicht geregnet in letzter Zeit?«, gab er zurück. »Klar, da kann es schon mal etwas rutschig sein, aber das weiß man und passt auf. Normalerweise.«
Meine Anspannung hatte sich etwas gelöst, und ich wagte einen Blick nach unten.
Drei Geschosse waren definitiv hoch genug, um sich den Hals zu brechen.
»Wie genau ist es passiert?«, fragte ich.
Wie er so dastand mit seinen verschränkten Armen, konnte man den Eindruck gewinnen, er finde es ganz gemütlich hier oben. War wohl auch so. Er war es eben gewohnt. Ich hingegen achtete darauf, mich immer irgendwo festhalten zu können, am Geländer, an einem Stellrahmen.
»Es war ein Tag ähnlich wie heute«, rekapitulierte Stefan Kubitz. »Regnerisch, kalt, etwas windig. Unschön, aber es geht, wenn man sich entsprechend anzieht.«
»Ich habe gedacht, im Winter ist sowieso Pause auf den Baustellen.«
»Nur, wenn es gar nicht anders geht. Bei Schnee oder heftigen Minusgraden. Ansonsten wirkt geackert, bei jedem Wetter. Wir rennen sowieso unseren Zeitplänen hinterher.«
»Zu viel vorgenommen?«
»Zu wenig qualifizierte Arbeiter. Find mal heute einen Arbeiter, der sein Geschäft versteht, und der weiß dann genau, was er verlangen kann. Da musst du notgedrungen auf Leute aus dem Ausland zurückgreifen. Die sind zwar billig, dafür können sie aber nichts. Denen musst du noch beim Pinkeln die Hand führen. Ich habe dem Chef oft gesagt, dass wir so nicht weitermachen können, aber was hilft’s, wenn die Termine purzeln.«
War das der Grund für die Beschwerden der Kunden, von denen Helmar Haag gehört hatte? Doch die Qualitätssicherung des Hohenloher Baugewerbes war nicht mein Thema, es sei denn, ein unzufriedener Bauherr hatte den Chef vom Gerüst gestoßen. Ein reichlich absurder Gedanke.
»Wir waren bei dem Unfall«, versuchte ich, Stefan Kubitz wieder in die Spur zu bringen.
»Es muss so um 17 Uhr gewesen sein, ganz genau weiß ich es nicht, aber es fing schon an, dunkel zu werden. Die Kollegen hatten bereits Schluss gemacht, ich war noch auf der Baustelle, ich hatte im Bauwagen zu tun, da kam der Chef angebraust. Er hatte eine scheiß Laune, weil wieder irgendwas nicht gestimmt hat. Ich kam gar nicht dazu, ihn genauer zu fragen, er ist nach hinten gestürmt, also wo wir jetzt sind, und über den Rest kann ich nur spekulieren, ich war ja nicht dabei. Er muss genauso das Gerüst hochgestürmt sein, ich habe es klappern hören …«
»Im fast Dunkeln?«
»Es gibt Taschenlampen. Tja, und dann habe ich einen Schrei gehört und einen dumpfen Aufschlag. Ich natürlich nach hinten, und da lag er. Ich habe gleich gesehen, dass da nichts mehr zu retten war. Weißt du, wenn einer abstürzt und sich die Knochen bricht, dann liegt er so seltsam verrenkt da.«
Ich nickte. Ich wusste das. Ich dachte an den Bauern Huber aus Hohenberg, den ich genauso in seiner Scheune gefunden hatte.
»Was könnte passiert sein?«, fragte ich.
»Darüber zerbreche ich mir seitdem den Kopf, das kannst du mir glauben. Wenn man einen solchen Zorn hat wie er, dann wird man unvorsichtig. Er muss ausgerutscht sein und aus die Maus, anders kann ich mir’s nicht erklären.«
»Und außer dir war niemand sonst auf der Baustelle?«
»Niemand.«
Er sah mich plötzlich mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck an und lachte.
»Ich verstehe, der Detektiv bei der Arbeit! Korrektur: Ich habe niemanden gesehen oder gehört. Aber wer sollte sich hier herumtreiben, vor allem, wenn es fast schon dunkel ist?«
»Vielleicht jemand, der sauer auf ihn war? Gab’s da jemanden?«
»Jede Menge! Der Chef war ziemlich aufbrausend und hat kein Blatt vor den Mund genommen, wenn er wütend war. Das hat nicht jeder vertragen. Erst kürzlich hat er einen unserer Leute so zur Schnecke gemacht, weil der was verbockt hatte, Mann oh Mann, da blieb kein Auge trocken. Der hat zwar bestimmt nichts verstanden, der kommt aus Rumänien, aber wenn der Chef so richtig stinksauer war, dann hast du das auch ohne Worte kapiert. Aber dass der deswegen … Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ein wütender Kunde?«
»Der geht zum Rechtsanwalt und klettert nicht auf ein Gerüst und wartet, bis der Chef vielleicht irgendwann mal auftaucht.«
Plötzlich fiel mir etwas auf. Ich hielt mich nicht mehr krampfhaft irgendwo fest. Ich stand fast so lässig auf dem Gerüst wie der Polier. Ich konnte nach unten schauen, ohne dass die Gedärme grummelten. Halleluja! Wohin immer mich diese Geschichte führen sollte, wenn ich damit meine Höhenangst überwinden konnte, hatte es sich schon gelohnt.
Jetzt war ich auch in der Lage, mir das Gerüst, auf dem ich freihändig und unverkrampft stand, näher anzuschauen.
Es wäre schon möglich. Wenn man sich weit über das Geländer beugte, konnte man das Übergewicht kriegen. Ein plötzlicher Schwindelanfall vielleicht, Herzanfall, etwas in der Art.
Konnte man auch ausrutschen und unter dem Geländer hindurch in den Abgrund fallen? Schwer vorstellbar. Seitlich am Gerüstboden war ein schmales Brett befestigt, das bestimmt einen Fachbegriff hatte und das wohl verhindern sollte, dass sich ein Eimer Mörtel selbstständig machte. Um dieses Brett, jetzt mal sportlich gesprochen, zu überwinden, bräuchte man einen gehörigen Schwung. Wenn es nicht vorher jemand abmontiert hatte.
Genauso gut konnte man jemanden über das Geländer in die Tiefe befördern. Wenn sich das Opfer wehrte, müsste es ein Gerangel geben, und das müsste man hören. Wenn man das Überraschungsmoment nutzte, könnte es auch ohne allzu großen Lärm gehen.
Alles war denkbar.
»Sag mal«, wandte ich mich an den Polier, »hast du irgendwas gehört, als der Chef auf dem Gerüst war?«
»Klar. Den Chef halt. Wenn du wie ein wütender Stier hier entlang stapfst, dann scheppert das ganz schön.«
Schepperte es so laut, dass dies einen möglichen anderen übertönte? Einen Kampf? Kubitz hatte sich auf der anderen Seite des Hauses befunden, vielleicht konnte er gar nicht so genau hören, was sich hier oben abgespielte. Konnte nicht unterscheiden, wie viele Personen möglicherweise auf dem Gerüst waren.
Interessant.
»Wie