Rudi Kost

Dillinger tritt ab


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      Viel Zauber war nicht. Die Buden sahen trostlos aus im strömenden Regen, die Verkäufer standen sich die Beine in den Bauch und beobachteten hoffnungsvoll die wenigen Glühweintrinker, die sich um diese Tageszeit und bei diesem Wetter hierher verirrt hatten.

      Mistwetter! Da sah man wieder mal überdeutlich den Klimawandel. Hatte es ja früher nie gegeben, Regen im Dezember.

      Meine täglichen Spaziergänge, dieses Flanieren, das absichtslos gedacht war, hatten konkrete Ziele bekommen. Nein, so konnte man das nicht sagen. Sie führten nur ganz zufällig an Orte, die auf verquere Weise mit etwas zu tun hatten, von dem ich noch entscheiden musste, ob es mich interessieren sollte.

      Mir selber in die Tasche lügen, das konnte ich perfekt. Immerhin war ich schon so weit gekommen, dass ich mir das eingestehen konnte. Natürlich hatte mich längst die Neugierde gepackt, nur war ich mir über die Motive für meinen Wissensdurst noch nicht im Klaren. Kleine Denksportaufgabe, hatte Helmar Haag gesagt? Warum nicht.

      Ich schritt munter aus, so munter, dass ich den Regen hinter mir ließ, bis ich vor der Baustelle in Hessental stand.

      Der Rohbau schloss eine Baulücke und sollte mal ein dreigeschossiges Haus mit sechs Eigentumswohnungen werden, von denen drei schon verkauft waren, wie ich einem Poster am Gerüst entnahm.

      Sollte ich mit dem Gedanken spielen, mir tatsächlich eine der Wohnungen zuzulegen, dann sollte ich mich sputen, wenn ich dem Poster glauben durfte. Sonst schnappte mir ein anderer Interessent das Objekt vor der Nase weg.

      Gut, dass ich derlei Probleme nicht hatte. Ich war mit meinem alten Haus in der Gelbinger Gasse mitsamt seinen Macken, die so schön zu seinem Bewohner passten, vollauf zufrieden und wollte es um nichts in der Welt gegen einen Neubau tauschen.

      Das Haus stand im Rohbau, und auf dem Gerüst war ein Arbeiter damit beschäftigt – nun ja, mit was auch immer.

      Ich betrat die Baustelle, ging auf das Haus zu, und sogleich kam ein Mann auf mich zugeschossen. Ich schätzte ihn auf Ende 50, er war von gedrungener Gestalt und hatte kurzes graues Haar. Einer der Bauarbeiter, wie an seiner Kleidung unschwer zu erkennen war.

      »Was wollen Sie hier?«, herrschte er mich an. »Können Sie nicht lesen? Unbefugte haben keinen Zutritt.«

      »Ich bin befugt. Mich treibt die Neugier.«

      »Wenn Sie sich für eine der Wohnungen interessieren, müssen Sie einen Termin ausmachen, dann wird eine Führung organisiert. Allein dürfen Sie nicht auf die Baustelle. Da könnte ja jeder kommen.«

      Ich ignorierte ihn und sagte: »Hier ist doch dieser tödliche Unfall passiert? Stand in der Zeitung.«

      »In der Zeitung stand aber nicht, wo das passiert ist«, knurrte er.

      Ich lächelte ihn freundlich an. »Man hat eben seine Quellen. Sie wissen doch, wie das so ist in einer kleinen Stadt. Einer weiß etwas, das nicht in der Zeitung steht, und bald wissen es alle.«

      »Oder einer glaubt, etwas zu wissen.« Sein Gesicht wurde nicht freundlicher.

      Ich zuckte mit den Schultern. »So läuft’s halt. Gerüchte setzen ihre eigene Wahrheit.«

      »Hä? Kapier ich nicht, aber egal. Verschwinden Sie, sonst packen Sie meine Kollegen am Schlafittchen. Und glauben Sie mir, mit ein paar kräftigen Bauarbeitern möchten Sie sich nicht anlegen.«

      Er sah mir böse in die Augen, und plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck.

      »Moment mal«, sagte er, »ich kenne Sie doch.«

      Tja, das ist der Nachteil einer kleinen Stadt, wenn man einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat. Undercover geht da gar nichts.

      »Haben Sie nicht damals beim Siedersfest für ziemlichen Wirbel gesorgt?«, fuhr er fort. »Ich bin nämlich auch Sieder.«

      »In aller Bescheidenheit, ich habe den Wirbel aufgeklärt.«

      »Sind Sie nicht tot? So was Ähnliches habe ich doch gehört.«

      »Da sehen Sie mal, man soll nicht alles glauben, was man so hört. Tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss. Hat diesmal nicht ganz geklappt. Das nächste Mal mache ich es besser, ich verspreche es.«

      Er zuckte gleichmütig mit den Achseln. »Mir ist das egal, und Ihnen wird’s wohl recht sein. Totgesagte leben länger, was?«

      Er lachte meckernd und klopfte mir auf den Rücken. Es war ein Bauarbeiterschlag, der mich etwas aus dem Gleichgewicht brachte.

      »Rein so aus Neugier, was?«

      »Ein alter Charakterfehler von mir. Ich krieg ihn nicht los.«

      »Red keinen Schmarrn, Dillinger. Jeder kennt dein Hobby. Wo eine Leiche ist, ist Dillinger nicht weit. Du hast einen Ruf.«

      Waren wir also beim Du, wir Siedersknechte. Auch recht. Machte manches einfacher.

      Er streckte mir die Hand entgegen. »Stefan Kubitz. Ich bin hier der Polier und auch so etwas wie die Bauleitung.«

      Nach dem Bauarbeiterschlag auf den Rücken konnte mich der Bauarbeiterhändedruck nicht überraschen. Ich überstand ihn, ohne allzu sehr mit der Wimper zu zucken.

      »Nichts für ungut«, sagte Kubitz. »Aber Katastrophentourismus ist das Letzte, was wir hier brauchen können.«

      »Wie viel Katastrophentouristen waren denn schon hier?«

      »Einer. Du.«

      Ich sah ihn an und zog die Augenbrauen hoch.

      »Ja, gut, ich habe etwas harsch reagiert«, räumte er ein. »Aber man weiß ja nie, was den Leuten so einfällt. Wenn sie schon den Rettungswagen stürmen, nur damit sie ein tolles Foto von einem Unfallopfer machen können …«

      Da konnte ich ihm nur zustimmen. So etwas war pervers. Aber so einer war ich nicht, ich hatte andere Gründe.

      »Hier ist es also passiert«, sagte ich.

      »Auf der anderen Seite. Willst du’s sehen?«

      Ich nickte. »Ich verspreche auch, kein Foto zu machen.«

      »Dir würde ich das sogar nachsehen. Du hast ja bestimmt deine Gründe.«

      Wenn das so einfach wäre! Hatte ich meine Gründe, mich um eine Angelegenheit zu kümmern, die mich in keiner Weise betraf? Ich war nicht über eine Leiche gestolpert, Frieder Schindel war nicht bei mir versichert gewesen, ich hatte ihn nicht gekannt, ich hatte nur mal mit seiner Frau, als sie noch nicht seine Frau war, ein bisschen herumgemacht. Was waren also meine Gründe?

      »Komm mit«, sagte der Polier. »Aber vorher besorge ich dir einen Helm. Wenn dir etwas auf den Kopf fällt, bekomme ich Riesenärger. Die Berufsgenossenschaft, verstehst du?«

      Mit dem gelben Helm auf dem Kopf fühlte ich mich natürlich gleich viel sicherer.

      Stefan Kubitz führte mich um den Bau herum und deutete nach oben. »Da ist es passiert. Willst du hinauf?«

      Ich zögerte. Große Höhen waren nicht so mein Ding, und große Höhe war für mich alles, was über eine Vorhangstange hinausging.

      Aber ich wollte mir keine Blöße geben und nickte.

      »Sei vorsichtig, könnte etwas rutschig sein, hat ja geregnet«, sagte er.

      Dann begannen wir den Aufstieg zum dritten Geschoss, er leichtfüßig und unbekümmert vorneweg, ich hasenfüßig und verkrampft hinterdrein. Nur nicht nach unten schauen! Ich fixierte die Leitersprossen vor mir, setzte zaghaft einen Fuß vor den andern und versuchte, an nichts zu denken.

      Ein Bauarbeiter tat sich leicht, er kletterte jeden Tag hinauf und herunter, er war das gewohnt.

      Endlich waren wir oben, und ich atmete tief durch. Es hatte schon seinen Grund, weshalb sämtliche Türme dieser Welt vor mir sicher waren. Auch bei einem Parisbesuch hatte ich mich nur mit dem Aufzug auf die zweite Plattform ins Spitzenrestaurant Jules Verne tragen lassen